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Igor Stravinsky
Le Sacre du printemps • Symphonies of Wind Instruments • Apollon musagète


Ein kultiviertes 'Sacre du printemps'- is this it?

Von Susanne westerholt

Noch sitzt uns der Schrecken in den Gliedern, als Simon Rattle Anfang dieses Jahres bekannt gegeben hat, dass er im Jahr 2018 vom Posten des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker zurücktreten wird. Obwohl es bis dahin immerhin noch fünf Jahre sind, klingt in manchen Kommentaren bereits Wehmut an über den künftigen Verlust. Unkonventionell, unhierarchisch, quirrlig, voller Spontaneität, ein Dirigent zum Anfassen und ohne Starallüren: das ist Sir Simon. Ungewöhnlich auch, dass er während seiner Ausbildung an der Royal Academy of Music in London nebst Dirigieren und Klavier auch klassisches Schlagzeug gelernt hat. Weltweit Furore gemacht hat der im Jahr 2004 entstandene Film ‚Rhythm is it', der Rattles sogenanntes ‚Educational Project' mit sozial benachteiligten Jugendlichen zum Inhalt hat.

Nun also Stravinksy. Wie kein anderer Komponist vor ihm hat Stravinsky mit der tradierten musikalischen Rhythmik und überhaupt der musikalischen Sprache gebrochen. Im Mai 1913, also vor genau 100 Jahren in Paris uraufgeführt, gilt sein Sacre du printemps unterdessen als ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts. Es kommt nicht von ungefähr, dass es im Rückblick als Vorahnung auf die Apokalypse des Ersten Weltkrieges gedeutet wird; sein Charakter ist aufbrechend, gewaltig, gar brutal. Zum legendären Tumult bei der Uraufführung mit Serge Diaghilevs Ballets Russes hat aber vermutlich auch die abstrakte Choreographie von Vaslav Nijinsky beigetragen, die ebenfalls ein absolutes Novum war zu jener Zeit. Der von Stravinsky gesetzte Untertitel zum Sacre "Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen" lässt jedenfalls ahnen, dass wir es hier nicht mit Salonmusik zu tun haben. Musikalisch inspiriert von Litauischer Volksmusik handelt das Sacre vom Zusammenkommen verschiedener Stämme und der anschliessenden Opferung einer Jungfrau, um den slawischen Frühlingsgott milde zu stimmen … Ziemlich unappetitlich und nichts für schwache Nerven.

Stravinskys musikalische Sprache war damals etwas völlig Neues: eine musikalische Textur komplexer, impulsiver Rhythmik, bei der verschiedene Rhythmen oft übereinander gelegt sind. Weiter charakteristisch sind kurze Motive, oft übereinander geschichtet und ostinatoartig wiederholt ohne eine Entwicklung zu haben, harte Dissonanzen und abrupte Neuanfänge. Auch Cluster wurden von Stravinsky verwendet. Melodien kommen und gehen, ohne wiederaufgenommen zu werden. Die innere Kohärenz – falls man im Falle des Sacre überhaupt diesen Begriff verwenden kann – kommt paradoxerweise von der rhythmischen Komplexität, die sich wie ein roter Faden durch das Werk zieht. Alles in allem muss es eine schockartige Hörerfahrung für die damaligen Zeitgenossen gewesen sein. Hart, brutal, radikal. – Die Berliner Philharmoniker spielen mit gewohnter Perfektion. Klanglich und im Ausdruck sehr differenziert, mit großer Präsenz und nahezu perfektem Timing.

Die beiden anderen Werke Symphonies of Wind Instruments aus dem Jahr 1920 sowie Apollon musagète, 1927 bis 1928 komponiert, scheinen gegen das Sacre zu verblassen. Sie stammen aus Stravinskys neoklassizistischen Phase, und obwohl sie zwar nicht so sehr im Mittelpunkt von Stravinskys Oeuvre stehen wie das Sacre, veranschaulichen sie mit ihrer Ratio ausstrahlenden Aura und der damit verbundenen scheinbaren Rücknahme der Moderne des Sacre die verblüffende Verwandlungsfähigkeit Stravinskys, der in dieser Eigenschaft gerne mit Picasso verglichen wird. Auch diese beiden Werke werden von den Berliner Philharmonikern sehr überzeugend gespielt.

Das Lob der international beachteten CD und die tolle Platzierung in den ‚Spezialist Classical Album Charts' sprechen für sich. Das beeindruckt derart, dass man sich zweimal überlegt, ob man dem widersprechen will. Allerdings, auch wenn es sich um die Berliner Philharmoniker handelt, muss folgende Frage gestattet sein: Wie viel Kultiviertheit erträgt das Sacre? Gewiss, klangliche Revolutionen sind im historischen Rückblick nie mehr das, was sie für die Zeitgenossen von damals waren. Die Musikgeschichte hat sich weiter entwickelt, freilich maßgeblich vom Sacre geprägt. Unsere Ohren kennen nicht nur Stravinsky, sondern beispielsweise auch Stockhausen und Mauricio Kagel. Und dann ist da noch die musikalische Warenhausberieselung etwa durch Lady Gaga oder Robbie Williams… Im Ernst: Simon Rattle hat das Sacre schon einmal mit dem City of Birmingham Orchestra einstudiert. Und das klingt anders; nicht perfekt und klanglich hinter den Berlinern zurück, aber irgendwie unmittelbarer in der Rhythmik, vorwärts drängend, härter im Ansatz und nicht federnd wie bei den Berlinern. Die Passagen, die wirkliche Brutalität ausstrahlen, wirken dadurch weniger kontrolliert. Zu welcher Interpretation man sich hingezogen fühlt, ist letztlich eine Frage des Geschmacks und nicht des Richtig oder Falsch. Für Freunde des „archaischen“ Stravinsky ist die Birmingham-Aufnahme zumindest als Ergänzung zu empfehlen. Wie gesagt: ‚Rhythm is it!'

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Igor Stravinsky:
Le Sacre du printemps
Symphonies of Wind Instruments
Apollon musagète


Berliner Philharmoniker
Leitung: Sir Simon Rattle

Titel:
Le Sacre du printemps: (revidierte Fassung von 1947)
Première Partie: L'Adoration de la Terre 15:58
Seconde Partie: Le Sacrifice 18:31

Symphonies of Wind Instruments 9:47

Apollon musagète: (revidierte Fassung von 1947)
Premier Tableau (Prologue) 5:30
Second Tableau 25:95

Gesamtspielzeit: 75:36

EMI Classics (2013)
CD 7236112

Weitere Informationen
www.emiclassics.com
www.simon-rattle.de





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