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Dead Man Walking
Oper in zwei Akten von Jake Heggie Libretto von Terence McNally in englischer Sprache Große Oper aus der TodeszelleVon Stefan Schmöe
Eine zeitgenössische Oper über die Todesstrafe, die in aller Ausführlichkeit die Hinrichtung eines Verurteilten durch die Giftspritze zeigt, ist erst einmal einem erheblichen Rechtfertigungszwang ausgesetzt. Nicht umsonst wird im Booklet der vorliegenden CD-Einspielung von Dead Man Walking des amerikanischen Komponisten Jake Heggie darauf verwiesen, dass etliche etablierte Werke, etwa Tosca, Aida oder Salome, ebenfalls eine Exekution zum Gegenstand haben. Um Tod und Gewalt geht es vermutlich in der Mehrzahl aller heute noch gespielten Werke der Opernliteratur, nur handelt es sich dabei praktisch immer um fiktive oder historisch weit genug entfernte Szenarien. Dead Man Walking dagegen basiert nicht nur auf einer wahren Begebenheit (die Handlung ist den Aufzeichnungen der Ordensschwester Helen Prejean entnommen, die mehreren Verurteilten bis zur Hinrichtung geitlichen Beistand geleistet hat), sondern trifft die brandaktuelle Diskussion über die Todesstrafe. Noch dazu hat die aufwühlende Verfilmung von Tim Robbins, die vor ein paar Jahren unter dem gleichen Titel auch in deutschen Kinos recht erfolgreich lief, den Stoff ausgesprochen populär gemacht. Auch wenn Patrick Summers, Dirigent der (für diese CD mitgeschnittenen) Uraufführung des Werkes, ausdrücklich vor einem Vergleich zwischen Oper und Film warnt, liegt dieser Vergleich nicht nur in der Luft, sondern wird durch die Konzeption der Oper geradezu provoziert. Einerseits folgt Librettist Terence McNally mit seiner linearen Erzählweise recht detailliert dem Film, wobei bis in die Nebenrollen die Charaktere vergleichbar angelegt sind; andererseits ist die Musik von Jake Heggie durch und durch tonal im Stile gewohnter symphonischer Filmmusiken, und aus diesem Genre schöpft sie auch ihr Material. Die Musik ordnet sich der Handlung unter und bewirkt eine emotionale Verdichtung der einzelnen Szenen, und zur Zeichnung der Charaktere werden bruchlos Elemente des Blues (für den Verurteilten) oder Gospels integriert. Konträr etwa zur Mozartschen oder Verdischen Dramaturgie läuft die Musik innerhalb einer Szene in der Regel in Echtzeit ab, d.h. sie untermalt im Wesentlichen die Mono- und Dialoge - auch darin wird die Nähe zum Film deutlich. Das Kunststück ist, dass die Opernfassung trotzdem keineswegs ein Abklatsch des Filmes ist, ganz im Gegenteil: Hier ist, ganz in der europäischen Tradition stehend, eine große, beinahe romantische Oper entstanden. Nüchtern betrachtet ist das Sujet ein wahrhaft opernhaftes: Die Ordensschwester Helen besucht den keineswegs reuigen Mörder Joseph de Rocher in der Todeszelle. Die Begegnung wird für sie selbst zu einem quälenden Erkenntnisprozess über die Frage von Schuld und Schuldbewusstsein, zumal sie durch ihr Engagement den Vorwürfen der Eltern des von Joseph vergewaltigten und brutal ermordeten Mädchens ausgesetzt ist. Im letzten Moment vor der Hinrichtung gelingt es ihr, Joseph zu einem Eingeständnis seiner Schuld zu bewegen. Neben den beiden schillernden Hauptfiguren gibt es noch hochinteressante Nebenrollen, etwa Josephs Mutter mit einer aufrüttelnden Arie, mit der sie den verurteilten Sohn besingt, und ein großes Ensemble mit den Eltern der Ermordeten - eine Szenerie, die wohl auch Puccini gefallen hätte. Die Unbefangenheit, mit der Heggie das (von McNally brillant verdichtete) Libretto vertont hat, ist sicher anfechtbar, und es ist wohl kein Zufall, dass dieses Werk in Amerika entstanden ist (und nach der Uraufführung im Oktober 2000 in verschiedenen amerikanischen und einem australischen, nicht aber in einem europäischen Haus nachgespielt wird). Ob eine derartige Musicalisierung einer realen Exekution, die sicher auch aus Marketing-Gründen für den Auftraggeber (die San Francisco Opera) nicht unbedeutend ist, wird jeder für sich entscheiden müssen. Die Qualitäten von Heggies Musik liegen darin, dass er einen ebenso eingänglichen wie eindringlichen (und nur ganz selten kitschigen) Tonfall gefunden hat, der im traditionellen Schema von (durchkomponierten) Arien und Ensembles einen sehr natürlichen Ablauf ermöglicht, der dem filmischen Charakter entgegenkommt, aber der Musik Eigenräume belässt. Heggie verzichtet auf allzu plakative Effekte; am deutlichsten wird dies im Finale. Die Hinrichtung selbst ist nicht auskomponiert - man hört den Mechanismus der Giftspritze und die Herzsignale des Sterbenden. Darauf folgt nur noch eine (zuvor bereits zu einer Art Leit-Thema erhobene) schlichte Gospel-Melodie, unbegleitet gesungen von Sister Helen: Ein in seiner Rücknahme eindrucksvoller Schlusspunkt. Insgesamt mag das aus einer an Messiaen, Boulez und Lachemann geschulten europäischer Sicht anachronistisch sein, hat aber erhebliche Suggestivkraft, der man sich beim Hören schwer entziehen kann. Jedenfalls wird hier ein heikles Thema mit großer Ernsthaftigkeit angegangen, und das Ziel von Librettist und Komponist ist sicher, hier einen emotionalen, nicht durch zu hohe strukturelle Komplexität belasteten Zugang zu ermöglichen. Ein enormes Engagement aller an dieser Produktion ist dem CD-Mitschnitt anzuhören. Susan Graham als Sister Helen bewältigt ihre Riesenpartie nicht nur kräftemäßig bravourös, sondern sie zeigt alle Ausdrucksnuancen, die der Figur im Verlauf der Oper abgefordert werden, in höchst eindrucksvoller Form. John Packard findet für den Todeskandidaten Joseph eine wunderbare Mischung zwischen einem störrisch-rauen und doch verzweifelten Tonfall. Es geht hier - wie in beinahe allen Rollen - nicht darum, schön zu singen, sondern das Gebrochene und auch das Hässliche der Figuren herauszuarbeiten, und das gelingt vortrefflich, weil kein einziger Sänger in einen bloß karikierenden Ton verfällt. Exemplarisch trifft das für Robert Orth, der den verbitterten und auf Rache sinnenden Vater der Ermordeten singt, zu. Herausragend gut ist mit Frederica von Stade die Rolle der Mutter von Joseph besetzt, und höchst engagiert spielt das Orchester der San Francisco Opera unter der Leitung von Patrick Summers, sodass die Aufnahme musikalisch keine Wünsche offen lässt. Zwar zieht die Oper ihre Brisanz aus der hier erneut angestoßenen Diskussion über die Todesstrafe, aber gerade hier liegt ihr größtes Problem. Ein eindeutiges Statement gegen die Todesstrafe ist sie nicht und will es auch nicht sein. Wie der Film stellt sie die Brutalität des Mordes und den Zynismus der Exekution gegenüber, ohne eine eindeutige Stellungnahme beziehen zu wollen - ein Urteil ist letztendlich dem Betrachter überlassen. Die Oper verschiebt den Schwerpunkt stärker zu einer allgemeineren Betrachtung über Schuld und Verantwortung hin. Erst in der Bereitschaft zur Anerkenntnis persönlicher Schuld - und in der Fähigkeit, Schuld zu vergeben - gelangt der Mensch zur Freiheit, so könnte man stark verkürzt formulieren. Darum machen alle Charaktere, nicht nur der Verurteilte, in der Oper einen Lernprozess durch. Bedenklich schlägt aber an dieser Stelle die traditionelle Operndramaturgie, der McNally und Heggie sich unterworfen haben, durch: Durch die Schuldanerkenntnis und Bitte um Vergebung des Mörders erst im Angesicht der Hinrichtungsmaschinerie erscheint die Exekution selbst als reinigender Prozess von höherer Bedeutung, im weitesten Sinne vergleichbar etwa mit Brünnhildes Verbrennung am Schluss der Götterdämmerung - der Tod als Voraussetzung zur Erlösung, wie es in der Operngeschichte ja seit je beliebt war. Ungewollt liefert Dead Man Walking dadurch auch Argumente für die Todesstrafe. Trotz (oder gerade wegen) solcher Widersprüche nimmt das Werk in der neueren Operngeschichte eine sicherlich wichtige Position ein - als engagierter und in jedem Fall diskutabler Versuch, mit der scheinbar antiquierten Gattung Oper auf Zeitfragen zu reagieren. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Jake Heggie (* 1961): Dead Man Walking Oper in zwei Akten Libretto von Terence McNally nach den Aufzeichnungen von Schwester Helen Prejean, CSJ Sister Helen: Susan Graham Joseph De Rocher: John Packard Mrs. De Rocher: Frederica von Stade ihr 19-jähriger Sohn: Eli Borggraefe ihr 14-jähriger Sohn: Mario Sawaya Sister Rose: Theresa Hamm-Smith Anthony De Rocher: David Tenenbaum Howard Boucher: Gary Rideout Jade Boucher: Catherine Cook Owen Hart: Robert Orth Kitty Hart: Nicolle Foland Father Grenville: Jay Hunter Morris John Benton: John Ames A Motor Cop: David Okerlund First Prison Guard: David Okerlund Second Prison Guard: Philip Horst A Paralegal: Jim Croom Sister Lilianne: Sally Mouzon Sister Catherine: Virginia Ruth A Mother: Rachel Perry First Inmate: Richard Walker Second Inmate: David Harper Third Inmat: David Kekuewa Forth Inmate: Frederick Winthrop Fifth Inmate: Frederick Matthews Ms Charleton: Donita Volkwijn Jimmy Charleton: Jeremy Singleterry Boy: Sean San Jose Girl: Dawn Walters San Francisco Opera Chorus San Francisco Girls' Chorus San Francisco Boys' Chorus Golden Gate Boys' Chorus San Francisco Opera Orchestra Dirigent: Patrick Summers Live-Produktion im Rahmen der Uraufführung an der San Francisco Opera, Oktober 2000 ERATO 8573-86238-2 (2 CDs) weitere Informationen auf der Homepage des Komponisten Jake Heggie
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