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Aufregende Kunst, die sich einmischt

In Venedig hat die 54. Biennale ihre Pforten geöffnet und lädt zu einer spannenden Entdeckungsreise ein – der deutsche Schlingensief-Pavillon bekommt den Goldenen Löwen

Von Roberto Becker

Venedig steht immer im Zeichen der Kunst. Die Paläste, die Kirchen, die Stadt mit ihren Kanälen und ihrer besonderen Atmosphäre, das ist alles selbst ein abblätterndes, vielleicht tatsächlich versinkendes, aber doch immerwährendes faszinierendes Gesamtkunstwerk. Doch wenn sich vor den Nationen-Pavillons in den Giardini, im historischen Arsenale und an unzähligen, über die ganze Stadt verteilten Palazzi unter dem Logo der Biennale die Besucherschlangen bilden, dann ist Venedig für ein halbes Jahr so etwas wie das Zentrum für die zeitgenössische Kunst der ganzen Welt.

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Ein Kunstwerk, das es am Ende der Biennale nicht mehr geben wird: Urs Fischer: Untitled (Standing), 2010
(© Urs Fischer, Foto: Stefan Altenburger)

Die aktuelle, gerade eröffnete 54. Kunstbiennale mit Teilnehmern aus 89 Ländern, steht unter dem Motto „ILLUMInations“. Das spielt schon im Wort mit dem Licht (der Erkenntnis) oder der Beleuchtung (der Wirklichkeit) – aber auch mit den Nationen. Wobei sich die Frage, ob es in einer globalisierten Welt überhaupt eine nationale Kunst gibt, hier vor Ort ziemlich schnell ins Theoretische verwiesen und von jedem Kunstwerk und jeder Position im Grunde als dialektischer Widerspruch seiner selbst für sich beantwortet wird.

Ein Teil der Künstler wird vom jeweiligen Kurator – in diesem Jahr ist es die Schweizerin Bice Curiger – eingeladen. Dafür steht der große Ausstellungspavillon in den Giardini und der größte Teil des Arsenale zur Verfügung. Da sind dann internationale Größen wie James Turrells mit seinem begehbaren Lichtraum ebenso vertreten, wie Urs Fischer mit seinen sich langsam wie Kerzen verbrennenden Skulpturen. Christian Marclays Film "The Clock" schneidet aus unzähligen Filmen aller Länder und Zeiten die Szenen, die sich auf eine konkrete Uhrzeit beziehen, zu einem Echtzeit simulierenden 24-Stunden Film zusammen. Ein Publikumsmagnet, der der Jury einen Goldenen Löwen wert war.

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Der deutsche Pavillon: Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Es sind aber vor allem die Pavillons der Nationen, die Venedig schon immer einen Hauch von Weltkunstausstellung verleihen. Diese Bauten in den Giradini vom Anfang des vorigen Jahrhunderts sind oft selbst ein nationales architektonisches Statement. Beim deutschen Pavillon etwa ist es die 1938 an den unseligen Geist der damaligen Zeit angepasste, säulenbestückte Fassade. Diesen Pavillon mit seiner kontaminierten Vergangenheit einfach als neutralen Raum für ein Arrangement von ausgewählten Kunstobjekten zu verwenden, verbietet sich von selbst.

Für die aktuelle Biennale war ja Christoph Schlingensief als „Bewohner“ vorgesehen. Dass jetzt das GERMANIA über dem Portal zu Ego-MANIA übermalt wurde, passt gut zu dem Ausnahmekünstler, der stets auf vielen Hochzeiten, unter denen die bildende Kunst nicht mal die wichtigste war, tanzte und der vor allem selbst ein Gesamtkunstwerk war, das sich mit Vehemenz in den Gang der Dinge einmischte. Es war heikel auch nach Schlingensiefs Krebstod im August letzten Jahres bei dieser Entscheidung zu bleiben. Das innere Kraftwerk für jede Schlingensiefaktion war nämlich immer er selbst. Die im Hauptraum des Pavillons installierte „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ war Teil seines in Kunst übersetzten Umgangs mit der tödlichen Krankheit und ist jetzt unversehens zu einem Ort der Erinnerung an einen Ausnahmekünstler geworden, der sich noch im Sterben rückhaltlos mitteilte. Dass Schlingensief hier eigentlich seinem Operndorfprojekt für Afrika eine Plattform schaffen wollte und selbst etwas ganz Anderes, Neues daraus gemacht hätte steht zwar in offenkundigen Widerspruch zum dem fast schon weihevolle Ort des Gedenkens an ihn, war der Jury der Biennale aber die Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen für den überzeugendsten Länderpavillon wert. Schlingensief hätte daraus wahrscheinlich selbst eine Performance gemacht.

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Nur noch im Film dabei: Christoph Schlingensief in Venedig (Foto: Aino Laberenz)

Für diese Auszeichnung wäre in diesem Jahr aber auch eine ganze Reihe von anderen Nationen-Pavillons mit ebenso guten Gründen in Frage gekommen. Etwa der polnische, in dem die israelische Filmemacherin Yael Bartana ein verstörend doppelbödiges Filmprojekt vorstellt. Sie berichtet darin von einer frei erfundenen Jüdische Renaissancebewegung im heutigen Polen, zeigt deren Gründungslegende, den Bau eines Kibbuz mitten in Warschau und deren Verklärung mit den ästhetischen Mitteln spätsozialistischer Propaganda. Oder die Schweizer, die Thomas Hirschhorn eines seiner Gruselkabinette aus verklebten und überwucherten Versatzstücken der Zivilisation errichten ließen. Zum Spiel mit der kompletten Okkupation des Raumes wird auch der österreichische Pavillon, in dem der Markus Schinwald ein schwebendes Labyrinth installiert hat oder der britische, in dem Mike Nelson zu einer Kletterpartie durch die verwinkelte Häuser Istanbul einlädt.

Manches an der Biennale entfaltet aber auch eine Eigendynamik. So wurde an den Eröffnungstagen irgendwo rote Tragetaschen mit dem Aufdruck „Free Ai Weiwei“ verteilt. Und auf der Uferpromenade gegenüber dem Markusplatz prangt in großen Lettern Bye bye Ai Weiwei – so ist der in seiner Heimat eingesperrte, im Westen wohl derzeit bekannteste chinesische Künstler offiziell nicht da und doch allgegenwärtig.

Diese spannende Biennale ist ein Grund mehr, in diesem Jahr nach Venedig zu reisen.

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Im September 2008 präsentierte Christoph Schlingensief bei der Ruhrtriennale sein „Fluxus-Oratorium“ Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (zu unserer Rezension). Der Begriff „Oratorium“ war, darauf hat unsere Rezensentin hingewiesen, doppeldeutig zu verstehen – nicht nur als Bezeichnung für die musikalische Gattung, sondern auch im ursprünglichen Sinn als Gebetsraum. Für die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord haben Thomas Goerge und Thekla von Mühlheim damals eine sakral anmutende Rauminstallation geschaffen, die in den deutschen Pavillon der Biennale übernommen wurde. Schlingensief, der im August 2010 verstarb, konnte sein Konzept nicht mehr selbst umsetzen; die Verleihung des „Goldenen Löwen“ ist eine späte Hommage an den Künstler. (Red.)

Nachruf auf Christoph Schlingensief



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