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Helden von Heute

Elisabeth Stöppler inszeniert am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen Massenets Don Quichotte. Ein Probenbesuch.

Von Ursula Decker-Bönniger

Er gehört zu den großen Figuren der europäischen Literatur, Cervantes edler Ritter von der traurigen Gestalt. Bei Massenet ist er ein großherziger, unterhaltsamer, weltfremder Dichter der Liebe, der von den Bürgern nicht ernst genommen und von den Räubern verehrt wird. Die Oper wurde zwar 1910 in Monte Carlo uraufgeführt, ist aber inhaltlich und musikalisch eher im 19. Jahrhundert anzusiedeln. Sie ist durchkomponiert, es gibt veristische Szenen, Leitmotive und eine harmonisch-melodisch eher spätromantische musikalische Sprache, die auch folkloristische Elemente enthält. Massenet war zum Zeitpunkt der Uraufführung 67 Jahre alt, rheumakrank und - so munkelte man damals – verliebt in die Mezzosopranistin Lucy Arbell. Zwei Jahre später verstarb er.

Ich bin im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Auf der Probebühne 1 probt Elisabeth Stöppler mit Bassbariton Krzysztof Borysiewicz und der Mezzosopranistin Almuth Herbst Massenets Don Quichotte. Es ist die dritte Probenwoche. Wir sind mitten im vierten Akt. Don Quichotte will Dulcinée einen Heiratsantrag machen. Von Liebesglut übermannt, beginnt er in einer Art hymnischem Marsch von dem gemeinsamen Weg zu schwärmen. „Allons vers l'idéal...“ Mit ihr zusammen will er die Welt verbessern – eine Welt, die so dringend der Frau und ihres Mitempfindens bedarf! Doch plötzlich sackt er in sich zusammen. Sie hilft ihm, sich auf einen Stuhl nieder zu lassen, kurz auszuruhen und wieder aufzurichten. Nun hat er wieder Kraft geschöpft, findet zurück zu seinem eigentlichen Anliegen, führt sie in einer schlichten Kreisbewegung um einen Stuhl herum und überreicht ihr einen Blumenstrauß. Und sie? Sie lässt sie ihn gewähren, spielt mit - erstaunt, belustigt, mit ein wenig Mitleid im Blick. Aber dann unvermittelt verliert sie für einen kurzen Augenblick die Fassung. „Me marier, moi?“ Ich? Heiraten? In einem unglaublichen Wutausbruch verdrischt sie den Blumenstrauß, um ihrem Überdruss Ausdruck zu verleihen.

Wenn Elisabeth Stöppler inszeniert, erzählt sie die Operngeschichten neu. Don Quichotte ist nicht Massenets oder Cervantes edler Ritter von der traurigen Gestalt, sondern Cellist und Schöngeist - ein alter, pflegebedürftiger Mann, ein Libertin, der in seinen Erinnerungen lebt. Und Dulcinée ist keine Prostituierte, kein Bauernmädchen, die das Vergnügen sucht, sondern eine Lebenskünstlerin. Sie ist Haushälterin, Putzfrau, Krankenschwester und Spielgefährtin in einer Person.

„Es sind oft die Frauenfiguren, die ich nervenaufreibend, nervig finde. Sie sind aus der Perspektive von männlichen Komponisten geschildert. Es sind Frauen, die sich außerhalb eines bestimmten gesellschaftlich anerkannten Bereichs bewegen, die dort sehr große, exzessive emotionale Prozesse erleben, aber letztendlich doch entweder mit Krankheit bezahlen, mit Tod oder Verwirrung oder Schicksalsergebenheit.“

Stöppler hat die Oper als Traumzeitreise in die Vergangenheit angelegt. Es beginnt im ersten Akt mit familiären Szenen aus der Kindheit. Die vier Liebhaber, die in Massenets Oper der schönen Dulcinée vor ihrem Haus huldigen, sind Don Quichottes vier Geschwister. Juan ist der Erstgeborene, Rodrigues ist das „sensible Wunderkind“, Pedro das „mitlaufende, graumäusige Nesthäkchen“ und Garcias die „überdrehte Frühreife“. Der alte Klappergaul Rosinante ist die Mutter und der Esel der Vater. In der Windmühlenszene im zweiten Akt erlebt der Protagonist in seiner Erinnerung erneut, wie sein Vater beerdigt wird, und erleidet einen Zusammenbruch. Im dritten Akt träumt er davon, als Heiliger Frieden zu stiften, sich mit sich und allen, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, auszusöhnen. Sancho Pansa ist kein Diener, sondern Tubist und jüngerer Orchesterkollege.

„Sancho ist ein Freund aus einem anderen Holz. Er ist im Orchester der Tubist, fährt Fahrrad, trägt einen Fahrradhelm und Turnschuhe. Er ist ein Mann der Realität, der von seiner Frau offensichtlich betrogen wurde. Er weint um sie, ist voller Scham und Wut und will eigentlich immer nur essen und trinken. Das Schöne bei Massenet ist, dass die Figur im Laufe der Zeit – auch musikalisch - immer gewichtiger, seriöser wird und sängerisch im vierten, fünften Akt zu unglaublicher Form aufläuft. Sancho hat die zwei großen Arien am Schluss, die zwei großen, musikalischen, bekennenden Momente. Für mich ist er der Erbe. Er erfährt durch Don Quichotte eine Welt der Fantasie, Schönheit und Liebe, die er allein nicht erreicht hätte. Durch die Bekanntschaft mit dem Ritter beginnt er, sich auf den Weg zu machen, wagt zu träumen.“

Ob Geschichte, Charaktere oder Entwicklung der Figuren - schon in der Soloprobe erweist sich das Regiekonzept als genau auf Form und Ästhetik der Musik abgestimmt. Und es ist zunächst für die Sänger nicht einfach, sich in die neue Handlungslogik ein einzufinden. Wann wechselt Dulcinée die Schuhe, wann streift sie den Putzkittel? Wann übergibt die Mutter das Collier? Ich erlebe, wie immer und immer wieder dieselben Abläufe geprobt werden, bis das Bewegungstiming mit den klangfarblichen, rhythmischen oder harmonischen Veränderungen übereinstimmt, wie sich Schritt für Schritt die Darsteller mit den Charakteren identifizieren und die Bewegungen fließender werden. Noch gut zwei Wochen bleiben bis zur Premiere. Man darf gespannt sein, zu welchem Gesamtkunstwerk sich die Musik Massenets aus folkloristischen Elementen, sehnsuchtsvoller Spätromantik und die Stöppler-Inszenierung aus Traum, Erinnerung und Wirklichkeit verbinden.

(30. November 2013)



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Elisabeth Stöppler hat am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen bereits von Benjamin Britten Peter Grimes, Gloriana und eine szenische Fassung des War Requiem sowie Dvoraks Rusalka inszeniert.

Massenets Don Quichotte hat am 7. Dezember im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen Premiere.






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