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Musiker mit Leib und Seele

Dispokinesis: Ein Weg zu ungehinderter Ausdrucksfähigkeit



Musiker haben einen wundervollen Beruf. Sie leben in der Welt der Töne. Mit ihrem Instrument oder ihrer Stimme können sie ihre Klangvorstellungen, ihre Gefühle und Phantasien ausdrücken und anderen vermitteln. Dazu brauchen sie nicht nur Begabung, ihre Musikalität und ihr Gehör. Sie brauchen auch Körperbeherrschung und Technik. Musiker sind Bewegungskünstler. Sie sind in der Lage, hochkomplexe Bewegungsabläufe mit äußerster Präzision und oft in rasendem Tempo auszuführen (auch beim Singen wird der Klang und die Tonhöhe letztlich durch Veränderung der Muskelspannung an den Stimmlippen - und das ist Bewegung - erzeugt). Im Idealfall verfügt ein Musiker oder eine Sängerin mit den erlernten Körperhaltungen und Bewegungen frei über die Gestaltung ihres künstlerischen und musikalischen Ausdrucks. Eine Konzertpianistin etwa führt bis zu ihrem 30. Lebensjahr nach sehr moderaten Schätzungen mindestens 1,5 Milliarden kontrollierte pianistische Fingerbewegungen aus (nach Prof. Dr. E. Altenmüller, Hannover). Und diese Bewegungen müssen sozusagen von allein ablaufen, um den gewünschten künstlerischen Ausdruck zu ergeben, auf den der Kopf sich konzentrieren muß. Das stellt enorme Anforderungen an Gehirn und Motorik und kann auf Dauer nur reibungslos funktionieren, wenn die Motorik optimal, funktionell und ergonomisch abläuft.

Und damit haben sehr viele Musiker Probleme. Nach den Erkenntnissen des Kongresses für Musikermedizin 1998 in Berlin leiden mehr als 70 % aller ausübenden Musiker und Musikerinnen an Spielstörungen, an Atmungs- und Ansatzschwierigkeiten, Muskelschmerzen und Verspannungen. Fatal ist, daß die Symptome einer beginnenden Indisposition häufig vage und kaum meßbar sind, sie werden deshalb nicht als solche erkannt und von den Betroffenen meist für lange Zeit als unvermeidliche Begleiterscheinung des Musizierens in Kauf genommen. Daraus folgen dann häufig wachsende Schmerzen und Bewegungshemmungen bis hin zu Lähmungserscheinungen und Spielunfähigkeit. Sehr wenige Ärzte können da wirklich helfen. Die Medizinerausbildung vermittelt kaum Kenntnisse über die motorische Komplexität der Instrumental- oder Gesangstechnik, über die Folgen angelernter Fehlhaltungen und falscher Bewegungsabläufe und über die physisch-psychischen Zusammenhänge der Probleme, die daraus entstehen. Und so erkennen sie die tieferen Ursachen der Spielstörungen oft nicht und können nur die Symptome kurzfristig behandeln.


Dispokinesis: Ganzheitliche Haltungs-, Ausdrucks- und Bewußtseinslehre

Wenn gängige medizinische Behandlungsmethoden keine dauerhafte Besserung gebracht haben, kann die Dispokinesis helfen (Dispokinesis - Wortschöpfung aus disponere (lat.) und kinesis (griech.) = Verfügen über Bewegung.) Sie schließt eine Lücke zwischen Pädagogik und Medizin und sucht die tieferen Ursachen dieser Indispositionen aufzudecken, sie zu verstehen und praktikable Lösungsmöglichkeiten für sie zu finden.

Die Dispokinesis wurde vor mehr als 45 Jahren von dem holländischen Pianisten und Physiotherapeuten G.O. van de Klashorst entwickelt, gestützt auf seine Erkenntnisse der anatomischen und neurologischen Grundlagen von Körperhaltung und Bewegung und ihres Zusammenhangs mit der Funktionalität der Instrumental- und Atemtechnik. Die Dispokinesis geht davon aus, daß jeder Mensch über ein angeborenes Wissen von einer ursprünglichen und natürlichen Art der Haltung und Bewegung seines Körpers verfügt, was mit dem Begriff Disposition bezeichnet wird. Disposition bedeutet hier: Man kann ungehindert ausführen, was man sich vorstellt, und zwar wiederholbar und ermüdungsfrei - man hat die Fähigkeit, über seine Bewegungen frei zu verfügen. Diese ursprüngliche Disposition geht jedoch häufig im Laufe des Lebens verloren und wird durch angelernte künstliche Formen ersetzt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Erziehung, falsche Vorbilder, unreflektiertes Befolgen von Anweisungen, schlechte Möbel, psychische Faktoren wie Streß, Erfolgszwang, Ehrgeiz, Angst und vieles mehr können die Ursachen sein.

Im Tierreich ist die (körperliche) Disposition überlebensnotwendig. Der Mensch hingegen hat sich davon weithin unabhängig gemacht. Er hat gelernt, Werkzeuge, Maschinen und andere Menschen für seine Bedürfnisse einzusetzen. So ist er nicht mehr primär auf seinen Körper für die Nahrungssuche und Fortbewegung angewiesen. Die moderne Zivilisation läßt die Bedeutung seiner ursprünglichen Körperfunktion und sein natürliches Körperbewußtsein mehr und mehr in den Hintergrund treten. Turnunterricht in der Schule und sportliche Betätigung sollen dem entgegenwirken, haben aber meist Wettbewerbscharakter und sind in ihrem Streben nach äußerer Form eher geeignet, lediglich bestimmte Bewegungsabläufe zu trainieren, die nicht primär den ursprünglichen Körperfunktionen entsprechen.


Was hat das alles mit Musikern zu tun?

Der Mensch ist ein Vierfüßer, der im Laufe der Evolution den aufrechten Gang lernte. Er kann jetzt seine Hände und Finger feinmotorisch bewegen, kann sie kreativ nutzen, etwa zum Klavierspielen. Dennoch kann der alte Reflex, sich auch auf die Vorderbeine (die Arme) zu stützen, immer noch aktiviert werden, wenn die Stütze im Unterkörper nicht präsent genug ist, um das nötige Gleichgewicht zu liefern. Dies äußert sich dann in Verspannungen oder Nackenschmerzen. Da die Grobmotorik immer die Feinmotorik überherrscht, kann es hier beispielsweise beim Klavierspiel zu Problemen kommen.

G.O. van de Klashorst, der Begründer der Dispokinesis, hat vor 45 Jahren erkannt, daß beim Musiker - wie beim Tier - die körperliche Grundspannung und Haltung entscheidend ist für die Bewegungsqualität. Und daß falsche Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten nur dann dauerhaft verändert werden können, wenn man in seine ursprüngliche Disposition sozusagen zurückspringt. Er entwickelte die Übungen der "Urgestalten von Haltung und Bewegung" auf der Suche nach dem Weg, die individuelle körperliche Ausdrucksfähigkeit dauerhaft zu verbessern.

Diese Übungen zielen darauf ab, die sensorischen und sensomotorischen Fähigkeiten des Musikers zu verfeinern. Das geschieht nicht durch mechanisches Training von Muskelgruppen oder Bewegungsabläufen. Das Üben der "Urgestalten" stärkt vielmehr die Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Ein Ziel der "Urgestalten" ist, daß man lernt, die nötige Körperspannkraft im Unterkörper verfügbar zu machen, um die Finger feinmotorisch gebrauchen zu können, wobei es insbesondere auf einen bewußten, aktiven Bodenkontakt ankommt. Die Übungen helfen dem Musiker, in tieferen Kontakt mit sich selbst zu kommen.

Man lernt, auf die Rückmeldungen seines Körpers zu achten. Man entdeckt künstliche und überflüssige motorische Muster in seinen Bewegungsvorstellungen und Angewohnheiten. Man erkennt die Bedeutung einer genauen Zielvorstellung für die Qualität der Bewegung. Man lernt, seine Körperspannung vor und während der Bewegung anzupassen und zu kontrollieren. Auch die Atmung verändert sich. Grundlage und Voraussetzung einer guten Atmung und jeglicher Arbeit an Atemtechnik ist das Bewußtsein der ursprünglichen Körperstütze. Alle mit den "Urgestalten" erworbenen Körpergefühle und Erfahrungen sind allgemein auf das Bewegen im täglichen Leben und im besonderen natürlich auf die Instrumental- und die Atemtechnik zu übertragen.
Die europäische Gesellschaft für Dispokinesis bietet eine 2jährige postakademische Zusatz-Ausbildung für Musiker mit abgeschlossenem Hochschulstudium an. Aus dieser Ausbildung sind bis dato über 130 zertifizierte Dispokineter hervorgegangen. Mit ihrer Hilfe konnten viele Berufsmusiker von Problemen wie Spielstörungen, Überbelastung, Ermüdung, Schmerzen, Nervosität und Bühnenangst dauerhaft befreit werden. Die konkrete Arbeit am Instrument optimiert die feinmotorischen Bewegungsabläufe der jeweiligen Instrumentaltechnik. Unsicherheiten oder technische Probleme werden durch Überdenken der Zielvorstellung und des Initiativpunktes innerhalb instrumentaltechnischer Bewegungsvorstellungen ausgeräumt. Die Beratung in der jeweiligen Instrumentalergonomie beseitigt die Ursachen für Fehlhaltung und Überlastung. Häufig sind Spielprobleme mit einer Änderung der Instrumentalhaltung und der Sitzhöhe oder mit der individuellen Anpassung des Instruments zu lösen. Dabei gilt für Dispokineter die Grundregel: Das Instrument ist dem Körper anzupassen, nicht der Körper dem Instrument.

Die Dispokinesis wirkt tief in die Vorstellungskraft von Musikerinnen und Musikern ein und erweitert ihre sensorischen Fähigkeiten. So erleben sie die motorische Umsetzung ihrer musikalischen und klanglichen Vorstellungen ganz neu. Durch die wiedergewonnene individuelle Disposition ändern sich Haltung und Atmung, Muskeltonus und psychische Verfassung. Sie erleben eine Leichtigkeit in ihrem Spiel, die zur Freiheit im Ausdruck führt. Sie sind im wahren Sinn des Wortes Musiker mit Leib und Seele.


Joachim Schiefer, Wuppertal
März 2000

Joachim Schiefer ist Cellist und Dispokineter.
Er unterrichtet Cello und arbeitet im Gemeinschaftsstudio
für Dispokinesis in Wuppertal und Essen.



Kontakt und nähere Information:

Joachim Schiefer
Am Pannesbusch 56
42281 Wuppertal
Telefon: 0202 / 7052612
Mail: joschiefer@musik-und-disposition.de

http://www.musik-und-disposition.de




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