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Wittener Tage für neue Kammermusik 1999 Wittener Tage
für neue Kammermusik 1999

Von Markus Bruderreck

Neben Donaueschingen und Darmstadt ist Witten das Zentrum für neue Musik in Deutschland. "Neue Musik" - dieser Begriff meint längst nicht mehr allein Avantgarde, wie die letzten "Wittener Tage für neue Kammermusik" bewiesen haben. Wie jedes Jahr, so fanden sie 1999 wieder am letzten Wochenende im April (23. bis 25.4.) statt. Harry Vogt, beim WDR Redakteur für neue Musik, bemühte sich bei der Stückauswahl, fast nur Uraufführungen oder deutsche Erstaufführungen, um Ausgewogenheit. Gleichzeitigkeit, simultane Ereignisse, Transformation und "Übermalung" waren dabei die Inhalte, die die Werke kennzeichnen sollten. Und tatsächlich kristallisierten sich diese Schwerpunkte in fast jedem Konzert wieder von neuem heraus.

Viel interessanter jedoch waren nicht die Inhalte der Stücke - nicht selten versteckte sich hinter verschlungenen literarischen Programmen und komplexesten musikalischen Strukturen eine eher simple Idee - ,sondern ein Phänomen, das langsam erkennbar zu werden schien: Ein großer Teil der interessanten und blutvollen Stücke des Festivals stammte von Komponisten, die nicht aus dem deutschsprachigen Raum kommen. Einige Beispiele hierfür nun aus dem Wittener Programm, das instrumental im wesentlichen von drei Ensembles geprägt wurde: Dem Klangforum Wien, dem ensemble recherche und dem Ensemble Court-Circuit.

Die erste Ausnahme von der obigen Behauptung vielleicht zu Beginn: Das 1. Konzert am Freitag abend im Theatersaal des Saalbaus bringt mit der Komposition "arqué" (1998-99) des 1970 geborenen Sebastian Stier eine komplexes, in seiner Dramaturgie aber durchaus nachvollziehbares Werk. Musik sollte auch ohne weitschweifiges, literarisches oder wie immer geartetes Programm nachvollziehbar sein. Gerade diesen Anspruch löst Stiers Werk durchaus ein. Stier hat bei Paul-Heinz Dittrich studiert, ist also quasi ostdeutsch-avantgardistisch geprägt, was man seiner Musik einfach anhört: Sie ist gehaltvoller (übrigens: Wo sind eigentlich die vielen ostdeutschen Komponisten neuer Musik und warum sind sie in Witten nicht vertreten? Eine interessante und tiefgreifende Frage...).

Der "Star" des 2. Konzerts am späten Freitag abend in der Rudolf-Steiner-Schule ist Irvine Arditti (Violine), Prinzipal des rennomierten Arditti String Quartets. Mit solistischer Meisterschaft legt er die komplexen musikalischen Strukturen von Brian Ferneyhoughs Solokomposition "Unsichtbare Farben" (1997-99) frei. Ferneyhoughs Werk ist das Ergebnis verschiedener "Übermalungen", bei der die einzelnen musikalischen Schichten an den verschiedensten Stellen der Komposition sichtbar werden: Eine Herausforderung an den Solisten ebenso wie an der Hörer. Der Mexikaner Julio Estrada steuert gleich zwei Versionen eines Werkes bei. Zum einen "yuunohui'tlapoa" (1998) für Cembalo, interpretiert von Jane Chapman, und "yuunohui'tlapoa/'se" (1983/98) für Cembalo und Violine; hier tritt wieder Irvine Arditti als Interpret hinzu. Estradas Musik hat gleichsam "haptische" Qualitäten, indem sie auf die plasitsche Darstellung von Musik aus ist. Dabei erinnert sie an elektronische Musik oder an die "Studies for player piano" von Conlon Nancarrow.

Das 3. Konzert am Samstag nachmittag im Festsaal des Saalbaus bringt dann wohl die interessanteste Musik des Festivals. Zunächst beginnt es in konventionellem Avantgarde-Ton mit Wolfram Schurigs "Zweitem Streichquartett" (1998). "Katalogos" (1998), ein Werk von Alan Hilario, der auf den Philippinen geboren wurde, sorgt dann bereits für etwas Abwechslung. Sein Stück besteht aus 79 Miniaturen, die in einem offenen System eingebettet sind und somit zumindest demonstrieren können, in wie vielen Kombinationen eine handvoll Instrumente einsetzbar sind.
Nach der Pause dann die Überraschung: Die Kompositionen "Pour Luigi" (1994) von Philippe Hurel und Martin Matalons "Trame II" (1998-99). Hurels Komposition arbeitet mit handfester Gestik und Motivik, Matalons Werk kann man fast als ein kleines Cembalokonzert bezeichnen; der Komponist rückt es sogar in die Nähe von Bachs "Brandenburgischen Konzerten". Der Solopart ist schwer und wird von Elisabeth Chojnacka bravourös bewältigt. Matalons mischt so unterschiedliche Instrumente wie elektronisch verstärktes Cembalo, Steel Drum, Bandoneon, Hammondorgel und Jazzinstrumente zu einem kruden Ensemble, das kraftvolle, zuweilen an Minimal Music erinnernde Klänge produziert. Das Ensemble Court-Circuit unter Pierre-André Valade bringt beide Stücke unvergleichlich präzise zum Klingen.

Daß man mit Tonalität das verwöhnte Wittener Publikum immer noch verstören kann, zeigt zu Beginn des 5. Konzerts am Sonntag morgen in der Steiner-Schule der Tscheche Martin Smolka. Seine "Lieder ohne Worte / Passacaglia" (1998-99) sind ein wehmütiger "Nachruf". Sein Stück sei, so Smolka, "ein leiser Seufzer über das häßlich gewordene Gesicht einer einstigen Schönheit: der Schönheit von Frau Musica" (Programmheft, S. 85). Smolka zitiert für etwa drei Minuten gar eine Orgelfuge von Jan Zach (1699-1773) in einer Ensemblebearbeitung und badet ansonsten, trotz verfremdender Viertel- und Sechsteltöne, in tonaler Harmonik. Einem großen Teil des Publikums ist solcher Wohlklang suspekt: Der Beifall ist verhalten.
Christoph Staudes "Intercut / Zwischenschnitt" (1999) greift dann zwar auch auf bereits Komponiertes zurück, etwa auf ein Prélude von Skrijabin und Wyschnegradsky. Erkennbar sind Sie allerdings weniger. Das ensemble recherche widmet sich schließlich einem Werk von Georg Friedrich Haas, "Nach-Ruf...ent-gleitend..." (1998-99). Das Werk, das von Tonschwebungen und Mikrotonalität geprägt ist, wird vom Publikum gefeiert.

Schon im 4. Konzert am Samstag abend hat Robert HP Platz seine beiden Werke "strange" und "charm" (beide 1998 komponiert) simultan vom Klangforum Wien uraufführen lassen. Im abschließenden 6. Konzert am Sonntag nachmittag nun tritt zu diesen beiden Werken "up" (1996) und "down" (1996-98) hinzu. Zusammen ergeben sie ein neues Werk. Die Stücke von Platz sind Teil eines Zyklus, deren einzelne Teile frei kombiniert werden können, zudem sind sie als "Raummusik" konzipiert. In der Aufführung sitzen die Musiker des Klangforum Wien (Leitung: Emilio Pomárico) dann auch verteilt auf der gesamten Vorderbühne, die Musik von "strange" (für Violine und Akkordeon) kommt sogar von der hinteren Empore.
Beeindruckend ist die Leistung des SWR-Vokalensembles Stuttgart (Leitung: Rupert Huber), die James Dillons Werk für Doppelchor "residue..." (1998-99) aus der Taufe heben. Dillons Werk verlangt größte Präzision und Stimmkultur, die dieser Chor auch zu geben vermag. Leider wird noch nicht einmal aus dem Text im Programmheft deutlich, worum es in diesem Stück eigentlich geht. Nur soviel wird klar: Es basiert auf Textfragmenten aus dem Hohelied Salomos sowie einem Text von Edmond Jabés und hat einen ritualhaft-meditativen Charakter.
Beat Furrers "Stimmen/Quartett" für Chor und vier Schlagzeuger (1995-99) setzt den Schlußpunkt des diesjährigen Kammermusikfestivals. Gewiß hat Furrer einen Sinn für Dramatik, für energetische musikalische Verläufe und große Klangphantasie; er zieht aller Register der ihm zu Verfügung stehenden avantgardistischen Spieltechniken. Dieser Klang jedoch bringt dem Hörer nichts Neues, nichts Unbekanntes.

Neu dagegen ist in diesem Wittener Jahrgang eine Spielstätte, die erstmalig für musikalische Aufführungen, Performances und Installationen genutzt wird: Die ehemalige Zeche und Ziegelei Nachtigall. Heute ist sie Industriedenkmal, teilweise restauriert und ein lohnendes Ziel für Sonntagsausflügler. Am letzten Aprilwochenende jedoch drängte sich hauptsächlich das gebildete Spezialpublikum in die bereitgestellten Busse, die ins Muttenthal an die Ruhr fahren. Unter dem Titel "Netz-Wege" zeigen Dirk Schwibbert, Nicolas Collins, Franz Martin Olbrisch und Cathy Milliken auf dem Ziegeleigelände und in den Brennöfen ihre Installationen.
Das Maschinenhaus ist Ort von Performances und Aufführungen. Beide Etagen der Halle, die ein großes Schwungrad durchschneidet, bespielt Franz Martin Olbrisch mit seinem Streichquartett "Ein Quadratmeter Schwärze" (1998-99); Ausführende: Das Rubin Quartett. Durch räumliche Distanz und Echoeffekt wird eine Entrücktheit erzeugt, die nostalgisch wirkt. Auf eine andere Art nostalgisch ist David Moss mit seiner Solo-Performance "Voice Solos for a Machine Room" (1999). Moss ist ein Stimmakrobat, vielleicht vergleichbar mit dem Bariton William Pearson, der seinerzeit, in den späten Sechzigern und frühen Siebziger Jahren, einige Komponisten wie etwa Hans Werner Henze zum Schreiben für sein "Instrument" angeregt hat. Moss beschwört, in ordentlicher Lautstärke und unterstützt von der Live-Elektronik von Nicolas Collins, die Geister: Er imitiert Maschinengeräusche sowie Stimmen und Rufe der Arbeiter.
Unter dem orginellen Titel "Brüsseler-Platz-10a-Musik" präsentieren Georg Odijk und Marcus Schmickler ihr Projekt, das auf die Zusammenführung von DJ-Kunst, Technokultur und Maschinenhallenambiente abzielt. Daß Techno etwas maschinelles innewohnt, ist bekannt; ebenso, das viele Parties, auch Raves, in neuen Räumen wie stillgelegten Industriehallen oder Kauen stattfinden. Krach spielt dabei auch in der Maschinenhalle der Zeche Nachtigall eine Hauptrolle. Dieses Experiment ist von der Konzeption her stimmig, es muß sich aber zeigen, ob diese allzu sinnfällige Verbindung zur fruchtbaren musikalischen Entwicklungen führen kann.

Die diesjährigen "Wittener Tage für neue Kammermusik" also waren in ihrem Anspruch hochkarätig, im Angebot vielfältig und hielten ihre Schwerpunktsetzung fast in jedem Konzert durch. Schwächen in der musikalischen Ausführung gab es kaum. Und vielleicht verfestigt sich die Vermutung nächstes Jahr weiter: Unkonventionelles, kraftvoll-interessantes wird zur Zeit wohl eher abseits der alten deutschen Avantgarde geboren.

Zum Abschluß drei Notizen am Rande des diesjährigen Festivals.

Zunächst: Der Auftritt Klaus Hubers. Er hat mit "L'âge de notre ombre" und "L'ombre de notre âge" (1998-99) Werke geschaffen, die sich wie jedes Jahr der Reduktion widmen. Musik hat für Huber mit Antimaterialismus und Transzendenz zu tun. Leider aber verschwindet mit der Reduktion auch jegliches Blut aus seinen Werken und sie geraten ihm - wie dieses Jahr wieder - genauso lang wie langweilig. Seine beiden Werke sind dem Andenken an den Komponisten Gérard Grisey gewidmet, der 1998 überraschend starb. Daraufhin in Witten auf dem Podium mit einer schwarzen Armbinde zu erscheinen, ist, die Trauer Hubers in Ehren, eine eher peinliche, aufgesetzte Geste. Sie ist Selbststilisierung und entkräftet das sowieso schon kraftlose Werk Hubers, macht es zur Gelegenheitskomposition. - Übrigens: genauso peinlich und eitel wirkt Matthias Spahlingers roter Schal, ohne den es selbst bei Temperaturen um die 20 Grad offensichtlich nicht abgehen kann.

Zweitens: Am Samstag nach dem Abendkonzert wird eine Sonderveranstaltung angesetzt, ausgerichtet vom ensemble recherche: Mit Miniaturkompositionen von verschiedenen Komponisten wird Harry Vogt geehrt. Hat er Geburtstag oder ein rundes Dienstjubiläum beim WDR? Nein. Er zeichnet in diesem Jahr zum 10. Mal verantwortlich für die Musikauswahl. Man fragt sich: Ist ein solchen Aufwand gerechtfertigt, bei so einem vergleichsweise geringen Anlaß?

Drittens: Die Organisation der Fahrten und der Ereignisse auf der Zeche Nachtigall ließen etwas zu wünschen übrig. Zur ersten "Netz-Wege"-Veranstaltung kam eine Reihe Zuhörer erst mit 30minütiger Verspätung. Grund war ein wohl schlecht instruierter Busfahrer, der das Publikum in die Irre laufen ließ. Im Maschinenraum wären ein paar Stühle mehr angenehm gewesen.



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