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Musiktheater
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Orpheus

Projekt der poetischen Aktionstheatergruppe Panoptikum
Eine Auftragsinszenierung der RuhrTriennale
In Zusammenarbeit mit dem Welttheater der Straße in Schwerte

Bochum, Jahrhunderthalle

Aufführungsdauer: 1 Stunde (keine Pause)

Premiere: 21. Juli 2004
Besuchte Vorstellung: 22. Juli 2004


Logo: RUHRtriennale

Unterwegs mit Orpheus - Stehplatz mitten in einer Flut von Sinneseindrücken

Von Johannes Kammertöns

"Orpheus" - Sohn des Sonnengottes Apollon, begnadeter Sänger und Kitharaspieler, der Pflanzen und Tiere bezaubern, ja wilde Tiere zähmen, Unruhe beruhigen und Steine mit seiner Musik bewegen konnte - "Orpheus" - so hieß zum Abschluss des dritten Drittels der 1. Ruhr-Triennale in der Jahrhunderthalle zu Bochum das Super-Bilder-,Technik-, Akrobaten-Spektakel mit teilweise hämmernder Beat-Musik. Es präsentierte sich anspruchsvoll, ungewöhnlich, aufregend, neu.

Was brachten die Zuschauer an Kenntnis über den Orpheus-Mythos mit und was fanden sie in der Jahrhunderthallen-Umsetzung davon wieder?
Die unter anderem aus vielen Opern bekannte Orpheus-Geschichte hat folgenden Verlauf:
1. Die tiefe Trauer des Orpheus über seine an dem Biss einer Giftschlange gestorbenen Gattin Eurydike rührt die Götter. Oprheus erhält die Erlaubnis, in die Unterwelt hinab zu steigen und zu versuchen, den Fürsten der Unterwelt zur Freigabe Eurydikes zu bewegen.
2. Mit seinem begnadeten Gesang erreicht Orpheus, die Furien allmählich zu besänftigen, alle berühmten Büßer in der Unterwelt (zum Beispiel Tantalus, Sisyphos und andere) ihre qualvollen Tätigkeiten unterbrechen zu lassen und selbst den Höllenhund Kerberos zu zähmen und Hades, den Gott der Unterwelt, zu erweichen. Bedingung für die Rückkehr Eurydikes in die Oberwelt ist, dass Orpheus sich kein Mal nach ihr umsehen darf.
3. Orpheus kann die Bedingung nicht erfüllen und sieht - von Liebe und Sehnsucht überwältigt - auf dem Rückweg Eurydike an und verliert sie daraufhin für immer.

Wenn man flexibel und reflexiv genug ist, kann man die drei Entwicklungsstationen auch in der Inszenierung der Aktionstheatergruppe Panoptikum als beibehalten ansehen, allerdings unter psychischen und räumlichen Umdenkprozessen. Es gibt für diese Orpheus-Inszenierung keine theaterräumliche Kategorie von Bühne (und damit Handlung) vorne, Publikum davor (im so genannten Zuschauerraum). Eigentlich sind die Zuschauer auch gar nicht bloß (passive) Zuschauer, sondern direkt mittig, betroffen, reaktiv mithandelnd. Es gibt nur Stehplätze. Die Handlung spielt - zwar "vorne" beginnend, wenn Eurydike von Orpheus getrennt wird und dann durch die Halle über den Köpfen der "Zuschauer" entschwindet (übrigens sind beide Hauptfiguren in wunderschöne nachtblaue Hosenanzüge gekleidet) - in der kompletten Industriehalle, also vorne und hinten und links und rechts, aber vor allem oben, über den Köpfen, will heißen: eigentlich in unseren Köpfen, und das, was wir sehen, sind nur Ausgestaltungen unserer Fantasie beziehungsweise Überlegungen unseres eigenen Alltagserlebens.

Konkret heißt das für den 1. Akt die Übersetzung des Endes der Liebesbeziehung durch den tödlichen Schlangenbiss in solche Verhaltensweisen, die Liebesbeziehungen zu töten vermögen, die sich zum Beispiel in Sätzen äußern wie "Sie sagten, ich muss mich vor dir schützen, Orpheus, du frisst mich auf" oder "Ich kenne dich! Ich habe dir nachspioniert ...". Konkret heißt das aber auch Trauer über den Verlust, sich bewusst werden, was (ich) Orpheus eigentlich will, und eine Entscheidung herbei führen, die Liebesbeziehung wieder (auf-)leben zu lassen. Überlegungen, was hat zum(Ab-)Bruch, zum Tod der Beziehung geführt, werden stellvertretend von marionettenhaften, an Seilen links und rechts der Längshallenwände hoch gezogenen Figuren hoch über den Zuschauerköpfen teils singend, teils sprechend in die Klagegesänge von Orpheus und Eurydike hinein angestellt. Während dessen entfernen sich sehr langsam Orpheus und Eurydike immer weiter von einander. Gleichzeitig laufen auf unterschiedlich großen Leinwänden an den beiden Stirnseiten der Halle abstrakte Bildfolgen ab, die zu den mehr assoziativen Aussagen der Figuren vielleicht parallel laufende Farbeindrücke sein könnten. Dazu gibt es ohne Unterlass überlaute teils elektronische, teils beatartige Musik, die gegen Ende dieses (Überlegens- und Entscheidungs-)Prozesses eintönig, "einhämmernd" durch Anreißen vermutlich nur einer Bass-Gitarren-Saite und im stets selben Rhythmus verbleibend "ausklingt". Obwohl alle Sänger und Sprecher fest ein Mikrofon tragen und stimmlich sehr wohl zu vernehmen sind, bleiben sie dennoch mit ihren Texten gegenüber der Musik nicht ausreichend verständlich. Besonders die Gesangspartien von Orpheus und Eurydike scheinen eher mit den Musikgeräuschen zu "verschmelzen", denn eigenständig klar verstehbar.

Im 2. Akt befinden wir uns für alle intensiv erfahrbar in der Unterwelt. Das gruselige Chaos im Schattenreich wird durch totale Vereinzelung und nicht miteinander in Kontakt stehender Schattenwesen aufgezeit, die auf absonderlichen hohen Fortbewegungsmaschinen unterschiedlichster Art per Hand- oder Fußbetätigung sich vor- und zurückarbeiten. Sie bewegen sich dabei etwa ein bis drei Meter über den Köpfen der Zuschauer und machen schlimmste Verrenkungen, führen immer wieder die selben teils unkontrollierten heftigen und körperlich anstrengenden Bewegungen aus, dazu sondern einige gequält Sprechblasensätze ab.

Neben elektronischer Musikbegleitung erlebt man auf vier diagonal zu bewegenden horizontalen Leinwänden mittels hoch über ihnen und mit ihnen beweglich angebrachten Projektoren unterschiedliche abstrakte Bildfolgen, die vermutlich die Darstellung von quälend langsamen und sinnlos sich verbrauchenden, nie endenden Bewegungsabläufen mit gelegentlichen, wie Hilfeschreie klingenden einzelnen Sätzen oder Ausrufen, manchmal in flehender Wiederholung ("Sei still!") parallel den Eindruck verstärken sollen, wie endlos, trostlos und quälend das "Leben" in der Unterwelt ist. Dazwischen "schreiten" auf hohen Stelzen und gleicher Höhe mit den Schattenweltexistenzen Orpheus und Eurydike - stumm beobachtend und ohne Kontaktaufnahme. Da alle, die sich in dieser Unterwelt aufhalten, sich hin und her bewegen, also den ganzen Hallenraum für sich benötigen, muss das Publikum stets entsprechend durch Zurückweichen reagieren und scheint so in dieses Unterweltgeschehen mit integriert zu sein. Schließlich besiegt Orpheus die ungeheure Unruhe um ihn herum, und es kommt zur Kontaktaufnahme mit Eurydike.

Orpheus hält seine gewonnenen Einsichten und Versprechungen zur Änderung seines Lebens, um die Liebe zu Eurydike erneut zu gewinnen, nicht durch. So weicht im 3. und letzten Akt Eurydike zur einen Hallenseite ins Dunkel und Orpheus zur entgegen gesetzten Seite zurück. Gleichzeitig erfolgt an beiden Stirnseiten der Halle ein lautes Rauschen: Es fällt je ein dichter Regenvorhang von der Hallendecke bis zum Boden - vielleicht den Styx oder auch nur die Tränen der Trauer symbolisierend. In diesem etwa zehn Minuten rauschenden Regenvorhängen bewegen sich langsam und dreidimensional akrobatisch an Seilen hochgezogene Unterweltwesen zunächst noch dahinter und dann diesen Vorhang immer öfter wieder durchbrechend - Zeichen für Hoffnung? Am Ende dient der Wasservorhang zusätzlich noch als Bildprojektionsfläche.

Überwältigend und unvorbereitet viel Neues muss der Zuschauer in nur einer Stunde Dauer (ohne Pause) aufnehmen und wenigstens ansatzweise verarbeiten: ein ständiges Umdenken einer alten bekannten Geschichte in eine fremde Umgebung von vielfältigen, teilweise zirzensischen Aktionen von Personen, von Bildern und Musik-Geräuschen sowie Sprache und Gesang mit Hilfe ausgefallener, aber für alle stets sichtbarer und teilweise ungewöhnlicher Techniken, die so auf normalen Bühnen nicht möglich wären. Das alles fasziniert, reißt mit, lässt konzentriert mitverfolgen.

Das Lob heftigen Beifalls am Schluss haben Sänger, Darsteller, Percussionisten, Regisseure, Vokal- und elektronische Musik-Komponisten, Videobildner, Kostümbildner, Techniker wie Licht- und Tonregisseure in reichem Maß verdient. Als Frage bleibt jedoch: Ist der Zuschauer nicht überwiegend intellektuell gefordert gewesen, die Fülle gleichzeitiger Einzeleindrücke wahrzunehmen, mit einander ins Verhältnis zu setzen und bezogen auf den Inhalt zu interpretieren? Und ist er damit nicht vielleicht auch überfordert gewesen? Und ist da nicht das emotionale Genießen all des Schönen und Neuen zu wenig zum Zuge gekommen?



FAZIT

Als sehens- und erlebenswert erwies sich die Aufführung wegen der Fülle ungewöhnlicher Einfälle, wie sie in einem "normalen" Theaterraum nicht möglich wären. Nachdenklich stimmt die aufs Psychologische abhebende Interpretation, der allerdings zum einfacheren Verstehen eine ruhigere Gestaltung zu wünschen wäre. Eine Gestaltung, die jedoch weniger von einer durch Einzelkomponenten überfrachtenden Flut gleichzeitiger Sinneseindrücke geprägt wäre wie diese hier, könnte neben dem intellektuellen auch gleichzeitig dem emotionalen Erleben mehr Entwicklungsmöglichkeit lassen.


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Produktionsteam

Sänger
Franziska Weiß, Verena Vogt,
Matthias Rettner

Darsteller
Sigurd Bemme, Christian Dittmann,
Wolfgang Dvorak, Marco Hefele,
Annette Huber, Sabine Noll,
Benedikt Ocker, Gabriele Pekusa,
Ansgar Rettner, Willi Schindler,
Ute Wange.

Percussion
Marco Hefele, Ansgar Rettner,
Willi Schindler

Objektidee und Umsetzung
Sigrun Fritsch, Mario Kreuzer,
Véronique Ohl, Klaus Ulrich,
Ole Voss

Musik und Video
Ralf Buron

Vokalkomposition
Ansgar Rettner.

Kostüme
Christophe Linéré

Rigging
Benno Gähwiler

Projektleitung Technik
Sönke Ober

Wasserfall
Klaus Ulrich, Dirk Ober

Flieger
Susanne Boschert, Matthias Kolodziej,
Mario Kreuzer, Dirk Ober,
Tilman Reber, Ole Voss,
Oliver Wahmann, Ralph Wawroschek

Lichtregie
Oli Lorenz, Conny Winterholler

Tonregie
Ellen Muschal.

Texte
Boris Koneczny

Künstlerisches Gesamtkonzept
Sigrun Fritsch, Ralf Buron,
Karl Rechtenbacher.

Management und Organisation
Matthias Rettner, Sven Hansen






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