9. - 13. November 2005 FestspielberichtVon Gerhard Menzel
|
»Grenzgänge in der Musik« vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert vom 9. bis 13. November Nachdem es bereits bei den letztjährigen Tagen Alter Musik in Herne 2004 zahlreiche programmatische Überaschungen gab, sorgten dieses Jahr auch die zahlreichen Ortswechsel nicht nur beim Publikum, sondern vor allem bei den Instrumentenbauern und den Musikalienverkäufern für zusätzlichen Unmut. So reizvoll die vor den Toren der Stadt Herne gelegene Akademie Mont-Cenis und die für Herne “kultigen” Flottmann-Hallen auch sind, die »künstlerischen Grenzerfahrungen« hätten genau so gut an den altbewährten und zentral beieinander liegenden Veranstltungsorten - dem Kulturzentrum und der Kreuzkirche - gemacht werden können. Ergänzend hätten ja geführte Exkursionen (evt. auch mit musikalischen Kostproben), wie sie in vergangenen Jahren zu den Tagen Alter Musik in Herne angeboten worden waren, die Vielfalt des Festivals und der kulturellen Landschaft Hernes darstellen können. Gleich das Eröffnungskonzert im Kulturzentrum unter dem Motto “Vivaldirland” markierte einen der Höhepunkte des Festivals und wurde vom zahlreich erschienenen Publikum auch ausgiebig bejubelt. Hughes de Courson, der als Komponist, Arrangeur, Instrumentalist und Produzent unter anderem schon durch seine Projekte “Lambarena” und “Mozart in Egypt” (OMM-Rezenson Mozart in Egypt 2) für Furore sorgte, präsentierte in Herne sein Projekt “O'Stravaganza - Venezianischer Barock und keltische Pfeifen”. Hier kam es nun zu einem Zusammentreffen italienischer und irischer Musiker, die barocken Esprit des 18. Jahrhunderts und keltische Balladen der irischen Folkmusik kombinierten (die sich allerdings in ihrer heute bekanten Form erst im 19. Jahrhundert entwickelte). Die Ausführenden dieses musikalisch sehr reizvollen Miteinanders waren das vom Cembalisten Stefano Demicheli 2002 gegründete und geleitete Ensemble “La Tempesta” und die von Hughes de Courson speziell für “O'Stravaganza” zusammengestellte “The Celtic Band” mit der Geigerin Zoé Conway (Fiddle), Robert Harris (Bodhrán, Bones), Donal Siggins (Irische Bouzouki, Mandoline), Youenne Le Berre (Whistles, Irische Flöte), Ronan Le Bars (Irischer Dudelsack) und Tom Daun (Harfe). Carlos und Xurxo Núñez Gleiches gilt auch für das Konzert Wiedergänger und ewige Wiederkehr - Pan-Keltische Seelenwanderungen durch das Mittelalter und volkstümliche Traditionen mit dem Ensenble “La Reverdie”, sowie Carlos und Xurxo Núñez. Damit trafen die Brüder Núñez auf die beiden Schwesternpaare von “La Reverdie”, Livia und Claudia Caffagini und Ella und Elisabetta de’Mircovich, die von Doron D. Sherwin (Gesang, Stiller Zink, Schlagwerk) begleitet wurden. Das pan-keltischen Programm des italienischen Ensembles “La Reverdie” folgte den Regeln eines professionellen irischen filidh (Barden). Thematisiert wurden dabei die drei wichtigsten keltischen primscélas (literarischen Genres): Serca (Frauenliebe), Oitte (Königstode) und Uatha (Elfenzauber). Musik aus bretonischen, irischen, schottischen, englischen, fränkischen und walisischen Quellen des 12.-15. Jahrhunderts musizierten “La Reverdie” und die Núñez-Brüder dann gemeinsam. Das Ergebnis war ein klangfarbenreiches, dynamisch weitgespanntes und emotional bewegendes Miteinander, das nicht nur den Ausführenden große Freude bereitete, sondern auch dem Publikum. Die Gambe sei ein zur Begleitung des Gesangs geradezu prädestiniertes Instrument, schrieb Hubert LeBlanc in seinem Traktat “Défence de la basse de viole” (1740). Leider fiel gerade dieser musialisch interessante Bereich im Konzert Full of Colours - Alte und neue Geschichten für die Viola da gamba auf Grund einer Erkrankung der Sopranistin Graciela Gibelli aus. Stattdessen präsentierte das Gamben-Consort “Il Suonar Parlante” gemeinsam mit dem Trompeter Markus Stockhausen quasi einen ‚Lebenslauf’ der Viola da gamba - von seiner Entstehung bis heute - in seinen höchst unterschiedlichen Facetten und (Klang)-Farben. Das ungewöhnliche und klanglich sehr aparte Programm (besonders reizvoll war vor allem der Zusammenklang mit gestopfter Trompete) bescherte populäre Elemente (John Playford), den Expressionismus Antoine Forquerays, die harmonischen Kühnheiten Giovanni de Macques und die Modernität Markus Stockhausens. “La Stagione Frankfurt” mit Michael Schneider und sein Ensemble “La Stagione Frankfurt”
präsentierten unter dem Titel Zodiacus -
Zyklischen Kompositionen im Zeichen des Himmels im ersten Teil ihres
Konzertes im Bürgersaal der Akademie Mont-Cenis Werke von Johann Abraham
Schmierer (der neben Johann Caspar Ferdinand Fischer den in Frankreich
geprägten Typus der Orchestersuite in Deutschland etablierte), Gregor Joseph
Werner (der Vorgänger Joseph Haydns beim Fürsten Esterhazy in Eisenstadt war)
und Johann Sebastian Bach, dessen Concerto d-moll für Cembalo und Streicher
(BWV 1052) allerdings nichts mit dem thematisch enger abgegrenzten Programm zu
tun hatte. Schön anzuhören war es - auch Dank des versierten Spiels von Sabine
Bauer - allerdings allemal. Karlheinz Stockhausens Kompositionszyklus “Tierkreis” erklang nach der Pause in einer Bearbeitung für Sopran und Ensemble mit historischen Instrumenten. Michael Schneider hatte dieses Werk, das nicht einfach nur abgespielt werden kann, sondern lediglich 12 Melodien mit ihren jeweiligen Begleitungen vorgibt, unter Verwendung der von Stockhausen selbst stammenden textierten Vokalfassung, in eine Version für historische Instrumente umgearbeitet. In ihr wirkt Stockhausens Musik durch die differenzierte Instrumentation mit Block- und Traversflöte, Fagott, Orgel, Cembalo, Laute und Streichern sehr farbig und sehr nah am Originalklang des ursprünglich für 12 Spieluhren komponierten Werkes. Die teils deutschen, teils englischen Texte wurden von Gabriele Hierdeis mit ihrem hellen und klaren Sopran einfühlsam gestaltet. Marco Beasley
mit “Accordone” Ein ganz besonderes Ereignis bekam das Publikum in Hernes
Flottmann-Hallen geboten. A voce sola
- Musik aus Palästen und Gassen lautete das eher unverfängliche Motto
dieses Konzertes. Aber sowohl die Ausführenden, wie auch die musizierten Werke
waren etwas ganz besonderes. Im Mittelpunkt des Konzertes stand Marco Beasley,
der die ungeheure Farbigkeit und Ausdruckskraft seiner so charkteristischen
Stimme in abwechslungsreichen Arien und Volksweisen unter Beweis stellte (auch
im neapolitanischen Dialekt). Schier unnachahmlich war auch seine gestische
Interpretation, die dieses Konzert schon deswegen zu einem wirklichen Erlebnis
werden ließ. Aber das war noch nicht alles.
Auf dem Programm standen u. a. Werke von Giovanni Felice Sances, Claudio Monteverdi, Giovanni Stefani, Guido Morini, Alessandro Scarlatti, Giovanni Bononcini und Arcangelo Corelli. Allerdings waren die Ausführenden das Ensemble “Accordone”, mit Enrico Gatti und Rossella Croce (Violine), Gaetano Nasillo (Violoncello), Stefano Rocco (Arciliuto/Chitarra), Franco Pavan (Theorbe), Fabio Accurso (Laute) und Guido Morini (Orgel und Cembalo), deren Markenzeichen es ist, die “historische Aufführungspraxis” noch einen Schritt weiter zu praktizieren. Im 17. und 18. Jahrhundert war es nämlich üblich, dass Musiker für sich selbst oder das Ensemble, in dem sie spielten, neue Werke komponierten. Andere Kompositionen wurden entsprechend der persönlichen Vorlieben oder den Bedürfnissen transponiert, umgearbeitet, neu instrumentiert oder mit anderen Texten versehen. Dieser historischen Praxis folgend, hat Guido Morini, der Leiter des Ensemble “Accordone”, für sich und sein Ensemble ein ganz eigenes Repertoire aus höchst unterschiedlichen Werken des italienischen Sei- und Settecento erarbeitet. Damit hebt er die Grenze zwischen Komponist und Interpret auf und wertet den Interpret vom bloßen Ausführenden wieder zum aktiv mitgestaltenden Musiker auf.
Während das Konzert Flour
de Flours - Archaische Impressionen auf mittelalterlichen Traversflöten mit
Norbert Rodenkirchen (u. a. mit Werke von Guillaume Machaut, Norbert Rodenkirchen und einer
Uraufführung auf einer Schwanenknochenflöte von Johannes Fritsch) nur etwas für
ganz hartgesottene Flötenfanatiker war, erwies sich das erstmalige Gastspiel
des Studio Akustische Kunst des WDR
in Herne als völlig überflüssig und deplaziert. So ein beliebiges Konglomerat
von wirren Gedanken, mit dem Piet Hein van der Poel unter dem Motto Dromen - Träume -
Dreams aus - der Quadrophonie huldigenden - Lautsprechern, mit kurzen
Einwürfen von live aufgeführter Musik, das Publikum der Tage Alter Musik in
Herne beschallte, war wirklich unglaublich. Es gibt für derartige Ergüsse
sicherlich ein - ebenfalls sehr spezielles - Publikum, aber nicht im Rahmen der
Tage Alter Musik in Herne.
Auch das Expetiment unter dem Motto Meta-Melodrammi - Oper in kritisch-satirischer Selbstbetrachtung war eine vollkommene Enttäuschung. Weder die Kammeroper “Radames” (1979/97) des Avantgardisten Peter Eötvös, noch Domenico Scarlattis eingeschobene Farsetta per musica “La Dirindina” (1715), die ebenfalls in einem völlig neuen Klangbild erklang, konnten annähernd überzeugen, was allerdings nicht am Ensemble PanArte (Mirjam Dir: Sopransaxophon, Aurelie Rousselle: Horn, Benjamin König:Tuba und Errico Fresis: Elektrischers Klavier und Leitung) lag. Auch die Solisten Olivia Vermeulen (Mezzosopran), Tim Severloh (Countertenor), Michael Gehrke (Tenor) und Timothy Sharp (Bariton) mühten sich zwar redlich, aber sowohl die musikalische, als auch die darstellerische Seite, von der solche Stücke vor allem leben, wirkte blass, leblos und in jeder Beziehung unbefriedigend. Reinhard
Goebel und Die Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel präsentierte in ihrem Programm Aus den Fugen - Die “Krise” der deutschen Musik um 1670 Werke von David Pohle, Johann Heinrich Schmelzer, Heinrich Ignaz Franz von Biber und Georg Muffat. Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges flüchteten sich damals Bildende Künste und Musik in immer kompliziertere, immer großartigere Schöpfungen – ein Weg, der sich irgendwann als Sackgasse erwies. Um 1670 war die deutsche Instrumentalmusik schließlich an ihrem künstlerisch-technischen Höhe- und Endpunkt angekommen. Zumindest an Hand der ausgewählten Kompositionen stellte sie sich als heute interessante und künstlerisch durchaus fruchtbare Zeit heraus. Reinhard Goebel und die Musica Antiqua Köln musizierten engagiert und mit viel Liebe zum Detail und ließen dadurch die Kompositionen mit ihren vielstimmigen und oft komplizierten Satzstrukturen (zum Teil mit 2-5 Violen) in all ihrer Pracht erstrahlen. Le Poème
Harmonique Mit viel Liebe zum Detail nahmen sich auch Le Poème Harmonique unter der Leitung von Vincent Dumestre den Werken an, die unter dem Motto Nova Metamorfosi - Geistliche Musik im Mailand der Gegenreformation in der Kreuzkirche erklangen. Während der Mailänder Domkapellmeister Vincenzo Ruffo seine Kompositionen ganz im Einklang mit den Beschlüssen des Konzils von Trient (1545-1563) komponierte, also “bar jedweder profaner und eitler Elemente”, in nüchterner Strenge und mit allgegenwärtiger Textverständlichkeit, der sich auch die Polyphonie unterzuordnen hatte, wurde rund eine Generation später im Verlauf der Gegenreformation der Professor für Rhethorik, Aquilino Coppini, damit beauftragt, Kontrafakturen von Madrigalen Claudio Monteverdis zu erstellen, also populäre weltliche Madrigale für den liturgischen Gebrauch umzutexten (ab 1607). Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wandelte sich die Musik so von einem einfachen, zu einem barock überschwenglichen Stil, mit melodischen und harmonisschen Ausschmückungen, eingeschobenen Instrumentalpartien, Wechselgesängen zwischen Soli und Tutti, Doppelchören und Echo-Effekten. Le Poème Harmonique zeichneten diese musikalische Entwicklung eindrucksvoll und mit intensiver Gestaltung nach, was in der dafür angemessenen Akustik der Kreuzkirche zu einem wahren Fest für die Ohren wurde.
Den Abschluss der “Tage Alter Musik in Herne” bildete die konzertante Aufführung der komisch-mythologischen Oper in einem Akt Die schöne Galathee von Franz von Suppé. In ihr kombinierte Suppé 1865 sowohl Elemente der seinerzeit in ganz Europa erfolgreichen Opéra buffe von Jacques Offenbach, als auch des Wiener Singspiels und Volkstheaters, was sie zu einem wesentlichen Bindeglied zur Entstehung der Wiener Operette werden ließ.
Trotz einiger neuer, guter Ideen und Programme (z.B.
"Vivaldirland", "Ewige Wiederkeh"r, "A voce sola") wirkte die Gesamtkonzeption dieser
Konzertreihe doch sehr isoliert und mit wenig Interesse für das Gesamtprojekt
“Tage Alter Musik in Herne”. Man muss nicht das Rad neu erfinden, um einen
Beitrag für den Fortschritt zu leisten. Es hat keinen Sinn, ein über Jahre
gewachsenes, profiliertes Konzept aufzuweichen und es mit Gewalt an eine
interntionale Festivalbeliebigkeit anzunähern.
Zum Glück haben die “Tage Alter Musik in Herne” noch genügend Potenzial, um
sich gegenüber anderen Festspielen (speziell für alte Musk) behaupten zu
können. Etwas mehr Fingerspitzengefühl und Sorfalt von Seiten des WDR (z.B. bei
der Auswahl der Spielstätten und vor allem der Terninierung), wäre aber
sicherlich für alle dabei von Vorteil. Vor allem könnte dadurch nicht nur das treue
Stammpublikum gehalten, sondern auch - so zumindest das erklärte Ziel von
Richard Lorber - neues Publikum gewonnen werden. Mehr von den Tagen Alter Musik in Herne 2005 |
© 2005 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de
- Fine -