Avantgarde der historischen Aufführungspraxis
Die Tage Alter Musik in Regensburg bleiben dem Trend auf der Spur
Von Ingo Negwer
Am Pfingstwochenende war das Interesse der Alte-Musik-Gemeinde wieder ganz auf
Regensburg gerichtet, wo zum 21. Mal die Tage Alter Musik stattfanden. Das Interesse an
historischer Aufführungspraxis ist nach wie vor ungebrochen. So konnten die Veranstalter
für 2005 erneut einen Besucherrekord verzeichnen. Etwa 8000 Zuhörer kamen in die
vielfach ausverkauften Veranstaltungen. Auch dieses Mal wurde der Besuch des Festivals,
das nach über zwanzig Jahren zu den weltweit führenden zählt, mit hervorragenden
musikalischen Erlebnissen und bemerkenswerten Entdeckungen belohnt.
Zum Auftakt gastierte bereits am Donnerstag das ungarische Barockorchester Concerto
Armonico mit einem Sonderkonzert anlässlich der Bewerbung Regensburgs um den Titel
Kulturhauptstadt Europas 2010. Am Freitagabend folgte die
eigentliche Eröffnung des Festivals mit dem Orchester I Barocchisti unter
der Leitung von Diego Fasolis. Im Zentrum standen Vivaldis Vier Jahreszeiten
in einer hypothetischen Dresdener Fassung mit hinzugefügten Bläserstimmen
einer für Johann Georg Pisendel bezeugten Praxis, der seinerzeit für die
Dresdener Hofkapelle Konzerte Vivaldis ähnlich arrangiert hatte. Die Schweizer
Barockspezialisten interpretierten die Quattro Stagioni als quicklebendige
virtuose Skizzen einer ländlichen Idylle. Der feine, leider nicht immer ganz sichere
Pinselstrich hatte Vorrang vor dem kontrastreichen Farbauftrag. Grundlegend neue
Erfahrungen durch die Dresdener Fassungen blieben nicht zuletzt deshalb aus,
weil zwei der vier Konzerte(!) ohne zusätzlich Bläserstimmen wiedergegeben wurden.
Im anschließenden Nachkonzert stellten sich Les Boréades des Montréal mit
sehr beachtenswerten Wiedergaben französischer Barockmusik vor. Die Kanadier trafen ganz
vorzüglich den eleganten, delikaten Stil dieses Repertoires, etwa in Couperins Triosonate
Le Parnasse ou l'Apothéose de Corelli. Auch die Kompositionen von
Boismortier, Charpentiers, Corette und Rebel wurden mit temperamentvollem Esprit,
unaufdringlicher Vitalität und geschmeidiger Melodik vorgetragen. Am Samstagmorgen
setzten Les Boréades des Montréal ihr Regensburger Gastspiel mit einem
außergewöhnlichen Programm fort. Die Songs der Beatles 35 Jahre nach Auflösung der
legendären Band in einem Festival für Alte Musik aufzuführen, ist sicherlich einen
berechtigten Versuch wert. Dass man sich dabei gar des Instrumentariums eines
Barockorchesters bedienen kann, wussten die Musiker um Eric Miles (Cembalo) dem
begeisterten Publikum ebenso überzeugend wie mitreißend zu vermitteln!
Les Boréades des Montréal
(Foto: Hanno Meier)
Raritäten aus dem barocken Prag stellte das tschechische Collegium
Marianum nachmittags im Reichsaal vor. Das Programm verzeichnete Werke weitgehend
unbekannter Komponisten, wie Jan Josef Ignác Brentner oder Václav Karel Holan Rovensky.
Lediglich die Namen von Jan Dismas Zelenka, Johann Joseph Fux oder Antonio Caldara
dürften dem Zuhörer bekannt gewesen sein. Mit frischen Interpretationen und einem hohen
Maß an Identifikation nahm sich das Collegium Marianum dieser Musik an. Die
jungen, lyrischen Stimmen von Hana Blazíková (Sopran) und Marián Krejcík (Barition)
fügten sich harmonisch in das homogen aufspielende Ensemble ein.
Der Scivias-Chor in der Minoritenkirche
(Foto: Hanno Meier)
Der Abend stand ganz im Zeichen mittelalterlicher Musik.
Zunächst führte der Berliner Scivias-Chor Hildegard von Bingens Mysterienspiels
Ordo Virtutum in einer Inszenierung von Gislinde Strunz auf, wobei die
Minoritenkirche für Auge und Ohr das passende Ambiente bot. In schlichten Bildern
stellten die Interpreten das Ringen der Seele (Anima: Rebecca Bain) mit dem Teufel (Elio
Popolo in der Sprechrolle) um ihr eigenes Heil in schlichtem Schwarz-Weiß-Effekt in den
Raum. Der Scivias-Chor zeigte sich unter der Gesamtleitung von Norbert Rodenkirchen
als kompetenter Sachwalter der Musik Hildegard von Bingens. Improvisationen auf Fidel
(Susanne Ansorge), Traversflöte und Harfe (Norbert Rodenkirchen) zogen akustische
Verbindungslinien zwischen den Stationen. Anschließend konnte man das Mittelalterensemble
Liber unUsualis in der Regenburger Dominikanerkirche erleben. Rund um das Thema
Heiligenverehrung im Mittelalter präsentierten Melanie Germond (Sopran),
Carolann Buff (Mezzosopran) und William Hudson (Tenor) geistliche Musik des 14. und 15.
Jahrhunderts. Die drei Sänger bilden bei aller Individualität der hervorragenden
Einzelstimmen ein wunderbar aufeinander abgestimmtes Vokalensemble. Die plastische
Gestaltung der Melodiebögen im polyphonen Geflecht der Motetten u.a. von Guillaume Dufay,
Guillaume de Machaut, Johannes Cicona war geradezu mustergültig.
Liber unUsualis
(Foto: Hanno Meier)
Am Pfingstsonntag gab das Ensemble Estro Cromatico aus
Mailand sein Deutschland-Debut im Rahmen des Regensburger Festivals. Die Herkunft des
Ensembles und die Tatsache, dass sein Leiter, der Blockflötist Marco Scorticati, ein
Schüler von Giovanni Antonini ist, sollten nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten! Estro
Cromatico findet einen gänzlich anderen Zugang zur italienischen Musik des Barock als
Il Giardino Armonico. Quasi selbstverständlich wird auch hier frisch und mit
souveräner Virtuosität musiziert. Doch pflegt das junge Ensemble einen beinahe grazilen
Ton unter weitgehendem Verzicht auf exaltierte Kontraste. Nach anfänglichen leichten
Unsicherheiten löste sich sehr bald die Anspannung und Estro Cromatico bot mit
seinen hervorragenden Solisten sehr stimmige Interpretationen. Stellvertretend sei nur das
wunderschön gespielte Concerto g-moll La Notte von Antonio Vivaldi genannt.
Herausragend waren die Darbietungen der jungen spanischen Sopranistin María Espada, die
mit weichem, leicht dunkel gefärbtem Timbre ihre Beiträge gestaltete. Den Höhepunkt
dieses schließlich vom Publikum enthusiastisch bejubelten Konzerts bildete Händels
Kantate Armida abbandonata, in der María Espada eine von ihren Gefühlen hin-
und hergerissene verlassene Geliebte gab.
Nachdem es am Nachmittag mit dem Blockflötisten Maurice Steger und Ursula Dütschler
(Cembalo) kammermusikalisch zuging, brachte das Capriccio Stravagante Renaissance
Orchestra opulente venezianische Klänge des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu
Gehör. Sowohl mit prächtiger Klangentfaltung im tutti und in der Mehrchörigkeit
als auch in den kleiner besetzten, von virtuosen Improvisationen beherrschten
Kompositionen wusste das hervorragende Ensemble um den Cembalisten Skip Sempé zu
überzeugen. So kam der ganze Facettenreichtum der Balli, Canzone e Madrigali
von Giorgio Mainerio, Diego Ortiz, Claudio Monteverdi, Giovanni Gabrieli u.v.a. bestens
zur Geltung.
Der Pfingstsonntag ging musikalisch mit einem Nachtkonzert des Londoner Binchois
Ensembles zu Ende. Die aus sechs Sängern und dem Leiter Andrew Kirkman bestehende
Gruppe zeigte sich in der Dominikanerkirche als erstklassige Formation bester britischer
Vokaltradition: In nahezu perfektem, auf Transparenz bedachtem Zusammenklang
interpretierten sie die Missa Sancti Anthonii Viennensis, die (so das wieder
ausgezeichnete Programmheft) wahrscheinlich aus der Feder von Guillaume Dufay stammt. Im
Sinne eines musikalisch gestalteten Gottesdienstes des späten 15. Jahrhunderts ergänzten
zwei Motetten von Gilles Binchois und ein Rondeau von Dufay das Programm.
Der Konzertreigen des letzten Festivaltages begann mit einer Matinee von La
Venexiana. Bereit 2003 demonstrierte das italienische Madrigalensemble bei den Tagen
Alter Musik in Regensburg seine Extraklasse. Nun war man gespannt, in welcher Weise sich
die Italiener der späten Madrigale des 7. und 8. Buchs von Claudio Monteverdi annehmen
würden. Begleitet von Streichern und einem großen Generalbassensemble (Theorbe, Harfe,
Cembalo, Orgel) erfüllten die acht Sänger von La Venexiana den Reichssaal mit den
Klängen des Combattimento di Tancredi e Clorinda, dem Lamento della Ninfa und
dem Ballo delle ingrate. Insbesondere der Combattimento wurde von den
Protagonisten Giuseppe Maletto (Testo), Rossana Bertini (Clorinda) und Sandro Naglia
(Tancredi) in seiner dramatischen Dichte überzeugend dargeboten; das Lamento mit
Rossana Bertini als Ninfa gestaltete La Venexiana als eine herzbewegende
Trauermusik. Nach der Pause viel das bis dahin hohe Niveau leider etwas ab. Neben einigen
Unsicherheiten lag dies sicherlich auch an dem etwas langatmigen Ballo delle ingrate,
der die Tradition der revueartigen französischen Ballet de Cour aufgreifend
wohl doch nicht ohne umfangreichere szenische und choreographische Gestaltungen auskommt.
Nichtsdestotrotz wurde das Ensemble mit Ovationen gefeiert. Schade nur, dass die
Begeisterung des Publikums mit keiner Zugabe belohnt wurde.
Nigel North im Saal der Regierung
(Foto: Hanno Meier)
Die Tage Alter Musik in Regensburg bieten dem Publikum
alljährlich ein überaus reichhaltiges Menü an musikalischen Leckerbissen. Heuer waren
es fünfzehn Konzerte, den Auftritt des Concerto Armonico vom Donnerstag
eingerechnet, bis hin zum Abschlusskonzert der Akadêmia aus Frankreich, die unter
der Leitung von Françoise Lassere Werke von Heinrich Schütz aufführte. Bei dieser
Fülle des Angebots muss sich der Rezensent notgedrungen auf eine Auswahl beschränken, in
dem wehmütigen Bewusstsein, hier und dort hörens- und sehenswertes versäumt zu haben.
Doch glücklicherweise ist noch, von zwei schönen Konzerterlebnissen zu berichten: Im
restlos ausverkauften Saal der Regierung am Emmeramsplatz gastierte der renommierte
amerikanische Lautenist Nigel North. Mit großer Ruhe und sensibler Tongestaltung
interpretierte er auf einer elfchörigen Barocklaute Kompositionen von Sylvius Leopold
Weiss, Esaias Reusner und François Dufaut sowie eigene Arrangements von Werken Heinrich
Ignaz Franz Bibers, Henry Purcells und Johann Sebastian Bachs. Am Ende des Programms
bedankte sich der sympathische Lautenist beim Publikum für das aufmerksame Zuhören,
because music is so important for us today. Dem ist nichts
hinzuzufügen
Große Betroffenheit machte sich am Montagnachmittag unter den Festivalbesuchern breit,
als bekannt wurde, dass die grande dame der Alten Musik, Emma Kirkby, ihren
Auftritt mit dem L'Orfeo Barockorchester wegen Erkrankung absagen musste.
Kurzfristig sprang María Espada ein und wurde für diesen mutigen Schritt mit einem
großen Triumph belohnt. Das österreichische Orchester unter der Leitung von Michi
Gaigg (Violine) eröffnete das Konzert mit Johann Sebastian Bachs erster Orchestersuite.
Hier, wie auch nach der Pause mit dem fünften Brandenburgischen Konzert stellte L'Orfeo
unter Beweis, dass es derzeit zu den besten Barockorchestern überhaupt zu zählen ist.
Die vorzügliche Streicherkultur, in die sich die Bläser und das Basso continuo bestens
einfügen, ist wohl kaum zu überbieten. Selten habe ich etwa das Schluss-Allegro des
Konzerts BWV 1050 vom ersten Takt an so feinnervig und federnd pulsierend gehört.
María Espada und L'Orfeo Barockorchester,
vorne links: Michi Gaigg
(Foto: Hanno Meier)
María Espada, dem Publikum schon durch ihren Auftritt mit Estro
Cromatico bekannt, sang zunächst noch einmal Händels Kantate Armida
abbandonata (an Stelle der ursprünglich vorgesehenen Bach-Kantate Mein Herze
schwimmt in Blut). Schon nach wenigen Takten wusste die Spanierin sich im Kreis der
vorzüglichen Instrumentalisten gut aufgehoben und konnte in der Rolle der verlassenen
Armida erneut bestens überzeugen. Schluss- und Höhepunkt des Konzerts war die Kantate
Jauchzet Gott in allen Landen BWV 51. Zusammen mit dem L'Orfeo
Barockorchester und Anna Freeman (Trompete) zündet María Espada ein wahres
musikalischen Feuerwerk, fand in der Arie Höchster, mache deine Güte
gleichwohl zu einer tiefen innigen Intimität, ehe sie über den Choral zu den
hochvirtuosen Koloraturen des Alleluja und zu einem fulminanten Abschluss
gelangte.
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