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Shadowtime

Oper in sieben Szenen Libretto von Charles Bernstein
Musik von Brian Ferneyhough

Eine Produktion der RuhrTriennale in Koproduktion mit der Münchener Biennale, Sadler's Wells London, Festival d'Automne Paris und dem Lincoln Center New York

Aufführungsdauer: ca. 2h 15' (keine Pause)

Premiere der Einrichtung für die RuhrTriennale
in der Jahrhunderthalle Bochum am 30. September 2005

Logo: RUHRtriennale 2005

Sieben Szenen, die entfernt mit Walter Benjamin zu tun haben

Text von Stefan Schmöe / Fotos von Ursula Kaufmann

Eine Oper im klassischen Sinn ist Shadowtime nicht, auch wenn Komponist Brian Ferneyhough sein Werk als „Oper in sieben Szenen“ bezeichnet hat. Die zweite Szene etwa ist ein reines Instrumentalstück, ein Konzert für Gitarre und Orchester, konzipiert als Meditation über eine Zeichnung ( Angelus Novus, 1910) von Paul Klee. Vielmehr handelt es sich um eine Art szenisches Oratorium, wenn man den sieben Szenen, die eigentlich auch für sich autonom stehen könnten, überhaupt eine umklammernde Gattungsbezeichnung überstülpen möchte. Zwar kann man in Ansätzen eine symmetrische Struktur zwischen den Szenen erkennen, und die Figur Walter Benjamins gibt vordergründig eine inhaltliche Verklammerung (allerdings werden Biographie, Werke und der Symbolgehalt der historischen Persönlichkeit in derart unterschiedlichen Sinnzusammenhängen verwendet, dass die Klammer dem tieferen Blick kaum stand hält), aber die gedanklich überaus komplexe Anlage des Werkes (dem entspricht eine mindestens ebenso komplexe Notation, die alle Abläufe über das aufführbare Detail hin festlegt) ist derart ausufernd, dass sie praktisch nicht nachvollziehbar ist.


Angelus Novus von Paul Klee Angelus Novus, Zeichnung von Paul Klee (1910), ehemals im Besitz von Walter Benjamin

Man kann darüber streiten, ob es fair ist, einem solchen Werk mangelnde Theatertauglichkeit vorzuwerfen; (zu) viele andere zeitgenössische Komponisten haben dem Publikum plakativ-grelle Kompositionen vorgelegt, die theatertauglich sein wollen, aber ihrer anbiedernden Gestalt wegen beim Verlassen des Theaters bereits vergessen werden. Andererseits weckt Ferneyhough mit der Bezeichnung „Oper“ Erwartungen, die er nicht einlösen kann oder will – auf dieser Ebene wäre die Sache schnell abgehandelt: Thema verfehlt, ungenügend. Löst man sich von solchen Vorbehalten, steht man immer noch vor einem Werk, dessen übermäßige Anforderungen für Ausführende wie für Zuhörer fast nicht zu bewältigen sind. Nicht realisierbare, nur im Kopf „durchdenkbare“ Musik geschrieben zu haben, das hat man freilich auch schon Beethoven vorgeworfen, und auch wenn Ferneyhoughs alles andere als eingängliche Tonstrukturen sich jeder Popularisierung widersetzen, ist die Auseinandersetzung mit dem 2004 in München uraufgeführten und in London, Paris, New York und jetzt Bochum in gleicher Inszenierung nachgespielten Werk faszinierend.

Walter Benjamin beging 1940 an der spanisch-französischen Grenze Selbstmord, als ihm auf der Flucht vor den Nazis die Durchreise durch Spanien verwehrt wurde. Ferneyhough und sein Librettist Charles Bernstein setzen den Abend vor diesem Ereignis an den Beginn von Shadowtime. Vom Besitzer des Hotels, in dem er abgestiegen ist, erfährt Benjamin, dass er nicht weiterreisen kann. Damit ist die reale Handlung bereits an ihrem Ende angekommen. In mehreren Ebenen überlagert Ferneyhough das Geschehen, blendet gleichzeitig Gespräche von Benjamin aus der Vergangenheit ein, lässt ihn in fiktive Dialoge mit dem jüdischen Mystiker Gershom Scholem und mit Hölderlin eintreten – in der Simultanität nicht mehr überschaubar. Nach dem Konzert der zweiten Szene ist die dritte als Abfolge von 13 Chorstücken angelegt, die vierte ist ein virtuoses Klavierstück auf offener Bühne, wobei der Pianist beim Spielen allerlei Text zu sprechen hat: Fragmente unter dem Übertitel „Abstieg Benjamins in die Unterwelt“. In der fünften Szene trifft Benjamin auf Gestalten wie Adolf Hitler und Papst Pius XII. sowie einen doppelköpfigen Marx (bestehend aus dem Philosophen Karl und dem amerikanischen Komiker Groucho), was Ferneyhough die Vorlage zur Verarbeitung historischer musikalischer Formmodelle gibt. Die sechste Szene bezieht sich wieder auf ein Bild (Dürers „Melencolia“), die siebente ist ein „nicht-christliches Requiem“ – in beiden Szenen löst sich die Sprache allmählich auf, verliert ihren unmittelbaren Sinngehalt und wird mehr und mehr zu Klang.


Bild Melencolia von A. Dürer

Melencolia, Kupferstich von Albrecht Dürer

Phänomenal ist die musikalische Wiedergabe durch die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die nicht nur die enormen technischen Schwierigkeiten scheinbar mühelos bewältigen, sondern trotz der überstrengen Vorgaben des Komponisten die Musik immer frei zur Entfaltung kommen lassen. Das auf zeitgenössische Musik spezialisierte Ensemble von ausgebildeten Opernsängern hat trotz der solistisch geführten Stimmen einen homogenen, dabei intensiven Klang. Kongeniale Mitspieler sind die Instrumentalisten des Nieuw Ensemble Amsterdam, die den kammermusikalisch klaren Klang der Partitur mit höchster Anspannung, aber ebenfalls souveräner Leichtigkeit spielen. Star des Abends ist der ausgezeichnete Pianist Nicolas Hodges, der in schönstem Oxford-English eine Vielzahl von Sprechstellen übernimmt und mit seiner überaus gepflegten Diktion einen Hauch von Komik in das strenge Spiel bringt. Bei dem umsichtigen musikalischer Leiter Jurjen Hempel laufen alle Fäden zusammen.


Szenenfoto Walter Benjamin trifft Marx und Einstein: Aufnahme von der Uraufführung bei der Münchener Biennale 2004.

Regisseur Frédéric Fisbach macht das, was die Regie angesichts der intellektuell überbordenden Vorgaben Ferneyhoughs überhaupt noch zu leisten vermag: Er versucht, wenigstens an einzelnen Stellen Klarheit zu schaffen und nimmt sich ansonsten weitgehend zurück. In der Anfangsszene sind die verschiedenen Ebenen auch optisch angedeutet, und in der fünften Szene, Benjamins Begegnung mit historischen Gestalten, werden letztere als großformatige Karikaturen hereingefahren. Das Kammerkonzert der zweiten Szene ist mit Videosequenzen bebildert, worin man Bücher – auch brennende – sieht. Ansonsten positioniert er die Neuen Vocalsolisten als Chor, macht durch unterschiedliche Aufstellungen die Besetzung deutlich. In der Schlussszene öffnet er den Blick auf die Rückwand der Halle, aber der Bezug zum Aufführungsort bleibt unklar. Darin spiegelt sich das Grundproblem von Shadowtime wider: Wo Ferneyhough im Sinne eines opus summum alles gleichzeitig zeigen möchte, ist jeder noch so abwegige Quergedanke möglich.

Dass die Musik trotz ihrer Über-Komplexität anrührt, liegt an ihrer Sinnlichkeit und ihrem Farbreichtum. Sie ist „authentisch“, weil sie nicht mit tonalen Mitteln anbiedert und nicht mit Effekten malt, sondern aus sich selbst heraus entsteht. Dazu hätte es den Überbau der Oper nicht bedurft. Vielleicht liegt die Zukunft von Shadowtime nicht auf der Bühne, sondern, zerlegt in seine einzelnen Szenen, im Konzertsaal.


FAZIT
Brian Ferneyhough kappt die Leinen, die ihn am Theater verankern, und kaum mehr nachvollziehbar schwebt Shadowtime in intellektuell höheren Sphären. Bewegende Musik, aber nicht für die Bühne - besser sitzt man mit Libretto im Konzertsaal oder vor dem heimischen CD-Spieler.



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Jurjen Hempel

Regie
Frédéric Fisbach

Bühne
Emmanuel Clolus

Lichtdesign
Marie-Christine Soma

Kostüme
Olga Karpinsky

Dramaturgie
Benoit Resillot


Nieuw Ensemble Amsterdam

Neue Vocalsolisten Stuttgart

Klavier-Solo, Sprecher
Nicolas Hodges

Solo-Gitarre
Mats Scheidegger

Programmheft
Programmheft
(Gestaltung: Karl-Ernst Herrmann)



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