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Körper ohne Bodenhaftungvon Stefan Schmöe / Fotos von Ursula Kaufmann
Körper werden geschüttelt, als hingen sie gleich leblosen Marionetten an unsichtbaren Fäden. Wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte scheinen sie jede Schwere, jede Bodenhaftung verloren zu haben. Dennoch sind sie ständig in Bewegung, energiegeladen und unter höchster Spannung. Menschliche Züge haben die Tänzer in Alain Platels Choreographie VSPRS fast völlig abgelegt, werden zum Spielball unsichtbarer Kräfte, verrenken sich scheinbar völlig schmerzunempfindlich bis an die Grenze der Biegsamkeit, und sinken am Ende leblos zusammen.
Der Titel VSPRS geht auf das englische Wort Vespers, seiner Vokale beraubt, und letztendlich auf Claudio Monteverdis Marienvesper aus dem Jahr 1610 zurück. Platel und verwendet die Komposition Monteverdis aber nur als Steinbruch, als Material; Fabrizio Cassol, Saxophonist und Leader der belgischen Jazz-Band Aka Moon hat eine Jazz-Variation über Monteverdis Vesper konzipiert, in der zwar immer wieder die originale Musik durchschimmert, die sich mitunter aber auch weit bis in Free-Jazz-Sphären hinein entfernt. Neben Aka Moon (mit Saxophon, Bassgitarre und Percussin) setzt er das Ensemble Oltremontano mit je zwei Bassposaunen und Zinken ein, die für barocke Klangfarben stehen, sowie das Duo Tcha Limberger (Violone, Flöte) und Vilmos Csikos (Kontrabass), die Zigeunermusik einbringen. Von Monteverdis üppiger Vokalbesetzung mit Chor und diversen Solisten ist nur noch eine Sopranistin übrig geblieben. Diese sehr unterschiedlichen musikalischen Sphären durchdringen sich wechselseitig, und Cassol ist es gelungen, eine sehr eigenständige, faszinierende Musik zu erschaffen, die ihre verschiedenen Wurzeln nie verleugnet, sich aber autonom dagegen behaupten kann.
Platel blendet den kulturellen Hintergrund der Marienvesper konsequent aus. Ein Bezug auf den Text ist in der Choreographie nicht auszumachen. Das Fremdartige der Musik (dazwischen blitzen immer wieder vertraute Motive und Klänge auf) schafft einen Raum des Halb-Bewussten. Platel und seine Compagnie haben in der Entstehungsphase der sehr offenen Choreographie Filmaufnahmen von Menschen mit psychischen Erkrankungen gesehen, Bewegungsmuster daran studiert und womöglich auch in den Tanz integriert. In den Zuckungen, dem andauernden Zittern und den ständig wiederkehrenden krampfartigen Verrenkungen Abbilder von epileptischen Anfällen oder spastischen Krankheitsbildern sehen zu wollen greift jedoch zu kurz; vielmehr führen die Tänzer ihre Körper als pathologisch fremdbestimmte, unkontrollierte Objekte vor. So wirkt VSPRS wie eine trostlose alptraumhafte Sequenz, die den Betrachter ratlos und einigermaßen schockiert zurück lässt: Ein Verstehen scheint hier unmöglich. Dem entspricht auch das Bühnenbild, eine begehbare Skulptur aus ausgemusterter Unterwäsche. Darin die abgelegten Flügel von Engeln zu erahnen, wie es in der Werkeinführung hieß, hieße, dem Abend mehr Poesie zugestehen als er besitzt poetische (auch Trost bringende) Momente sind rar. Am ehesten kommt so etwas wie Poesie auf, wenn die Skuptur goldfarben aufleuchtet; allein bleibt auch hier der Grund für dieses Leuchten rätselhaft. Platels Tänzer sind auch der Kausalität enthoben
Die Choreographie besticht durch ihr immenses Tempo und die enorme Intensität. Die ausgezeichneten Tänzer bewältigen das sportliche Programm scheinbar mühelos. Die Verrenkungen lassen ein- um das andere Mal den Atem stocken. Es gibt viele akrobatische Elemente, und die Tänzer agieren oft als Kunstturner oder auch als Schlangenmenschen. Dadurch erhält der Abend aber auch ein oberflächliches Moment; zu oft scheinen die perfektionierten Bewegungsabläufe um ihrer selbst und der Show wegen abzulaufen. Das produziert eine Glätte, die der pathologischen Grundstimmung widerspricht.
VSPRS, obwohl in Bochum frenetisch und vielleicht allzu fraglos bejubelt, dürfte das Publikum spalten. Zu sehen war die Produktion bereits u.a. in Paris und Berlin (unter dem Titel Vespero, wo die Reaktionen teilweise stärker ablehnend ausfielen - siehe dazu unseren Bericht). Unstrittig dürften die musikalischen Leistungen sein. Die famose Sopranistin Maribeth Diggie überzeugt mit vollem und trotzdem leicht geführtem Sopran in den annähernd originalen Passagen der barocken Vorlage ebenso wie mit jazzigen Tönen oder Anklängen an osteuropäische Zigeunermusik oder den Fado. Die Barockspezialisten von Oltremontano überschreiten die Genregrenzen ebenso virtuos wie auf der anderen Seite Aka Moon, und Tcha Limberger beweist mit seiner Geige gleichermaßen individuelle und höchst nuancierte Ausdrucksfähigkeit wie Anpassung an das Ensemble gleiches gilt auch für Vilmos Csikos. Musikalisch ist VSPRS ein ebenso ungewöhnliches wie spannendes Ereignis, das schon des Hörens wegen den Besuch lohnt.
Ein beeindruckendes Werk; zwar geht es mitunter allzu sportlich zu, aber trotzdem musikalisch wie choreographisch ein Höhepunkt der RuhrTriennale. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Konzept und Regie
Musikalische Leitung
Bühne
Kostüme
Licht
Sound Design
Dramaturgie
Musikalische Dramaturgie
SolistenSopranMaribeth Diggle
Tänzer Programmheft (Gestaltung: Karl-Ernst Herrmann) Homepage der Ruhrtriennale weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2005 - 2007 Berichte von der Ruhrtriennale 2002 - 2004 (Intendant: Gerald Mortier) |
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