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Furcht und Zittern

Ein Singspiel von Händl Klaus (Text) und Lars Wittershagen (Musik)

Aufführungsdauer: ca. 1h 40' (keine Pause)

Eine Koproduktion der RuhrTriennale mit den Münchner Kammerspielen
Uraufführung im Salzlager der Kokerei Zollverein, Essen, am 12. September 2008

Logo: RUHRtriennale 2008

Das Grauen offenbart sich auf dem Spielplatz

von Stefan Schmöe / Fotos von Arno Declair

Eines Nachts steht bei Immobilienmakler Manfred Horni die Polizei vor der Tür: Er soll sein haus verlassen, weil nebenan ein Kinderheim gebaut wird. 10 Jahre zuvor war Horni wegen Pädophilie verurteilt worden, seinerzeit hatte er als Gesangslehrer viel mit Kindern gearbeitet. Jetzt holt ihn diese Vergangenheit ein: Er könnte, das Kinderheim permanent vor Augen, rückfällig werden – dabei bleibt offen, ob die Verurteilung damals überhaupt rechtens war.

Als Stoff für einen Tatort wäre der Stoff, sensibel inszeniert, vermutlich grimmepreisverdächtig. Der österreichische Schriftsteller und Dramatiker Händl Klaus hat aber keinen Fernsehkrimi, sondern ein „Singspiel“ daraus gemacht, und das ist nicht nur ein ebenso koketter wie ironischer Verweis auf eine gemeinhin als „harmlos“ eingestufte Gattung, sondern trifft ziemlich genau den Charakter des Werks. Um jeden Verdacht, hier solle einem schwierigen Stoff argumentativ zu Leibe gerückt werden, im Keim zu ersticken, ist der Dialogtext oft aufgebrochen und die einzelnen Silben auf die verschiedenen Darsteller verteilt, die ihn nun, eine virtuose Ensembleleistung, als Gemeinschaftswerk abspulen. Allein dadurch – das punktgenaue Platzieren der eigenen Silbe bringt eine klare Rhythmisierung mit sich - erhält dieser Text ein hohes Maß an Musikalität. Scheinbar naive Liedtexte, von Lars Wittershagen stilistisch irgendwo in einem weit gefassten Spektrum zwischen Kinderlied, Schlager und Jazz vertont, bekennen sich zur Gattung „Singspiel“. Das Verschwinden der Grenzen zwischen Kindlichkeit und Erwachsen sein ist dann auch Thema von Furcht und Zittern. Der Spielplatz ist der Ort, an dem sich menschlichen Abgründe offenbaren.


Vergrößerung in neuem Fenster Manfred (Jochen Noch), notdürftig bekleidet, und Gattin Anneliese (Caroline Ebner)

Man muss dieses Singspiel nicht als Vertonung eines vorgegebenen Librettos ansehen, sondern als Gemeinschaftskunstwerk von Dramatiker, Komponist und in diesem Fall auch des Regieteams (Sebastian Nübling und Ausstatterin Muriel Gerstner), mit denen Händl Klaus bereits in der Vergangenheit zusammengearbeitet hat. Die Bühne ist eine Zirkusarena, in der sich die Akteure der „klassischen“ Trennung von Sängern/Schauspielern und Instrumentalisten verweigern: Hier ist jeder alles gleichzeitig, wenigstens beinahe. Zwar gibt es, meist unsichtbar hinter der Bühne, eine vierköpfige Zirkuskapelle, aber die sieben Akteure auf der Bühne greifen immer wieder zum Instrument. Hinzu kommen die Kindersolisten des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz (von den zwölf im Programmheft genannten waren bei dieser Uraufführung tatsächlich nur elf auf der Bühne zu sehen), die wie Zirkuspferdchen, gleichzeitig aber allesamt kleine Erwachsene, durch die Manege getrieben werden und dazu viel zu singen haben – einige komplette Nummern auch solistisch. Das machen sie – wie überhaupt das gesamte Ensemble – großartig. Der Abend besticht vor allem durch seine perfekte choreographierte und gespielte Inszenierung.


Vergrößerung in neuem Fenster Ensemble

Klangbeispiel Klangbeispiel "Ich liebe dich" - Wiebke Puls (Polizistin Stefanie) und Paul Herwig (Polizist Martin)
(MP3-Datei)

Klangbeispiel Klangbeispiel "Zärtlich ist die Nacht" - Caroline Ebner (Anneliese) und Ensemble
(MP3-Datei)

Klangbeispiel Klangbeispiel "Piloten ist nichts verboten" - namentlich nicht genannter Kindersolist des Staatstheater am Gärtnerplatz
(MP3-Datei)

Dieser Manfred Horgi ist ein moderner Verwandter von Kafkas Josef K.; und mit dem Gestus der Elfenwelt und manchen motivischen Anknüpfungen an den Sommernachtstraum ist William Shakespeare ein weiterer, gänzlich anderer Ahnherr dieses Werks. Ein grundlegendes Prinzip ist das der permanenten Umdeutung: Durch einen einzigen Buchstaben etwa kann der in Silben aufgespaltene Text urplötzlich seine Bedeutung verlieren, oder szenisch wird aus dem Feuerchen, das der aus seinem Haus vertriebene Horni entfacht, urplötzlich das Lagerfeuer einer verspäteten und gut gelaunten Flower-Power-Truppe. Nichts ist so, wie es scheint; alles wird infrage gestellt – auch das ist ein Thema von „Furcht und Zittern“ (Der Titel geht auf die gleichnamige Schrift Sören Kierkegaards zurück). Das Stück arbeitet mit Bildern und Assoziationen, auch musikalischer Art, die eigentliche Geschichte bildet nur die Korsettstange dafür. Trotz starker Momente stellt sich auf die (mit rund 100 pausenlosen Minuten relativ kurze) Dauer auch Ermüdung ein, weil das Verfahren an sich irgendwann durchschaubar ist, so überraschend die Details im Einzelnen auch sein mögen.

Das Zentrum des Abends ist der großartige Jochen Noch, ohne dessen fulminante Darstellung des Manfred Horgi das Stück nicht funktionieren würde. Im ersten Teil steht er gänzlich unbekleidet und schutzlos da mit seinem massigen Körper und einem tieftraurigen Blick, der dem absurden Spiel den Halt gibt. Caroline Ebner als Gattin Anneliese ist eine Karikatur von Handtaschen behangebem Luxusweibchen; Wiebke Puls und Paul Herwig als verliebtes Polizistenpaar werden ebenso im Slapstick verankert wie das (gleichfalls verliebte) Pärchen Eberhard und Gert (im Programmheft als Reinigungspersonal ausgewiesen, auf der Bühne dagegen vornehmlich als Saxophonduo aktiv), dargestellt von René Dumont und Stephan Merki. Tanja Schleiff gibt die Pädagogin Wally als Mischung von Kindsfrau und Zirkusdompteurin, die den Kinderchor befehligt. Allesamt singen sie für Schauspieler ganz außerordentlich gut und spielen brillant. So richtig sein Thema findet der Abend dennoch nicht, zerfasert am Ende in ein paar fesche Nummern für die Kindersolisten, allesamt bravourös gesungen. Im Uraufführungspublikum saßen verdächtig viele Pärchen Anfang 40 mit Stofftieren, die frenetisch applaudierten: Verwandschaftliche Nähe zu den Kindersolisten ist der Begeisterung sicher förderlich. Der Rest des Publikums reagierte eher verhalten auf eine Aufführung, deren Veranstaltungsort - das Salzlager der Kokerei Zollverein - als Industriekulisse nur noch Folklore ist: Bei den Münchner Kammerspielen, die Furcht und Zittern koproduziert haben, ist das Singspiel wohl besser aufgehoben.


FAZIT

Ein flottes Scherzo von boshafter Grundierung, das man nicht gerade als unverzichtbar für die Ruhrtriennale bezeichnen möchte - aber es wartet immerhin mit ein paar hübschen postmodernen Überraschungseffekten auf und ist virtuos inszeniert und gespielt.




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Produktionsteam

Regie
Sebastian Nübling

Komposition und
musikalische Leitung
Lars Wittershagen

Bühne, Kostüme
Muriel Gerstner

Licht
Jürgen Tulzer

Ton
Viola Drewanz
Wolfram Schild
Frank Böhle

Dramaturgie
Julia Lochte

Chorleitung
Verena Sarré



Solisten

Manfred Horni
Jochen Noch

Anneliese, seine Frau
Caroline Ebner

Stephanie Meier, Polizistin
Wiebke Puls

Martin Kirchner, Polizist
Paul Herwig

Wally, Pädagogin
Tanja Schleiff

Eberhard und Gert, Reinigung
René Dumont
Stefan Merki

Kindersolisten des
Staatstheaters am Gärtnerplatz
Admayatesha von Abel
Hana Berger
Hanna Heier
Korbinian Heintze
Joshua Hofert
Johanna Krusche
Samuel Levermann
Daniel Niggemann
Bianca Novak
Dominik Novak
Josip Palavra
Laurenz Sachenbacher



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