Es ist schon eine
merkwürdige
Art des Wartens, die Rossini und sein Librettist Balloco sowohl dem
Publikum als auch den Personen der Handlung ihrer Oper „Il Viaggio a
Reims“ zumuten. Das Publikum wartet 2 1/2 Stunden nahezu vergeblich auf
die Entwicklung einer spannenden Opernhandlung und die Figuren warten
einen ganzen Tag darauf, endlich eine Reise antreten zu können,
die nie
stattfinden wird. Zweieinhalb Stunden lang passiert eigentlich nichts,
aber dennoch verlebt man einen höchst vergnüglichen
Opernabend.
Achtzehn Personen aus allen möglichen Regionen Europas, sehr
unterschiedlichen Temperaments und mit den absonderlichsten Interessen
treffen in einem Badeort aufeinander, um gemeinsam nach Reims zu
reisen, wo ein neuer König gekrönt werden soll. Ähnlich
wie bei Beckett
warten sie auf etwas, das niemals eintritt – die Abreise wird nicht
stattfinden. Die Angelegenheit hier wirkt allerdings weniger absurd als
vielmehr äußerst unterhaltsam. Statt sich voran zu bewegen,
kreist die
Handlung um die mehr oder weniger bedeutenden Sorgen dieser
Opernfiguren. Von Garderobeproblemen bis hin zu Eifersuchtsdramen
reicht das Spannungsfeld. Zum Trost für das Publikum reiht sich
wie an
einer Perlenschnur eine Bravourarie an die andere. Allein zehn
höchst anspruchsvolle Belcantopartien gibt es in dieser Oper. Auch
für
das Opernpersonal lösen sich natürlich am Schluss alle
Probleme in
Wohlgefallen auf und jeder darf beim abschließenden Jubelfest
noch
kräftig seinen patriotischen Gefühlen freien Lauf lassen. So
hat sich
für beide Seiten das Warten gelohnt.
„Der Hut ist wieder
da!“: Larissa Yudina bejubelt als Gräfin von
Folleville die Lösung ihres Problems
Dies gilt besonders auch
dann, wenn man diese Opernfarce in der Inszenierung des St.
Petersburger Mariinsky-Theaters erleben konnte, wie sie, dort
bereits 2005 herausgekommen, als spritziges
Sommervergnügen
nun den Kern der diesjährigen Sommerfestspiele in Baden-Baden
bildete.
Die Inszenierung von Alain Maratrat setzte auf komödiantische
Leichtigkeit und wurde dabei wirkungsvoll durch die phantasievolle
Garderobe der Protagonisten, entworfen von der Schweizer Modedesignerin
Mireille Dessigny, unterstützt. Bühnenbildner Pierre Alain
Bertola
hatte die Bühne durch einen Laufsteg ins Publikum verlängert
und ließ
das Orchester hinter den Akteuren Platz nehmen. Als dandyhafter Maitre
de Plaisir fungierte Dirigent Valery Gergiev, nachdem er durch den
Zuschauerraum das Theater betreten hatte. Mit Esprit und federnder
Leichtigkeit spielte das Mariinsky-Orchester auf, das an den anderen
Tagen mit wesentlich schwererer Kost aufzuwarten hatte. Dass die Musik,
obwohl sie aus dem Hintergrund kam, doch nicht in denselben
gedrängt
wurde, war der konzentrierten Leitung Gergievs gutzuschreiben. Ein
moussierender, leichter Rossini-Klang wurde auf der Hinterbühne
produziert und drang zumeist deutlich, jedenfalls beschwingt in den
Saal. Auch konnten die größtenteils fabelhaften
Sängerinnen und Sänger
(nur die italienische Diktion fiel manchen nicht so leicht) dadurch den
direkten Kontakt zum Publikum finden und mit vokaler Brillanz
unmittelbar glänzen. Mit großer Spielfreude nutzten diese
Gelegenheit
höchst präsent vor allem Olga Pudova als modenärrische
Gräfin und in
der Rolle der gestressten Hotelbesitzerin Anastasia Kalagina. Anfangs
waren die Herren nicht ganz so locker dabei, sich gleich auf diese Art
des rampenlosen Musiktheaters einzustellen, spielten sich aber mit der
Zeit auch frei.
Der Regie oblag es vor allem, der Situationskomik Raum zu lassen und
die Personen genussvoll zu karikieren. Dies gelang zumeist als subtile
Feinzeichnung, mit einigen Ausflügen in die Comedy. Hübsche
Effekte
wurden vor allem erzielt, wenn die obligaten Begleitinstrumente (Harfe,
Flöte) zu den Arien auf die Bühne zitiert wurden. Etwas
parodistische
Selbstironie auf das – hiermit mittlerweile wohl vergangene -
plüschige russische Opernpathos blitzte im Auftritt des
russischen Generals Libenskof auf (gut bei Stimme: Daniil Shtoda), der
auf einem lebendigen Pferd mit Pelzmütze und Wodkaflasche ins
Geschehen
einritt. Jedenfalls gingen der Regie während des kurzweiligen
Abends
die Einfälle nicht aus.
Musikalischer
Reiseleiter: Valery Gergiev öffnet den Vorhang zu
Rossinis Opera buffa
Gegenüber solchen sehr
diesseitigen Belustigungen, wie Rossini sie in seinem inspirierten
Einakter schildert, machte sich der zweite Abend der Sommerfestspiele
als extremer Kontrast aus. Denn hier ging es um die letzten Dinge. In
Verdis Requiem entfachte Gergiev mit seinen Musikerinnen und Musikern
ein wahrhaft dramatisches Feuer. Exzellent wurden sie dieser opernhaft
mitreißenden Musik gerecht und zogen das Publikum spürbar in
ihren
Bann. Gergiev hatte intensiv an den Feinheiten gearbeitet. Der
große
Atem und die apokalyptische Wucht dieser Endzeitmusik („Dies irae“)
fesselten unentrinnbar. Das Sängerquartett war vor allem
solistisch
überragend, im Ensemblegesang gelang ihnen die Abstimmung nicht
durchweg gleich überzeugend. Vor allem im Eingangsquartett
(„Requiem
aeternam“) sangen sie mehr neben- als miteinander, hörten noch zu
wenig
auf einander. Einzeln aber gelangen jedem beeindruckende Passagen, wie
Olga Borodina, die mit tiefengesättigter Mezzostimme
farbenreich
und wandlungsfähig den Wechsel vom objektiven Erzählbericht
(„Judex
ergo cum sedebit“) zum Ausdruck subjektiven Schuldgefühls („Quid
cum
miser tunc dicturus“) ergreifend gestaltete. Mit höllenschwarzem
Bass
mahnte Ildar Abdrazakov an die Schrecken des Jüngsten Gerichts
(„Mors
stupebit et natura“) und mit strahlender Höhe und lyrischer
Innigkeit
(„Ingemisco tanquam reus“) sang Sergei Semishkur die Tenorpartie. In
der Sopranpartie glänzte Viktoria Yastrebova mit leicht
ansprechender,
heller Tongebung. Der Chor des Mariinsky-Theaters zeigte
überzeugende
vokale Macht, blieb aber in der Aussprache des lateinischen
Textes zu undeutlich. Dennoch war es ein großer musikalischer
Abend.
Walküre, 1. Akt: Gary Lehman, Susan Foster und
René Pape mit dem
Mariinsky-Orchester unter der Leitung von Varey Gergiev
So überzeugend Gergiev
mit
dem Mariinsky-Orchester auch Verdi musizierte, so blieb bei Wagner doch
ein Rest von Zweifel zurück. Auch hier gelangen dramatische
Momente,
aber der große Fluss des Wagnerschen musikalischen
Erzählduktus wollte
sich ungebrochen nicht recht einstellen. Das „Lohengrin“-Vorspiel (1.
Akt) im ersten Konzertteil kam klangschön, aber mit wenig innerer
Spannung. Der Feuerzauber („Walküre“-Schluss) blieb verhalten und
sparsam im Klang. Nach der Pause sollte dann der 1.Akt der
„Walküre“
den Höhepunkt bilden. Ungünstig war die inhomogene
Sängerbesetzung,
denn dem überragenden René Pape standen mit Susan Foster
als Sieglinde
und Gary Lehman als Siegmund keine ebenbürtigen
Sängerpersönlichkeiten
zur Seite. So wurde die Rolle des Hunding, die René Pape
höchst
differenziert und expressiv gestaltete, zur Hauptfigur dieses Aktes.
Gary Lehman hatte stellenweise mit Intonationsproblemen zu kämpfen
und
Susan Foster vermochte die nötige Durchschlagskraft in der Stimme
nicht
durchgehend zu halten. Die vokale Kondition reichte bis zum
Schlussduett kaum aus. René Pape dagegen drang mühelos
durch - und dies
noch mit schöner Tongebung. Im Orchester kamen wichtige Details
nur
recht matt (Hunding-Motiv bei seinem Auftritt) oder zu wenig
ausgefeilt. Von der im Verdi-Requiem so geschliffenen Detailarbeit, war
hier nicht allzu viel zu spüren.
Obwohl der Abend unter dem Titel „Stars der Oper“ lief, war es also
hauptsächlich einer, der als strahlender Sängerstern
durchgehen konnte:
René Pape. Er hatte den Abend schon mit zwei Solonummern
beeindruckend
eröffnet – mit einer ergreifenden Gestaltung des Schlussmonologs
des
Boris Godunow aus Mussorgskys Operndrama sowie mit Wotans
Abschiedsmonolog aus „Walküre“. In beiden Stücken zeigte sich
Pape als
faszinierender Ausdruckssänger.
Anne-Sophie Mutter mit dem Mariinsky-Musikern im Konzert
für Violine
und Orchester von Sophia Gubaidulina
Im Mittelpunkt eines weiteren Konzerts
stand Anne-Sophie-Mutter, die das für sie komponierte
Violinkonzert der
tartarischen Komponistin Sophia Gubaidulina präsentierte. Mit dem
ihr
eigenen makellosen Klanggefühl, der kristallinen Klarheit ihres
Tons
und ihrer anscheinend mühelosen, stupenden Technik widmete sie
sich mit
Hingabe diesem hoch komplexen Werk. Die Komponistin hat die Solovioline
besonders dadurch exponiert, dass es keine weiteren hohen Streicher im
Tutti gibt. Das Konzert ist ein Dialog und stellenweise fast ein Kampf
zwischen der Sologeige, dem klangfarbenreichem Schlagwerk, den
Bläsern
(viel tiefes Blech) und den tiefen Streichern. Anne-Sophie Mutter hat
bekannt, noch nicht in alle Tiefen dieses Werks vorgedrungen zu sein,
ihre Interpretation war gleichwohl von einem intensiven
persönlichen
Ausdruckswillen geprägt. „In tempus präsens“ lautet der Titel
dieser
dramatisch wie meditativ anmutenden Musik und sie scheint die
Antagonismen unserer Gegenwart in musikalische Sprache fassen zu wollen.
Anderes hatte Liszt mit seiner „Dante-Sinfonie“ im Sinn. Hier schreitet
die Musik voran: vom Inferno („Lasst alle Hoffnung fahren!“) über
die
Läuterung des Fegefeuers (Purgatorium) bis zu einem
verklärenden
Magnifikat (von Liszt als „irdischer Abglanz“ an die Stelle von Dantes
himmlischem Paradies gesetzt) – Ausdruck der im Laufe seines Lebens
mehr und mehr gewachsenen tiefen Gläubigkeit des Komponisten. In
einer
zwingenden Interpretation boten die Musikerinnen und Musiker aus St.
Petersburg dieses selten zu hörende Werk unter der Leitung von
Valery
Gergiev und boten wiederholt eine überzeugende Probe
nuancenreichen
Spiels.
FAZIT
Fünf Tage mit vier
verschiedenen Programmen: Wieder einmal war es ein Dirigiermarathon, in
dem Valery Gergiev seinen Anspruch auf Vielseitigkeit demonstrierte.
Zwischen zahlreichen großen Momenten gab es auch weniger
Überzeugendes,
am wenigsten das Siegfried-Idyll, bei dem das große Orchester zu
schwerfällig reagierte. Trotzdem: Gergievs Engagement für
Baden-Baden
ist und bleibt ein großer Pluspunkt für das Festspielhaus.
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16. und 18. (besuchte
Aufführung) Juli 2010
Chor und Orchester des
Mariinsky-Theaters St. Petersburg
Musikalische Leitung:
Valery Gergiev
Gioachino Rossini
Il Viaggio a Reims
Dramma giocoso in einem Akt
Libretto von Giuseppe Luigi Balloco
Inszenierung
Alain Maratrat
Bühnenbild
Pierre Alain Bertola
Kostüme
Mireille Dessingy
Solisten
Irma Gigolaty
Anna Kiknadze
Larisa Yudina* / Olga Pudova
Anastasia Kalagina
Dmitry Voropaev
Daniil Shtoda
Edward Tsanga
Nikolai Kamensky
Ilya Bannik
Vladimir Moroz
Yuri Vorobiev
Dmitry Koleushko
Elena Sommer
Olga Legkova
Timur Abdikeev
Akademie für junge Sänger des Mariinsky-Theaters
* Alternativbesetzung
17. Juli 2010
Viktoria Yastrebova, Sopran
Olga Borodina, Mezzosopran
Sergei Semishkur, Tenor
Ildar Abdrazakov, Bass
Giuseppe Verdi
Messa da
Requiem
19. Juli 2010
Anne-Sophie Mutter, Violine
Franz Liszt
Dante-Sinfonie
Sofia Gubaidulina
In
tempus praesens.
Konzert für Violine und
Orchester
Richard Wagner
Siegfried-Idyll
Trauermusik aus Götterdämmerung
20.Juli 2010
Susan Foster, Sopran
Gary Lehman,Tenor
René Pape, Bass
Modest Mussorgsky
Ouvertüre zu Chowanschtschina
Schlussmonolog des Boris aus Boris Godunow
Richard Wagner
Vorspiel zum 1. Akt der Oper Lohengrin
Wotans Abschied und Feuerzauber aus Die Walküre
Erster Aufzug der Oper Die Walküre
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