Furiose Medea-Ausgrabung
Von Thomas Molke
/
Fotos von Jutta Missbach
Johann Christoph Vogel
hätte für die Weiterentwicklung der Reformoper eine bedeutende Rolle spielen
können, wäre er nicht bereits in seinem 32. Lebensjahr, noch bevor seine zweite
und letzte Oper Démophon 1789 in Paris eine umjubelte Uraufführung
erlebte, an einem hitzigen Gallenfieber gestorben. Vogels Verehrung für Glucks
in Paris hoch gehandelte Werke führten nicht nur dazu, dass er mit seinen
Kompositionen dem von ihm hoch verehrten Idol nacheiferte, sondern mit seinem großen
musikalischen Talent fand er auch eine eigene musikalische Sprache, die Glucks
Ideen weiterführte und Hector Berlioz veranlasste, seine Verdienste für die Oper
mit denen Webers und Beethovens auf eine Stufe zu stellen. In der französischen
Metropole plante man sogar, Vogel anlässlich des großen Erfolges seiner posthum
uraufgeführten zweiten Oper ein öffentliches Denkmal zu errichten, ein Vorhaben,
das in den Wirren der Revolution wohl unterging, wohingegen Démophon bis
ins 19. Jahrhundert fester Bestandteil im französischen Spielplan blieb. Dass
Vogel in Nürnberg das Licht der Welt erblickte und er seine erste Oper La Toison d'Or
Gluck widmete, hat man bei den
Internationalen Gluck-Opern-Festspielen zum Anlass genommen, diesen
"Nürnberger" Komponisten dem Vergessen zu entreißen.
Hervé Niquet mit Medea (Marie Kalinine, direkt
hinter ihm) und Hissiphile (Jennifer van Wanroij, dahinter)
Dass die Wahl dabei auf das bei der Pariser Uraufführung 1786 weniger
erfolgreiche Erstlingswerk Vogels fiel, mag unterschiedliche Gründe haben. Zum
einen sind in diesem Werk zahlreiche Anklänge an Glucks französische Opern
wiederzuerkennen. Des Weiteren passt der mythologische Medea-Stoff mindestens
zur Hälfte des diesjährigen Festspielmottos Gluck, Prag und die Antike.
Des Weiteren ist der Intendant des Staatstheaters, Peter Theiler, dafür bekannt,
mit großem Engagement die Wiederentdeckung vergessener Opernschätze zu fördern,
besonders dann, wenn er von der außerordentlichen musikalischen Qualität der
Stücke überzeugt ist. Auch die Live-Übertragung auf BR Klassik dürfte für die
Reputation der Festspiele nicht uninteressant gewesen sein. Warum man aber wieder
parallel mit dem Ballett Don Juan im Schauspielhaus und Ezio in
der Tiefgarage zwei Konkurrenzveranstaltungen laufen ließ, bleibt
unverständlich, zumal so, wie schon beim Konzert Les Pragois à Paris am Montag, einige Plätze im
Opernhaus leer blieben. Dabei hätte die Vorstellung in jeder Hinsicht ein
ausverkauftes Haus verdient.Gespielt wurde die
zweite Fassung von 1788. Die Geschichte erzählt einen Teil der
Argonautensage. Jason, der rechtmäßige Thronfolger von Iolkos in Thessalien, ist
von seinem Onkel Pelias nach Kolchis geschickt worden, um dort das goldene
Vlies, das Fell eines Widders, zu holen. Aietes, der König von Kolchis, stellt
Jason für die Herausgabe des Vlieses drei unmögliche Aufgaben. Die Tochter des
Königs, die Zauberin Medea, verliebt sich jedoch in Jason und ist bereit, gegen
ein Eheversprechen Jasons den Argonauten die Bewältigung der Aufgaben zu
ermöglichen. Jason verschweigt Medea bei seinem Versprechen allerdings, dass er
bereits mit Hissiphile, der Königin von Lemnos, verheiratet ist. Als Hissiphile ebenfalls in Kolchis erscheint und auf Medea trifft, verlangt Medea von
Jason eine Entscheidung. Da dieser nicht bereit ist, von Hissiphile zu lassen,
tötet Medea ihre Konkurrentin und will Jason bei der letzten Aufgabe nicht mehr
unterstützen. Als sie ihn allerdings im verzweifelten
Kampf mit den Riesen erblickt, wird sie vom Mitleid ergriffen und setzt erneut
ihren Zauber ein, so dass die Riesen sich gegenseitig töten. Jason erringt das
Vlies, doch weigert sich, Medea zu heiraten, weil sie seine Gattin getötet hat.
Medea verfolgt die abfahrenden Argonauten in ihrem Drachenwagen.
Schlussapplaus: von links: die große Sybille
(Jennifer Borghi), Medea (Marie Kalinine), Hervé Niquet, Jason (Jean-Sébastien
Bou) und Arcas (Martin Nyvall), dahinter: Le Concert Spirituel und der Opernhor
des Staatstheater Nürnberg
Musikalisch lässt diese Produktion aufhorchen, da man neben dem von Tarmo Vaask
gut einstudierten Opernchor des Staatstheaters und einigen Ensemble-Mitgliedern
hochkarätige Gäste für diese Produktion verpflichtet hat. Da ist zunächst einmal
Le Concert Spirituel zu nennen, ein Orchester, das der musikalische Leiter Hervé
Niquet 1987 als Ensemble für historische Aufführungspraxis gründete und das sich
seitdem für die Interpretation barocker Musik etabliert hat. Mit großem
Einfühlungsvermögen arbeitet Niquet mit seinem Ensemble die Vielschichtigkeit
der Partitur heraus, die bei allen Anklängen an Gluck durchaus schon erkennen
lässt, dass es sich hierbei um einen Vorläufer der Romantik handelt. Dabei
beeindruckt, mit welchem Pathos Vogels Musik die Emotionen der Sänger ausmalt
und wie er lautmalerisch den von Medea heraufbeschworenen Gewittersturm und den
anschließenden Kampf der Argonauten mit den Riesen auch ohne Inszenierung vor
dem inneren Auge des Zuhörers entstehen lässt. In großem Kontrast dazu steht der
Mord an Hissiphile, den Medea mit einem einzigen "meurs" ohne Musikbegleitung
durchführt. Judith von Wanroij stattet Jasons
Ehefrau Hissiphile mit einem warmen lyrischen Sopran aus und beeindruckt vor
allem in ihrer ersten Arie, in der sie um Jason fürchtet, der gerade mit den
Feuer speienden Stieren und den Drachenzähnen das Feld pflügen muss. Ihr weicher
Sopran steht in einem deutlichen Kontrast zur Zauberin Medea, macht dabei aber
auch stimmlich klar, wieso Jason diese Frau nicht verraten kann. Jean-Sébastien
Bou verfügt als Jason über einen kräftigen Bariton, dem man den mythischen
Helden durchaus abnimmt. Dabei kann seine Stimme es auch mit dem fulminant
aufspielenden Orchester aufnehmen und sich gegen den Chor der Argonauten
durchsetzen. In ihrem relativ kurzen Auftritt als große Sybille begeistert
Jennifer Borghi mit klarer Diktion und intensivem Ausdruck, so dass ihre
Prophezeiung im dritten Akt einen weiteren Höhepunkt der Oper darstellt. Auch
die beiden Ensemble-Mitglieder Hrachuhí Bassénz und Martin Nyvall überzeugen als
Medeas Schwester Calliope und Jasons Gefährte Arcas.
Medea (Marie Kalinine) mit Le Concert Spirituel
und dem Opernchor des Staatstheater Nürnberg
Star des Abends ist Marie Kalinine als Medea, die mit einem großartigen Mezzo
die Vielschichtigkeit der Figur in jeder Nuance ausleuchtet. So überzeugt sie
sowohl als verzweifelt liebende Frau, deren Töne aber nicht so weich klingen wie
die Hissiphiles, weil sie als Zauberin einfach wesentlich mächtiger ist, als
auch als rächende Furie, die teilweise selbst über ihre Grausamkeit und Härte
erschrickt. Kalinines Stimme verfügt über ein Potenzial, diese ganze Bandbreite
der Obsessionen kongenial zum Ausdruck zu bringen. Ihre größten musikalischen
Momente hat sie im zweiten Akt, wenn sie das Unwetter heraufbeschwört und
anschließend Hissiphile auf der Argo ersticht, und im dritten Akt, wenn sie,
nachdem sie Jason vor den Riesen gerettet hat, ihn regelrecht demütig anfleht,
sie mit nach Iolkos zu nehmen. Bei solchen Paradestücken für eine Sängerin
bleibt zu hoffen, dass diese Oper nach dieser Aufführung nicht wieder
vollständig in der Versenkung verschwindet. Das Publikum jedenfalls dankt den
Solisten und dem Orchester mit lang anhaltendem und frenetischem Applaus, der
auch dann noch nicht enden will, als selbst die Musiker schon die Bühne
verlassen haben.
FAZIT
Diese Ausgrabung stellt sicherlich musikalisch den Höhepunkt der diesjährigen
Gluck-Opern-Festspiele dar. Es bleibt zu hoffen, dass die CD dieser Aufnahme
dieses Werk bald einem breiteren Publikum zugängig machen und vielleicht das
eine oder andere Opernhaus überlegen lassen wird, dieses Werk einmal auf den
Spielplan zu setzen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Hervé Niquet Chor
Tarmo Vaask
Opernchor des
Staatstheater Nürnberg
Le Concert Spirituel
Solisten
Medea
Marie Kalinine
Calliope, ihre Schwester
Hrachuhí Bassénz
Hissiphile, Königin von Lemnos
Judith van Wanroij
Jason, Anführer der Argonauten
Jean-Sébastien Bou
Arcas
Martin Nyvall Die große
Sybille
Jennifer Borghi Zwei
Sybillen
Franziska Kern
Dominique Lepeudry
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Staatstheater Nürnberg
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