Veranstaltungen & Kritiken Musikfestspiele |
|
|
Im Licht des endenden und des beginnenden Tagesvon Stefan Schmöe / honorarfreie Fotos aus der Jahrhunderthalle sind für diese Produktionen leider nicht verfügbar
Ein Flötist in Alltagskleidung betritt den fast leeren Raum, der nur durch eine Linie aus Lehm parallel zur Zuschauertribüne von dieser abgegrenzt ist. Zunächst hört man nur seine Atemgeräusche. Dann beginnt er in der tiefen Lage und mit einem schier unendlichen Glissando schraubt sich dieser Ton nach und nach in die Höhe. l(élek)zem heißt dieses 1974 von István Matuz komponierte Stück (ein ungarisches Wortspiel, das sowohl ich lebe wie auch Seele beinhaltet). Michael Schmid spielt das bravourös. So beginnt Anna Teresa De Keersmaekers Tanzperformance En Atendent mit einer Studie über das Atmen, damit auch über das Leben, wohl auch über die Gefährdung des Lebens. Die Tänzer bilden eine figurale Skulptur, die sich auflöst, neu zusammensetzt; eine einzelne Tänzerin bewegt sich, das wirkt sehr zerbrechlich, in einer Art Storchenschritt. Überhaupt wirkt die Choreographie fragil, oft leicht und fast schwebend. Den musikalischen Rahmen bildet die ars subtilior, der kunstvolle Stil des 14. Jahrhunderts hier in sehr kleiner Besetzung: Eine Sängerin (Ollala Alemán mit warmem Timbre), Blockflöte (Bart Coen), Fidel (An Van Laetham). Die Choreographin bezieht sich aber auch historisch auf das 14. Jahrhundert, auf die Zeit des päpstlichen Exils in Avignon und der Gegenpäpste - eine der großen mitteleuropäischen Krisenzeiten. Bei der Uraufführung in Avignon (2010) war das sicher sehr viel stärker im Bewusstsein des Publikums verankert, in dieser Bochumer Aufführung geht dieser Kontext ein wenig verloren. Am stärksten bleibt sicher im Gedächtnis haften, mit welcher Virtuosität Anna Teresa De Keersmaeker mit nur acht Tänzerinnen und Tänzern den großen Raum immer wieder füllt, dazwischen Momente der Leere schafft, damit pulsierende Bewegungsmuster erzeugt und das keineswegs mit großer Geste, sondern sehr fein. Das freilich hat den Nachteil, das man etwa ab der Mitte der Tribüne Details nur noch mit Mühe erkennen kann ein wenig intimer dürfte der Raum dann doch sein. Der eigentliche Clou von En Atendent ist das Spiel mit dem verlöschenden Tageslicht das Stück ist für die Zeit des Sonnenuntergangs konzipiert, endet im Zwielicht, in dem die Tänzer nur noch schemenhaft zu erkennen sind. Als Gegenstück wird dann Cesena bei Sonnenaufgang gespielt, eine Umkehrung: Aus dem Zustand der Dämmerung gelangen die Tänzer zum hellen Tageslicht. Die große verglaste Westfront der Jahrhunderthalle ist da auf den ersten Blick eine grandiose Kulisse (das war sie schon einmal 2003 als Prospekt für Ilya Kabakovs Bühneninstallation zu Messiaens Saint Francoise d'Assise), und in der Tat sind die Lichtwirkungen frappierend, tauchen das Ensemble (und noch mehr die Industriearchitektur des Raums) in eine ganz wunderbare Farbigkeit. Allerdings drängt sich die Halle auch stark in die Rolle des eigentlichen Hauptdarstellers, der den Tanz klein (mitunter auch nebensächlich) erscheinen lässt. Das ist angesichts einer Thematik, die ja auch die irdische Begrenzung des Menschen programmatisch mitdenkt, nicht ohne Plausibilität, lenkt aber eben auch ab. Und Sonnenunter- und aufgang ist natürlich mehr als nur Lichtwechsel: In Avignon im Kreuzgang der Eglise des Célestines uraufgeführt, dürften Tagesende und Tagesanbruch unter freiem Himmel eben doch noch andere Qualitäten gehabt haben als in der imposanten Bochumer Industriehalle. Der Titel Cesena Tanzstück bei Sonnenaufgang spielt auf die italienische Stadt Cesena an, in der 1377 der spätere Gegenpapst Clemens VII. ein Blutbad anrichten ließ auch hier also der Bezug zum düsteren 14. Jahrhundert. In diesem Stück treten fast ununterscheidbar die Tänzer von De Keersmaekers Ensemble ROSAS mit den Sängern des auf alte Musik spezialisierten, die Grenzen zwischen Musik und Performance auslotenden Ensembles graindelavoix auf Sänger tanzen, Tänzer singen. Für das Konzept ist neben de Keersmaeker auch Björn Schmelzer, künstlerischer Leiter von graindelavoix, verantwortlich. Es gibt mehr Musik als in En Atendent (und zwar Vokalmusik des 14. Jahrhunderts, grandios gesungen, mitunter mit irritierenden Störungen), überhaupt ist Cesena dichter und handfester. Im Zentrum steht eine Szene, in der Tänzer wie Tote weggetragen, quasi bestattet werden so konkret wird En Atendent nie. Einziges Bühnenelement ist ein aus Sand gestreuter Kreis. Im Dunkel des Morgengrauens bildet das Ensemble zunächst einen Block, bewegt sich schwer. Allmählich löst sich die Formation auf, auch hier imponiert wieder die Raumbeherrschung. Am Ende im Sonnenlicht das in Bochum an diesem Morgen wegen Regenschauer mitgedacht werden musste wandelt sich sogar die schwarze Bekleidung zu dezenter Farbigkeit: Kleine Zeichen der Hoffnung. Die Ruhrtriennale darf sich gutschreiben, auch zu dieser ungewöhnlichen Tageszeit Beginn der Aufführung ist 5.20 Uhr auf großes Publikumsinteresse gestoßen zu sein, jedenfalls waren beide Vorstellungen ausverkauft. Das anschließende Frühstück gemeinsam mit den Mitwirkenden sollte eine besondere Form des Publikumsgesprächs werden, entpuppte sich aber als Fehlzündung wer um diese frühe Tageszeit schon zwei Stunden auf der Bühne getanzt und gesungen hat, mag nicht unbedingt mit einem (anders erschöpften) Publikum in einer fremden Sprache beim Frühstückskaffee plaudern, und so blieben die versprochenen Künstler einfach weg. Statt dessen mühte sich am Tisch des Rezensenten ein damit beauftragter Student der Theaterwissenschaft redlich, aber wenig informiert, ein Tischgespräch in Gang zu bringen. Das ist dann eine doch sehr schlichte Form, mit dem Publikum in Kontakt zu treten.
Das Tandem aus En Atendent bei Sonnenuntergang und Cesena bei Sonnenaufgang lässt sich nicht ohne Substanzverlust aus einem südfranzösischen Kloster in die Bochumer Jahrhunderthalle transformieren; ein spannendes Theaterereignis bleiben die faszinierenden Choreographien trotzdem. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
ProduktionsteamEn Atendant
Choreographie
Bühne
Kostüme
Gaderobe
Musikalische Leitung und Aufnahmen
Geige
Gesang
Flöte
Sound
Technik
TänzerBostjan AntoncicCarlos Garbin Cynthia Loemij Mark Lorimer Mikael Marklund Chrysa Parkinson Sandy Williams Sue-Yeon Youn Cesena
Konzept
Choreographie
Musikalische Leitung
Sound
Bühne
Kostüme
Gaderobe
|
- Fine -