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Strukturen und Unschärferelationenvon Stefan Schmöe / Fotos von Michael Kneffel © Ruhrtriennale
Das Wetter spielte nicht mit die erste der beiden Aufführungen von Levée des conflits (in etwa "Aufhebung des Konflikts", uraufgeführt bereits 2010) konnte in der kleinen Open-Air-Arena auf der Abraumhalde Haniel in Bottrop wegen einsetzenden Regens nur verkürzt gespielt werden, die (hier besprochene) zweite wurde komplett in den Lichthof der Berufsschule Bottrop verlegt. Was keine schlechte Lösung gewesen sein muss: Natürlich ist der nüchterne Zweckbau weit anders als der exponierte Platz auf der Halde keineswegs spektakulär, aber der von zwei Galerien umgebene Innenhof ohne feste Bestuhlung (ein paar Sitzkissen für den Boden, Stühle aus den Klassenräumen mussten reichen, ansonsten gab's Stehplätze) führten zu einer lockeren, ungezwungenen Atmosphäre Improvisation statt Event, das kommt der Choreographie von Boris Charmatz (im vorigen Jahr bereits mit enfant zu Gast bei der Ruhrtriennale) wohl auch eher entgegen. Zumal das Stück wunderbar an einen so völlig normalen, unspektakulären Ort ohne Theateratmosphäre passt.
Der klassische oder auch moderne Tanz mit seinem akademischen Formenrepertoire scheint weit weg in dieser Arbeit. Vielmehr sind die 24 Tänzerinnen und Tänzer in Charmatz' Ensemble eben auch ganz normale Leute in Alltagskleidung (gar nicht einmal so viel älter als die Schülerinnen und Schüler, die diesen Ort normalerweise bevölkern). Es entsteht ein direkter Bezug zum Publikum, auch dadurch, dass die Auftritte und Abgänge vom Rand, vom Publikum her, erfolgen.
Die Struktur von Levée des conflits scheint zunächst relativ klar. Eine Tänzerin betritt wie nebensächlich die Spielfläche, kniet sich hin und beschreibt mit der Hand imaginäre Kreise auf dem Boden. Nach etwa einer Minute ändert sie die Position, legt immer noch kniend, den Kopf auf den Boden und bewegt die Hüften. Eine geschätzte weitere Minute später folgt die nächste Figur, aufgerichtet schleudert sie die Arme um den Körper. So ergibt sich eine Sequenz von mitunter fast pantomimischen, kaum virtuosen Formen und Figuren, die im Wesentlichen das Bewegungsrepertoire des Stückes darstellt. Nach einer gewissen Zeit betritt der nächste Tänzer die Bühne, durchläuft dieselbe Sequenz von Figuren, sodass sich eine versetzte Überlagerung ergibt, fast wie in einem Kanon in der Musik nur dass die Taktung nicht gleich ist: Der Auftritt des jeweils folgenden Tänzers entspricht nicht exakt dem Wechsel der Figuren. So entsteht sehr schnell eine gewollte Unschärfe, aber auch diese ist nicht mathematisch exakt strukturiert, sondern vollzieht sich organisch in fließenden Übergängen.
In einem im Programmheft abgedruckten Interview weist Charmatz darauf hin, keine vollständige Perfektion im Sinne völlig identischer Bewegungsabläufe anzustreben. Seine Tänzer verwachsen nicht zu einem getriebeartigen Mechanismus, sondern bleiben Individuen mit allen nuancierten Abweichungen. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen Organisation und Freiheit. Je mehr Personen auf der Bühne sind, desto häufiger entstehen Abweichungen durch Beinahe-Zusammenstöße oder der Suche nach der freien Bahn, und auch diese Unschärfe hat in ihrer Ambivalenz aus Zufälligkeit und Planbarkeit System.
Bei 24 Tänzerinnen und Tänzern stellt sich für den Beobachter schnell die Frage, ob er eher einem einzelnem Tänzer folgt oder eher einer bestimmten Figur, die übergeben und weitergereicht wird oder sich ein aus wechselnden Details entstehendes Gesamtbild zusammensetzt. Auch dahinter steht die Frage von Individuum, Kommunikation und Gemeinschaft. (Es gibt übrigens nur eine einzige Figur, bei der die Tänzer direkt miteinander interagieren: Da fasst ein Tänzer seinen Nachfolger am Rücken und reißt ihn mehrfach zu Boden.) Aus der an sich einfachen Struktur erwächst dann eine faszinierende Vielschichtigkeit. Die stark collagenhafte Musik dazu scheint über weite Strecken nebenher zu laufen (überhaupt sind weite Passagen ganz ohne Musik), nur vereinzelt scheinen sich daraus Impulse für den Tanz zu ergeben.
Nachdem etwa die Hälfte des rund 90-minütigen Stücks einer großen Exposition der (wiederholt getanzten) Figurenreihe darstellt und wie zufällig arrangiert die gesamte Spielfläche ausnutzt, verdichtet sich das Geschehen räumlich zu einer Art großer Spiralbewegung. Die Bewegungsfiguren werden verkürzt, gleichzeitig teilweise wie in Zeitlupe verlangsamt. Allmählich wachsen die Figuren ineinander, es entsteht eine kurze Phase von Synchronität. Das Ensemble wandert das Ensemble an den Rand der Bühne, löst sich dann in ein großflächig angelegtes Muster auf, und für einen kurzen Moment kommt das Geschehen ganz zur Ruhe hier könnte, wollte Levée des conflits mit einer finalen pathetischen Geste schließen, aufhören, wäre tatsächlich an einem Zielpunkt angelangt. Charmatz freilich entscheidet anders, nimmt die Bewegung wieder auf und lässt die Tänzerinnen und Tänzer nach und nach ganz nebensächlich wieder abgehen. So unscheinbar, wie der Tanz begonnen hat, so unscheinbar endet er auch.
Levée des conflits ist ein sehr offenes Stück mit vielen Assoziationsmöglichkeiten, tänzerisch eher schlicht, dennoch in seiner Wirkung bewegend.
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Produktionsteam
Choreographie
Licht
Ton
Kostüme in Kollaboration mit
TänzerOr AvishayMattieu Barbin Eleanor Bauer Simon Tanguy Magali Caillet-Gajan Ashley Chen Sonia Darbois Peggy Grelat-Dupont Gaspard Guilbert Kerem Gelebek Christophe Ives Dominique Jégou Lénio Kaklea Jurij Konjar Élise Ladoué Catherine Legrand Maud Le Pladec Naiara Mendioroz Andreas Albert Müller Mani A. Mungai Élise Olhandéguy Qudus Onikeku Felix Ott Annabelle Pulcini Olga Dukhovnaya weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2012 - 2014 Homepage der Ruhrtriennale Berichte von der Ruhrtriennale 2009 - 2011 Intendant: Willy Decker) Ruhrtriennale 2008 Ruhrtriennale 2005 - 2007 (Intendant: Jürgen Flimm) Ruhrtriennale 2002 - 2004 (Intendant: Gerald Mortier) |
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