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Schweizer Freiheitsdrama in sieben StundenVon Thomas Molke / Fotos von Patrick Pfeiffer
Guillaume Tell (Andrew Foster-Williams, 2. von links) mit seiner Frau Hedwige (Alessandra Volpe) und seinem Sohn Jemmy (Tara Stafford) (rechts: der alte Melcthal (Nahuel Di Pierro)) Neben Schillers Freiheitsdrama Wilhelm Tell, das sich in der Übersetzung von Henry Merle D'Aubigné in Frankreich großer Beliebtheit erfreute, dürften Rossinis Librettisten Étienne de Jouy auch die französische Bearbeitung von Antoine-Marin Lemierre (1766) und Grétrys gleichnamige Oper von 1791 als Vorlagen gedient haben. So übernimmt er aus letzterem Werk die Hochzeitsfeierlichkeiten im ersten Akt, die bei Schiller fehlen. Weitere gravierende Unterschiede zu Schillers Drama stellen die Figuren der Mathilde und des Arnold dar, in dem Rossini den Sohn des alten Melcthal und Ulrich von Rudenz kombiniert. Während ersterer bei Schiller eher als eine Randfigur auftritt und letzterer zunächst auf der Seite der Habsburger steht und sich erst durch den Einfluss Berta von Brunecks den Schweizer Eidgenossen anschließt, ist es bei Rossini die Habsburger Prinzessin Mathilde, in die Arnold verliebt ist und deren Liebe ihn daran hindert, gegen die Habsburger Partei zu ergreifen. Erst als sein Vater, der alte Melcthal, von Geslers Soldaten ermordet wird, verbündet er sich im legendären Rütli-Schwur mit den Schweizer Eidgenossen gegen die Besatzer. Bei diesem Schwur ist in Rossinis Oper Tell übrigens anders als bei Schiller nicht nur anwesend, sondern übernimmt auch eine federführende Rolle. Die Ermordung Geslers erfolgt bei Rossini als reiner Akt der Notwehr, da Tell nach seiner Flucht aus dem Boot von Gesler verfolgt wird, während Tell bei Schiller Gesler in der berühmten hohlen Gasse auflauert. Tell (Andrew-Foster-Williams, rechts), Arnold (Michael Spyres, Mitte) und Walter Furst (Nahuel Di Pierro, links) verbünden sich gegen die Habsburger Fremdherrschaft. Ein Grund für die zahlreichen Änderungen und Kürzungen des Werkes seit der Uraufführung dürften die Ballettmusiken sein, die zwar für die Form der Grand Opéra zwingend vorgeschrieben waren, dem Handlungsablauf allerdings bisweilen entgegenstanden. Jochen Schönleber findet in seiner Inszenierung einen Weg, diese Instrumentalstücke mit sechs Tänzerinnen und Tänzer inhaltlich passend einzubauen. So vermittelt der Hochzeitstanz im ersten Akt in seiner Einfachheit eine ländliche Idylle und friedliche Atmosphäre, die jäh vom Auftritt des Schäfers Leuthold unterbrochen wird, der auf der Flucht vor Geslers Soldaten ist, weil er seine Tochter vor einem zudringlichen Knecht beschützt hat. Wie Schönleber hier die ausgelassene Hochzeitsfeier durch den Auftritt von Geslers Soldaten in ein Horrorszenarium kippen lässt, in dem die Soldaten nicht nur den alten Melcthal brutal zusammenschlagen, sondern auch das rebellierende Volk unterdrücken, ist mit dem spielfreudigen und umfangreich besetzten Camerata Bach Chor hervorragend in Szene gesetzt. Auch für die Divertissements im dritten Akt wählt Schönleber einen stimmigen Ansatz. Die teilweise lustlosen Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer beim melodisch leichten Pas de trois zum Chœur tyrolien stehen zwar im Gegensatz zur Musik, machen allerdings deutlich, dass den Schweizern unter dieser Fremdherrschaft wirklich nicht nach Tanzen zumute ist. Die Schweizer (Camerata Bach Chor) mit Tell (Andrew Foster-Williams, vorne Mitte) und Arnold (Michael Spyres, vorne links) beim legendären Rütli-Schwur Auch die Ouvertüre wird von Schönleber in Szene gesetzt. Mathilde und Gesler lauschen auf rot gepolsterten Stühlen den ersten Cello-Klängen der Ouvertüre wie in einem Konzert. Während Gesler immer wieder versucht, Mathildes Hand zu berühren, weist diese ihn ab und blickt sich verstohlen nach einem jungen Mann um, der ebenfalls bei diesem "Konzert" anwesend ist: Arnold. Wenn dann beim Allegro die Tänzerinnen und Tänzer mit Schildern die Maxime der französischen Revolution propagieren und von den Soldaten brutal niedergeknüppelt werden, läuft dieses Geschehen an Mathilde und Arnold vorbei, die sich währenddessen verliebt in die Augen sehen. Damit motiviert Schönleber, wieso Arnold sich zunächst aus dem politischen Konflikt heraushält und erst durch den Tod seines Vaters seine Meinung ändert. Das Bühnenbild von Robert Schrag ist recht flexibel gehalten und bietet den großen Massenszenen auf der ziemlich kleinen Bühne genügend Spielraum. Eine leicht abstrakte Bergwelt rahmt auf den Seiten die Bühne ein. Nach hinten gewinnt der Raum durch zwei graue Wände, die geöffnet werden können, eine unglaubliche Tiefe. Auch der Zuschauersaal wird mitbespielt, wenn beispielsweise die Schweizer Eidgenossen aus den unterschiedlichen Kantonen zum legendären Rütli-Schwur im zweiten Akt zusammenkommen. Mathilde (Judith Howarth) und Arnold (Michael Spyres) Auch wenn Schönlebers Konzept in weiten Teilen überzeugen kann, wird nicht jeder Regie-Einfall nachvollziehbar. Den Rütli-Schwur als bürokratischen Akt zu inszenieren, bei dem jeder einen finanziellen Beitrag leistet und anschließend einen gestempelten Mitgliedsausweis erhält, ist als ironische Brechung der Szene sicherlich entbehrlich. Des Weiteren ist diskutabel, ob Gesler seinen Hut über einem verkehrt herum angebrachten WC aufhängen muss. Zwar gewinnt der Moment der Demütigung des Volkes an Gewicht, wenn es sich vor einem Toilettenstuhl verbeugen muss, aus dem der Unrat gewissermaßen herausläuft. Dennoch wirkt diese Idee ein wenig zu plakativ. Beeindruckend wird hingegen der Apfelschuss in Szene gesetzt. So schießt Tell mit der Armbrust nur scheinbar, während der Pfeil von hinten durch den an der Wand befestigten Apfel durchgestoßen wird. Auch Tells Fahrt über den Vierwaldstätter See im vierten Akt wird hinter einem weißen Tuch spannend in Szene gesetzt. Mit wankenden Bewegungen kämpft man scheinbar gegen den Sturm an, bis Tell der rettende Sprung ans Ufer gelingt. Warum allerdings auf dem weißen Tuch ein Schwarz-Weiß-Film mit dem russischen Panzerkreuzer Potemkin läuft, den die Schweizer Frauen aufgeregt auf weißen Plastikstühlen verfolgen, bleibt unklar. Da hätte das naturalistische Wogen des Meeres für die Spannung der Szene völlig ausgereicht. Musikalisch bewegt sich die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Zu nennen ist hier zunächst einmal der von Ania Michalak hervorragend einstudierte Camerata Bach Chor, der zusammen mit seiner Chorleiterin an diesem Abend Unglaubliches leistet. Die Choristen überzeugen nicht nur durch einen fulminanten Gesamtklang in den Massenszenen, sondern zeigen auch tänzerisch und darstellerisch großes Potenzial. Andrew Foster-Williams ist stimmlich und optisch eine Idealbesetzung für den Schweizer Freiheitskämpfer. Mit großem Bassbariton stattet er den Tell als furchtlosen Helden aus, der dann allerdings vor und nach dem Apfelschuss väterliche Schwäche zeigt. Alessandra Volpe begeistert als seine Frau Hedwige mit voluminösem Mezzo. Tara Stafford verfügt als Tells Sohn Jemmy über einen jugendlichen Sopran. Judith Howarth stattet die Mathilde mit dramatischem Sopran aus. Besonders bewegend gelingt ihre große Arie "Sombre forêt" im zweiten Akt, wenn sie sehnsüchtig auf Arnold wartet. Michael Spyres glänzt in der anspruchsvollen Partie des Arnold mit atemberaubenden Spitzentönen, ohne dabei zu pressen oder angestrengt zu wirken. Dass man diesen Tenor hier in Bad Wildbad verpflichten konnte, dürfte der Tatsache zu verdanken sein, dass Spyres' große Karriere hier mehr oder weniger seinen Anfang genommen hat. Auch die kleineren Partien sind mit Nahuel Di Pierro als Melcthal und Walter Furst, Raffaele Facciolà als Bösewicht Gesler, Giulio Pelligra als Rodolphe, Artavazd Sargsyan als Fischer Ruodi und Marco Filippo Romano als Schäfer Leuthold und Habsburger Jäger hervorragend besetzt. Das Orchester Virtuosi Brunensis läuft unter der Leitung von Antonino Fogliani nach dem Parforceritt der letzten Tage noch einmal zur Höchstform auf, wofür sich Fogliani bereits vor der Vorstellung beim Orchester (und auch beim Chor) bedankt. So gibt es am Ende frenetischen Applaus für alle Beteiligten, und man hat nach den über sieben Stunden Dauer nicht das Gefühl, mit Ausnahme der langen Pausen irgendwelche Zeit verschenkt zu haben.
FAZIT Die CD-Aufnahme dieser Produktion sollte man sich nicht entgehen lassen, weil sie zum einen musikalisch keine Wünsche offen lässt, zum anderen in dieser Vollständigkeit noch in keinem CD-Regal zu finden sein dürfte.
Weitere Rezensionen zu Rossini in
Wildbad 2013 |
ProduktionsteamMusikalische LeitungAntonino Fogliani Inszenierung Choreographie Bühne Kostüme Licht Chor
Virtuosi Brunensis Camerata Bach Chor
SolistenGuillaume Tell, Schweizer Eidgenosse
Arnold Melcthal, Schweizer Eidgenosse
Walter Furst, Schweizer Eidgenosse Melcthal,
Vater von Arnold Jemmy, Sohn von Guillaume Tell Gesler, Landvogt der Kantone Schwyz und
Uri Rodolphe, Anführer der
Bogenschützen Geslers Ruodi, Fischer Leuthold, Schäfer Mathilde, Prinzessin aus dem
Hause Habsburg Hedwige, Gattin von Guillaume Tell Un Chasseur Corps de Ballet
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