Hinter unsichtbaren Wänden
Von Roberto Becker
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Foto von Pascal Victor
Die für den zweiten Festival-Abend in Aix-en-Provence vorgesehene Premiere war
eine Neuinszenierung von Georg Friedrich Händels Ariodante. Sie geriet
unversehens zu einer Art partieller Uraufführung. Es gab wieder Proteste der "Intermittents".
Aber diesmal verlief das Ganze nicht so friedlich wie am ersten Tag. Eine aus
Marseilles angereiste, militante Gruppe versuchte die Vorstellung im Théâtre de
l’Archevêché, das romantisch im Innenhof des erzbischöflichen Palastes, also
unter freiem Himmel liegt, zunächst zu verzögern, in dem man die Zuschauer beim
Einlass behinderte. Als es drinnen zum Aufmarsch der Techniker und Beleuchter
auf der Bühne ein zugespieltes Statement von Edwy Plenel gab, protestierten
einige Zuschauer ihrerseits gegen den Protest, so dass der Intendant Bernard
Foccroulle seinerseits um Ruhe bitten musste.

"Ouvertüre" vor der Ouvertüre: Die
aufmarschierten Techniker und Beleuchter verlesen ein Statement. (Foto von
Roberto Becker)
Als endlich im Graben die Ouvertüre und auf der Bühne ein stummes Vorspiel
begannen, setzte auf dem Vorplatz ein Höllenlärm ein, der den gesamten ersten
Akt lang andauerte. Wie sich herausstellte war die eine kurze Pause, die vor dem
ersten Auftritt Ariodantes unplanmäßig eingelegt werden musste, darauf
zurückzuführen, dass die Sängerin der Titelpartie von einigen Eindringlingen am
Auftritt gehindert werden sollte. Zu dieser recht beklemmenden Situation passte
es, dass man das Riesen-Eingangstor des Theaters in beiden Pausen verschlossen
hielt. Man wäre zwar raus, aber aus Sicherheitsgründen nicht wieder hinein
gekommen. Oper, die nur unter Polizeischutz laufen kann - das ist eine
Horrorvorstellung für den Festivalchef und wohl auch für die Besucher, die
immerhin bereit sind, bis zu 250 € für eine Karte auszugeben.
Für diese Vorstellung verdienen Andrea Marcon, das Freiburger Barockorchester
und alle Protagonisten schon allein für die Nervenstärke, die sie allesamt in
dieser Situation bewiesen und mit der sie sich trotz allem auf ihr Kerngeschäft
konzentrierten, einen Sonderrespekt. Wobei Marcon, anders als Mark Minkowski
(der unter den Zuschauern war, weil dessen Turco in Italia eigentlich für
den nächsten Abend auf dem Programm stand), bei seiner Quasi-Wiederentdeckung
des Ariodante in Amsterdam, sehr auf das Besinnliche, Lyrische setzte und
weniger mit dem Furor der in dieser Oper besonders zahlreichen, hitverdächtigen
Arien glänzte.

Hier ist die Welt noch in Ordnung: Ginevra
(Patricia Petibon, Mitte), während Ariodante (Sarah Connolly, links) mit seinem
künftigen Schwiegervater (Luca Tittoto, rechts) die Hochzeit bespricht
Unter
den Freiluftbedingungen, die im zweiten Akt „nur“ noch durch einen kleinen
Sabotage-Alarm und im dritten durch aufkommenden Mistral angereichert wurden,
ist das besonders heikel, weil sich da die Vorzüge dieses musikalischen
Nachschmeckens weit weniger entfalten können, als es in einem geschlossenen
Theatersaal möglicherweise der Fall wäre. Vielleicht auch, um das auszugleichen,
setzten die Protagonisten auf ein Maß von Emotionalität, das fast schon den
barocken Rahmen der Musik sprengte. Vor allem Patricia Petibon in der Rolle der
böse verleumdeten Ginevra und Sarah Connolly als Ariodante legten so viel Verve
und Gefühl in ihre Rollenporträts, dass sie damit deutlich übers barocke Maß
hinauswiesen. Sie beeindruckten denn auch vor allem durch ihre risikobereite
Rückhaltlosigkeit. Sandrine Piau allerdings, die als Dalinda in den Bösewicht
des Stückes verliebt ist und ihm willig ihre Gestalt in den Kleidern Ginevras
leiht, um Ariodantes Braut des Fremdgehens zu bezichtigen, blieb hochvirtuos im
stilistischen Rahmen und erinnerte mit jeder ihrer Arien daran, wie man
Koloraturgesang mit der vokalen Imagination von Affekten verbindet.
Problematischer war vor allem der Polinesso von Sonia Prina. Sie spielte den
durchtrieben hinterlistigen und bei Dalinda sogar zu sexueller Gewalt neigenden
Finsterling ganz ausgezeichnet, bei ihren Koloraturen freilich blieb die Grenze
zur Parodie immer in Sichtweite. Wobei die Steigerung im dritten Akt dann
wenigstens zur Ehrenrettung wurde.
Händel hat ja einer seiner verführerischsten Arien, das "Dopo Notte", mit dem
Ariodante, den Weg zum lieto fine einleitet, als Bonbon ziemlich weit hinten
platziert. Bei der Generalprobe kam man wegen des für Aix-en-Provence zum Glück
seltenen nächtlichen Regens gar nicht bis dahin. Am Ende der Premiere
ignorierten Marcon und seine Musiker die paar auch hier fallenden Regentropfen
zum Glück und spielten durch. "Dopo Notte" – nach solchen Nächten, der rechte
Lohn für alle. Auch für das Regieteam. Richard Jones knüpfte mit seiner Regie
zwar nicht an die verstörend ungewöhnliche Machart seiner Beiträge zur Münchner
Händelrenaissance an. Er verortete das Personal aus schottischer Königsfamilie (Ginevra
und ihr Vater), Herzog (Polinesso) und kühnem Ritter (Ariodante nebst Bruder)
nicht im adligen, sondern einem eher bürgerlichen Seefahrer- oder
Jäger-Ambiente. Drei großgemustert tapezierte Innenräume liegen nebeneinander.
Polinesso hat für sein Schmierentheater ein Predigergewand über der
Alltagskleidung, die gut von heute sein könnten. Den König erkennt man am
würdigen Bart und dem Schottenrock. Von den unsichtbaren Zwischenwänden und
Türen gibt’s nur die Türklinken, was einen hübsch verfremdenden running gag bei
den Auf- und Abtritten von Protagonisten und Chor ergibt. Wenn im ersten (im
Stück und auf der Bühne) verdächtig harmonisch verlaufenden Akt die
bevorstehende Hochzeit von Ginevra und Ariodante vorbereitet wird, gibt es auf
der langen Tafel ein hübsch verdoppelndes Marionettenspiel, das zum allgemeinen
Vergnügen die Hochzeitsnacht und den bevorstehenden Kindersegen vorspielt. Bei
der zweiten Ballettmusik, die Ginevra in tiefster Verzweiflung als Verstoßene
zeigt, die durch ihre angeblich Untreue am vermeintlichen Tod des Helden schuld
sein soll, gibt es wieder ein Puppenspiel. Mit einer Ginevra Puppe wird da von
der bigotten Gemeinde der soziale Abstieg vor- oder nachgespielt. Die bis eben
noch hoch Angesehene wird zur Straßennutte gemacht.
Zum lieto fine nimmt Jones dieses Bild noch einmal auf. Diesmal packt die reale
Ginevra ihren Koffer und steigt aus dieser Geschichte aus. Sie steht am Ende als
Anhalterin an der Rampe. Und man wünscht ihr alles Gute in einer besseren Welt.
Was die Sängerin Patricia Petibon betrifft, so gehört zu deren Zukunftsplänen
auch die Alcina, mit der im nächsten Jahr (wenn nicht wieder irgendein
lautstarker französischer Wutausbruch dazwischen kommt) ein kleiner Händelzyklus
installiert werden soll. Da wird sie dann als Herrscherin im Reich der Liebe
Philipe Jaroussky als ihren Ruggerio behexen.
FAZIT
In Aix-en-Provence wurde die Premiere von Händels Ariodante mit
Nervenstärke, einer klugen Inszenierung und auch vokalen Glanzlichtern ziemlich
widrigen Umständen abgetrotzt.
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