Ein bisschen Gluck, ein bisschen Wagner
Von Thomas Molke
/
Fotos von Ludwig Olah
Auch wenn Richard Wagner
sich im späteren Verlauf seines Lebens immer mehr von seinen ursprünglichen
Vorbildern Mozart, Gluck und Weber distanzierte und in Glucks Reformen nur noch,
wie er es selbst formulierte, "Emanzipationsversuche des Künstlers gegen die
Willkür des Sängers" sah, unterbrach er 1847 während seiner Zeit als
sächsisch-königlicher Hofkapellmeister seine Komposition des dritten Aktes des
Lohengrin, um für die Dresdner Hofoper eine deutsche Fassung von Glucks
Iphigénie en Aulide zu schaffen, jenem Werk, das 1774 in Paris den
folgenschweren Opernstreit ausgelöst hatte. Diese Version hielt sich lange Zeit
auf den Spielplänen, bis sie durch den Trend zur historischen Aufführungspraxis
in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts zugunsten des französischen
Originals wieder von den Spielplänen verschwand. Bei den Internationalen
Gluck-Opern-Festspielen hat man sich nun entschieden, diese Bearbeitung in
einer konzertanten Aufführung an den Beginn des diesjährigen Festivals zu
stellen, um anlässlich des 300. Geburtstags Glucks daran zu erinnern, welche
Auswirkungen seine Reformen auch auf überragende Komponisten des 19.
Jahrhunderts gehabt haben. Auch Gisela von Wysocki, die zu Beginn der Aufführung
einen ca. halbstündigen Vortrag über die Bedeutung Christoph Willibald Gluck für
die Nachwelt zum Festival-Thema "ReForm und ReVision" hält, unterstreicht diesen
Aspekt. Dass der Abend allerdings mit über drei Stunden für die Oper relativ
lang ausfällt, ist weniger dem Vortrag als vielmehr der Tatsache geschuldet,
dass nach jedem Akt eine Pause eingelegt wird. Soll dies eine Hommage an Richard
Wagner sein, bei dessen Werken die zwei Pausen Usus sind? Ansonsten lassen sich
bei den relativ kurzen Akten die beiden Einschnitte nämlich kaum erklären.

Gisela von Wysocki bei ihrem Festvortrag zur Eröffnung der Internationalen Gluck-Opern-Festspiele
Die Geschichte greift zurück auf ein Drama von Euripides, das Jean Racine ins
Französische übertragen hat, und steht am Beginn des Trojanischen Krieges. Die
Flotte der Griechen liegt im Hafen von Aulis, um nach Troja aufzubrechen und die
geraubte Helena zurückzuholen. Doch die Göttin Artemis ist verärgert und
verhindert mit einer Windstille den Aufbruch der Schiffe. Zur Besänftigung
verlangt sie durch den Priester Kalchas die Opferung Iphigenies, der Tochter des
griechischen Heerführers. Diese ist mit ihrer Mutter Klytemnestra auf dem Weg
nach Aulis, um dort mit Achilles vermählt zu werden. Agamemnon ersinnt eine List
und schickt den Boten Arkas, um Iphigenie mit einem Bericht über Achilles'
vermeintliche Untreue zu bewegen, nach Mykene zurückzukehren. Doch der Bote
verfehlt Mutter und Tochter und überbringt die Nachricht erst, als Iphigenie
bereits im Lager der Griechen angekommen ist. Achilles kann die gegen ihn
formulierten Beschuldigungen von sich weisen, und beide sehen einer glücklichen
Vermählung entgegen, bevor sie von der geplanten Opferung erfahren. Während
Achilles den Opfertod seiner Braut durch Gewalt verhindern will und auch
Agamemnon und Klytemnestra das eigene Kind retten wollen, fügt sich Iphigenie in
ihr Schicksal und will dem Verlangen der Gottheit nachgeben. Da erscheint
Artemis höchstpersönlich und bringt Iphigenie in ein fernes Land, auf die Insel
Tauris, wo sie fortan als Priesterin dienen soll.

Philippe Auguin mit der Prague Philharmonia und
dem Philharmonischen Chor Nürnberg
Richard Wagner hat nicht nur den Auftritt der Göttin am Ende eingefügt, sondern auch die Vor-, Zwischen- und Nachspiele neu komponiert und rückt
Glucks Werk damit näher an ein Musikdrama. Besonders deutlich wird dies in der
Ouvertüre und im Finale. Bei dem aufbrausenden Sturm, der in der Ouvertüre
anklingt, fühlt man sich bisweilen an den fliegenden Holländer erinnert,
und auch im Finale, wenn Iphigenie nach Tauris entrückt wird, atmet die Musik in
ihrer leitmotivischen Dramatik den Geist eines frühen Wagner. Des Weiteren rückt
Wagner die Titelpartie musikalisch mehr ins Zentrum des Geschehens und macht aus
ihr eine Leidensfigur, die in ihrer Aufopferungsbereitschaft einer Senta
durchaus gleichkommt. Leider wird bei dieser konzertanten Aufführung auf eine
Übertitelung verzichtet. Die Textverständlichkeit lässt allerdings, besonders
was den Philharmonischen Chor Nürnberg betrifft, stark zu wünschen übrig. Ob
dies der Akustik geschuldet ist, da der Chor weit hinten auf der Bühne im
Schauspielhaus hinter dem Orchester positioniert ist, oder dadurch zu begründen
ist, dass man sich als Zuhörer mittlerweile auch bei deutschen Opern an das
Lesen der Übertitel gewöhnt hat, lässt sich wahrscheinlich nicht eindeutig
beantworten. Für eine ungünstige Akustik spricht die Tatsache, dass der Chor
stellenweise sehr leise, im Zuschauerraum ankommt, was das Textverständnis
weiter erschwert.

Schlussapplaus: von links: Julian Orlishausen
(Heerführer), Thilo Dahlmann (Arkas), Wilfried Zelinka (Kalchas), Bianca Koch (Artemis), Philippe Auguin, Claudia Sorokina (Iphigenie), Florian Plock (Agamemnon), Marina
Prudenskaya (Klytemnestra) und Endrik Wottrich (Achilles), dahinter Prague Philharmonia und der Philharmonische Chor Nürnberg Doch auch die Solisten-Riege
kann nicht auf ganzer Linie überzeugen. Endrik Wottrich verfügt als Achilles
zwar über einen stählernen, baritonal eingefärbten Tenor, der in den Höhen
allerdings sehr schnell an seine Grenzen stößt und stark belegt klingt.
Besonders deutlich wird dies im zweiten Akt, wenn Achilles erfährt, dass seine
geliebte Iphigenie geopfert werden soll. Die hohen Töne, mit denen Achilles
seinen Zorn über diese Entscheidung zum Ausdruck bringt, klingen bei Wottrich
arg gequetscht, und man hat Sorge, dass er das folgende Duett mit Agamemnon
stimmlich nicht durchhält. Auch im dritten Akt, wenn Achilles seiner Braut
seinen Schutz zusichert und er im Kampf die Geliebte vor der Opferung
verteidigen will, sind seine Kraftreserven schnell aufgebraucht. Florian Plock
verfügt als Agamemnon über einen weichen Bariton, dem stimmlich die
erforderliche Autorität für den griechischen Anführer fehlt. Dagegen besitzt
Wilfried Zelinkas Bass in der Partie des Priesters Kalchas wesentlich mehr
Durchschlagskraft. Thilo Dahlmann überzeugt in der recht kleinen Partie des
Arkas mit kräftigem Tenor.Etwas besser verhält es sich bei
den Sängerinnen. Claudia Sorokina stattet die Titelpartie mit einem größtenteils
sehr textverständlichen, warmen Sopran aus, der die Leidensbereitschaft
Iphigenies unterstreicht. Besonders deutlich wird dies im dritten Akt, wenn sie
sowohl Achilles als auch Vater und Mutter von sich weist und sich bereitwillig
in ihr Schicksal fügt. Marina Prudenskaya verfügt als Klytemnestra über einen
voluminösen Mezzo, dem in den dramatischen Ausbrüchen allerdings die
Textverständlichkeit verloren geht. Dennoch lassen sich ihre beiden "Rachearien"
im ersten Akt, wenn sie von der vermeintlichen Untreue Achilles erfährt, und im
dritten Akt, wenn sie ihren Zorn über Iphigenies Opferung zum Ausdruck bringt,
als musikalische Höhepunkte der Aufführung bezeichnen, auch wenn ihnen der vom
musikalischen Leiter Philippe Auguin scheinbar einkalkulierte Szenenapplaus
vorenthalten bleibt. Als einzige inszeniert Bianca Koch ihren Auftritt als
Artemis, indem sie am Ende zwischen den Chor tritt und aus dem Hintergrund ohne
Textbuch die Entscheidung der Göttin verkündet, auf das Opfer zu verzichten und
Iphigenie stattdessen nach Tauris als ihre Priesterin zu entrücken. Die Prague
Philharmonia präsentiert unter der Leitung von Philippe Auguin einen sauberen,
allerdings musikalisch unspektakulären Gluck, so dass sich die Begeisterung des
Publikums nach den einzelnen Akten und am Ende in Grenzen hält.
FAZIT
Zum Auftakt der diesjährigen Festspiele, mit denen unter anderem der 300.
Geburtstag Glucks gefeiert werden soll, hätte man sich einen musikalisch
fulminanteren Einstieg gewünscht.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Philippe Auguin Chor
Gordian Teupke
Philharmonischer Chor Nürnberg
Prague Philharmonia
Solisten
Iphigenie
Claudia Sorokina
Klytemnestra
Marina Prudenskaya
Artemis
Bianca Koch
Achilles
Endrik Wottrich
Agamemnon
Florian Plock Kalchas
Wilfried Zelinka Arkas
Thilo Dahlmann Heerführer
Julian Orlishausen
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