Vor dem Krieg ist nach dem Krieg
Von Thomas Molke
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Fotos von Ludwig Olah
Obwohl Christoph Willibald
Gluck sein Dramma per musica Paride ed Elena, das gemeinhin als seine
dritte italienische Reformoper nach Orfeo ed Euridice und Alceste
gilt, selbst als seine "bedeutendste und wichtigste Oper" bezeichnet hat, gehört
dieses Werk zu den eher selten gespielten Stücken und hat sich bisher nicht im
Repertoire etablieren können. Schon die Uraufführung 1770 in Wien konnte nur
schwache Begeisterung beim Publikum hervorrufen, was aber wohl eher damit zu
begründen war, dass sich das Wiener Publikum für eine Festoper ein anderes Sujet
gewünscht hatte. Auch zum 300-jährigen Jubiläum von Gluck hat sich kein
Opernhaus dieser Oper gewidmet, so dass man sich bei den Internationalen
Gluck-Opern-Festspielen entschlossen hat, eine eigene szenische Produktion
herauszubringen, die gewissermaßen als Opern-Höhepunkt der diesjährigen
Festspiele betrachtet werden kann, da sie als einzige nicht als Koproduktion
sondern exklusiv für die Festspiele erarbeitet worden ist. Ob allerdings der
Regisseur Sebastian Hirn mit seiner Deutung diesem Anspruch gerecht wird, wird
vom Publikum gespalten betrachtet. Bereits kurz vor der Pause kommt es im
Zuschauersaal zu Tumulten, wobei ein Besucher die Inszenierung lautstark als
"hirnlos" bezeichnet.

Unterstützung sieht anders aus: Amor (Anna
Grechishkina, hinten) geht nicht gerade zimperlich mit Paris (Anna Dennis,
vorne) um. Was hat dazu geführt, dass
dem Regisseur so viel Unmut entgegenschlug? Hirn hat zunächst einmal
beschlossen, die Handlung der Oper nicht vor, sondern nach dem Trojanischen Krieg
anzusiedeln. Natürlich darf der Mythos über den trojanischen Prinzen Paris, dem
nach dem Göttinnenstreit von Venus die schönste Frau der Welt versprochen wird
und der daraufhin Helena, die Frau des Königs von Sparta raubt, was der Auslöser
für den Trojanischen Krieg ist, allgemein als bekannt vorausgesetzt werden.
Dennoch ist bei einem unbekannten Werk für den Zuschauer selbst bei Kenntnis der
Geschichte nicht klar, welche Episode daraus behandelt werden soll. Wenn also Paris'
Werben um Helena in Sparta, worum es eigentlich in der Oper geht, die dann mit
der gemeinsamen Flucht von Paris und Helena endet, während Pallas Athene
erscheint und den bevorstehenden Krieg prophezeit, nun plötzlich am Ende des
Krieges spielen soll, und sich die einzigen Figuren - so die Inhaltsangabe im
Programmheft und die Erläuterung des Dramaturgen Christian Baier bei der
Einführung - nun vor einem Tribunal für ihr Handeln rechtfertigen sollen, wird
dieser Ansatz erstens bei der Darstellung auf der Bühne gar nicht klar und passt
zweitens auch nicht zum gesungenen Text, der die Idee einer
"Gerichtsverhandlung" an keiner Stelle unterstützt. Da hilft es auch nichts, die
Musik stellenweise zu unterbrechen, bis Amor als Stichwortgeber Paris oder
Helena den nächsten Einsatz gibt, damit die beiden in ihrer "Verteidigung"
fortfahren können.

Helena (Aleksandra Zamojska) zeigt sich Paris
(Anna Dennis, vorne liegend) gegenüber noch recht kühl (im Hintergrund: Amor
(Anna Grechishkina) und Hyoung-Min Kim als "Soldat"). Völlig unklar bleiben auch
das Bühnenbild und die teilweise recht spärlichen Kostüme, in denen die
Protagonisten nicht nur auftreten müssen, sondern sich auch noch ständig in
riesigen Wassermassen auf der Bühne wälzen müssen. Was da den Sängerinnen
abverlangt wird, ist für das Musiktheater schon grenzwertig. Da muss Anna
Grechishkina als Amor mit quasi nacktem Oberkörper auftreten und Aleksandra
Zamojska muss sich als Helena nicht nur in ihrem knappen Unterrock mit einem
Schlauch abspritzen lassen, sondern sich auch noch, während sie singt, mehrmals
einen Eimer Wasser über den Kopf schütten. Auch die großen Tücher, die auf der
Bühne liegen, erschließen sich nicht. Ein riesiges rotes Tuch liegt zunächst in
der Mitte der Bühne und wird von einem "Soldaten" auf die rechte Seite getragen,
wo es dann aus einer Bühnenloge herabgelassen wird. Ein gelbes Tuch hängt zu
Beginn auf der linken Seite aus einer Bühnenloge, und wird später auf die Bühne
getragen, damit Amor am Ende mit dem Tuch Paris im Wasser ersticken kann, bevor
das Tuch dann über eine Stange gehängt wird und wie ein Segel triefend in den
Schnürboden gezogen wird. Die zahlreichen umgeworfenen Plastikstühle bieten zu
Beginn der Oper ein Bild der Verwüstung, was wohl andeuten soll, dass wir uns am
Ende des Krieges befinden. Aber wieso werden sie nach der Pause in Reih und
Glied wieder aufgestellt, um dann erneut von den Soldaten umgeschmissen zu
werden?

Paris (Anna Dennis) träumt von Helena (Aleksandra
Zamojska in der Projektion). Mögen diese ganzen Einfälle schon
ärgerlich genug sein, dürfte der eigentliche Stein des Anstoßes die Beleuchtung
sein, die dann auch kurz vor der Pause zu Unmutsbekundungen im Zuschauersaal
führt. Über der Bühne sieht man eine leicht schräg herabhängende Lichtleiste mit
Leuchtstoffröhren in mehreren Reihen. Diese quadratische Leiste wird
zum Ende des ersten Aktes so herabgelassen, dass sie genau in den Zuschauersaal
scheint. Wenn Paris nun Helena mit seinen heißen Liebesschwüren bedrängt,
erstrahlen zwischen diesen Röhren weitere Scheinwerfer, zunächst in zartem Gelb.
Doch diese Lichtquellen werden immer greller und gleißender, bis es schließlich
überhaupt nicht mehr möglich ist, auf die Bühne zu schauen, geschweige denn die
Übertitel auch noch ansatzweise zu erkennen. Nach ersten Rufen wie "Licht
aus" verharren die Sängerinnen in diesem Bild, während sich lautstarke Proteste
im Saal regen, denen mit einzelnen Bravorufen aus dem Parkett gekontert wird.
Langsam senkt sich der eiserne Vorhang, und das Publikum wird hochemotional in
die Pause entlassen.

Helena (Aleksandra Zamojska) in der Projektion an
der Decke im Zuschauersaal Auch die Videoeinspielungen
stellen eine Überfrachtung der Inszenierung dar. Während der Ouvertüre sieht man
an der Decke im Zuschauerraum, falls man bereit ist, sich den Kopf absolut zu
verrenken, ein Liebespaar umgeben von riesigen Schaummassen. Es sollen wohl
Paris und Helena sein. Dann fallen mehrere Kleidungsstücke um sie herum herab,
der Schaum wird weniger und um sie herum sieht man einzelne liegende Menschen,
die wahrscheinlich tot sein sollen. Kann man sich während der Ouvertüre
theoretisch noch auf diese Einspielungen konzentrieren, erweisen sie sich im
weiteren Verlauf des Stückes als überflüssig. Während einer weiteren Szene gibt
es nämlich zur Arie von Paris erneut eine Videoeinspielung an der Decke, die
Paris und Helena in glücklicher Eintracht zeigt, aber wohl von kaum jemandem
wahrgenommen wird, da sie von Anna Dennis' intensivem Spiel als Paris ablenkt.
Dass die "Soldaten" das Stück des Weiteren mit einer Videokamera filmen, was
dann an die Rückwand der Bühne geworfen wird, erinnert doch sehr an Castorfs
Ring-Inszenierung in Bayreuth, nur dass dort diese Videoaufnahmen genutzt
wurden, um dem Zuschauer auch Szenen näher zu bringen, die aufgrund des
Bühnenbildes nicht von allen Plätzen einsehbar waren. Bei Hirn dienen diese
Nahaufnahmen lediglich dazu, die darstellerische Präsenz der Sängerinnen zu
unterlegen.

Auftritt der Pallas Athene (Christiane Oelze) (im
Hintergrund links: Helena (Aleksandra Zamojska) mit einem "Soldaten") Als gelungen darf der Auftritt von
Pallas Athene bezeichnet werden. Durch einen dichten Nebel tritt die Göttin auf
und bringt mit ihrem dunkelblauen Oberteil mit leuchtenden Perlen darauf zumindest ansatzweise göttlichen Glanz
in die Inszenierung. Die Bedeutung der vier "Soldaten" hingegen erschließt sich
in der Inszenierung nicht. Während Marlene Blumert als Kameramann (Reporter?)
fungiert und Giles Welinski mit seinen sexuellen Übergriffen auf Helena wohl auf
Vergewaltigungen hinweisen soll, die ein Krieg bei den Opfern häufig nach sich
zieht, bleibt die Funktion der anderen beiden Darsteller völlig unklar,
besonders wenn sie mit abgehackten Ausfallschritten während Paris' Arie über die
Bühne schreiten. Soll das Tanz darstellen?Dass
es dennoch am Ende der Aufführung großen Jubel gibt, dürfte der
musikalischen Darstellung zu verdanken sein. Anna Dennis zeichnet mit
überwältigender darstellerischer Präsenz und leuchtendem Sopran den Paris und
lässt mit ihrem eindringlichen Gesang die Unstimmigkeiten der Inszenierung
vergessen. Welche Leidenschaft sie dem trojanischen Prinzen verleiht, ist
atemberaubend. Schade, dass die Regie-Einfälle dieses großartige Spiel
stellenweise regelrecht behindern. Aleksandra Zamojska verleiht der Helena mit
ihrem Sopran zahlreiche Nuancen. Wie sie die Zerrissenheit dieser jungen Frau
darstellt, die schließlich verheiratet ist und dem Werben des jungen Prinzen
nicht nachgeben will, wirkt absolut überzeugend. Auch Anna Grechishkina
begeistert als Amor mit strahlendem Sopran. Christiane Oelze überzeugt bei ihrem
recht kurzen Auftritt als Pallas Athene mit kräftigem Sopran und klarer Diktion.
Der Konzertchor Fürth Nürnberg und die Staatsphilharmonie Nürnberg unter der
Leitung von Andreas Spering runden die musikalische Leistung des Abends
hervorragend ab, so dass es am Ende frenetischen Applaus für die Sängerinnen und
Musiker gibt. Sobald sich das Regie-Team auf der Bühne zeigt, bricht ein Orkan
von Buhrufen aus dem Zuschauersaal herein, gegen den sich die verhältnismäßig
wenigen Bravorufe nicht durchzusetzen vermögen.
FAZIT
Musikalisch begeistert diese Produktion auf ganzer Linie. Szenisch hat man
vielleicht einen kleinen "Skandal", der ja in gewisser Weise auch zu Festspielen
in der heutigen Zeit gehört.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Andreas Spering Inszenierung,
Bühnenbild und Videodesign
Sebastian Hirn Kostüme
Monika Staykova Lichtdesign
Jo Schramm Video- und Tontechnik
Dorian Häfner Chor
Christian Martin Gabriel Dramaturgie
Christian Baier
Konzertchor Fürth Nürnberg
Staatsphilharmonie Nürnberg
Solisten
Paris
Anna Dennis
Helena
Aleksandra Zamojska
Amor
Anna Grechishkina
Pallas Athene
Christiane Oelze Soldaten
Marlene Blumert (Live-Cam)
Natali Fernandes
Hyoung-Min Kim
Giles Welinski
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