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Klavierfestival Ruhr 2019

Bochum, Anneliese Brost Musikforum Ruhr, 11. Juli 2019



Igor Levit
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Klavierfestival Ruhr

Das Mysterium hinter den Tönen

Von Stefan Schmöe

"Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe", wird Arnold Schönberg im Programmheft zitiert, aus dessen berühmter Rede zum Tode Gustav Mahlers. Schönberg spielt auf den Mythos der "neunten Symphonie" an, die für Beethoven wie für Bruckner und eben auch Mahler die letzte (vollendete) war. ""Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind." Gustav Mahler hinterließ bei seinem Tod 72 Partiturseiten der fünfsätzig angelegten Symphonie, die seine Zehnte werden sollte, darüber hinaus noch 93 Seiten Particell, ziemlich detaillierte Skizzen also. Der langsame Eingangssatz mit knapp 25 Minuten Dauer ist der einzige im Wesentlichen ausformulierte Satz des Werkes. (Zu denen, die sich weigerten, die Symphonie zu komplettieren, gehörte auch Arnold Schönberg.) Igor Levit spielt nun eine Transkription dieses ersten Satzes, die der schottische Komponist und Pianist Ronald Stevenson 2008 erstellt hat.

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Foto: Peter Wieler / Klavier-Festival Ruhr

In der Klavierfassung und Levits Interpretation klingt diese Musik noch radikaler und erdenferner als in der fertig instrumentierten Fassung. Der romantische Orchesterklang, der wie eine Schutzhülle um die Musik herum liegt, fällt weg. Levit romantisiert nicht, versucht keine Imitation des Orchesters. Mahler beginnt mit einer langen einstimmigen Melodie für die Bratschen - es ist ungemein faszinierend, wie Levit hier die Spannung bei sehr langsamem Tempo halten kann, die er über den gesamten Satz aufbaut. Durch das Fehlen des gewohnten Orchesterklangs verschieben sich die Akzente, die Struktur der Komposition tritt in den Vordergrund. Levit macht deutlich, wie nahe sich Mahler und Schönberg hier stehen, wie radikal an der Grenze zur Auflösung der Tonalität sich Mahler bewegt - Schönbergs Zwölftonmusik erscheint da als die logische Fortführung. Gleichwohl ist Levit kein intellektuell-analytischer Pianist - aber eben einer mit überragender Musikalität, mit dem Sinn für Proportionen und für die Architektur der Komposition. Die Fortissimo-Schläge auf dem Höhepunkt des Satzes sind bei Levit von einer Wucht, dass an der existenziellen Bedeutung kein Zweifel bleibt: Hier geht es um letzte Dinge, ja: um alles.

Im Kontrast dazu stehen drei Lieder ohne Worte von Felix Mendelssohn-Bartholdy, am Beginn des Konzerts romantisch-verträumt und sehr poetisch gespielt, ohne die Musik zu überladen. Man kann darin einen Ausgangspunkt der Romantik sehen, der auch absteckt, wie weit sich Mahler davon entfernt, aber die andere Leitlinie führt zurück zu Franz Schubert, dessen B-Dur-Sonate Levit im zweiten Teil des Konzerts spielt. Deren Kopfsatz wird geprägt durch ein solches "Lied ohne Worte", eine weit ausschwingende Melodie. Levit nimmt dieses Thema stark verinnerlicht, dabei nicht mit der Noblesse eines Krystian Zimerman, nicht mit klug kalkulierten Überraschungsmomenten wie Marc-Andre Hamelin, nicht mit der klassizistischen Introvertiertheit wie zuletzt András Schiff bei Schuberts Sonaten Nr. 16, 17 und 18, sondern mit bohrender Intensität, die Schubert zum Geistesverwandten Mahlers macht. Erst recht, wenn die Triller in der Basslage einsetzen. Bei Levit bewegt sich auch diese Musik am Rande des Unaussprechlichen: Hinter jedem Ton wartet ein Mysterium. Ein Tonartwechsel kann zum kleinen Schockmoment werden, eine Pause zum Abgrund.

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Foto: Peter Wieler / Klavier-Festival Ruhr

Er habe kurz überlegt, als Zugabe einfach die letzten Takte der Sonate noch einmal zu spielen, erklärte Levit in den Schlussapplaus hinein (um sich dann doch für das Allegretto c-Moll D915 zu entscheiden, fast improvisatorisch leicht genommen, ein leiser, nachdenklicher Konzertschluss, der keine weiteren Zugaben zuließ). Tatsächlich spielt er den Presto-Schluss, die letzten rund 30 Takte, wie eine Zugabe, hämmernd und reißerisch, ja geradezu hysterisch, als habe das nichts mehr zu tun mit der sich zart in Tonartwechseln verlierenden Musik zuvor, die eben auch viel von dem erzählt, was wir noch nicht wissen sollen, um wieder zu Schönberg zurückzukehren. Auf eine Weise, die nicht in Worte zu fassen ist, dringt Levit mit seiner unmittelbaren musikalischen Logik, die jede winzige Verzögerung absolut richtig erscheinen lässt, weit vor in das Reich hinter den Tönen.




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Klavierfestival Ruhr 2019
Bochum, Anneliese Brost Musikforum Ruhr
11. Juli 2019


Ausführende

Igor Levit, Klavier


Programm

Felix Mendelssohn-Bartholdy:

Lied ohne Worte E-Dur op. 19b/1
Lied ohne Worte A-Dur op. 19b/4
Lied ohne Worte in As-Dur op. 38/6

Gustav Mahler:
Adagio aus der Sinfonie Nr. 10
(Bearbeitung für Klavier von Ronald Stevenson)

- Pause -

Franz Schubert:
Sonate Nr. 21 B-Dur D 960


Zugaben:

Franz Schubert:
Allegretto c-Moll D915




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