Der Geist sieht alles
Von Thomas Molke
/ Fotos: © Studio Amati Bacciardi (Rossini Opera Festival)
Rossinis letzte in und für Italien geschriebene Opera seria Semiramide
nimmt im Opernschaffen des Pesaresen eine besondere Stellung ein. Zum einen
zählte dieses Werk in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zu den
meistgespielten Opern des Komponisten und erzielte bei der Uraufführung am 3.
Februar 1823 einen so großen Erfolg, dass es einen Monat lang fast täglich
wiederholt werden musste. Zum anderen fasste Rossini darin gewissermaßen seine
ganze italienische Opernerfahrung zusammen und führte die Opera seria so noch
einmal zu einem Höhepunkt. Dabei weicht das Stück bereits in zahlreichen Punkten
von der damaligen norditalienischen Tradition ab. Die Hosenrolle und die
weibliche Hauptpartie können beispielsweise kein Liebespaar bilden, weil es sich
dabei um Mutter und Sohn handelt. Auch die Ermordung der Titelfigur stellt für
die damaligen Verhältnisse in Norditalien ein absolut untypisches Ende dar. Neu
sind auch die nahezu durchkomponierte Form, die den Aufbau der einzelnen Nummern
nicht mehr genau erkennen lässt, und die funktionale Einbindung der Ouvertüre,
die bereits Motive anklingen lässt, die im weiteren Verlauf der Oper von den
Protagonisten wieder aufgenommen werden. Dies alles mag dazu beitragen, dass
Semiramide seit der Rossini-Renaissance auch außerhalb von Festspielen immer
mal wieder auf den Opernbühnen zu erleben ist. Dabei wird das Werk allerdings
häufig einigen Einschnitten unterzogen, da es mit gut vier Stunden Spielzeit
schon wagnerianische Ausmaße hat. In der Geburtsstadt Rossinis spielt man die
Oper im Rahmen des Festivals natürlich ungekürzt, beginnt allerdings bereits
eine Stunde früher als üblich, damit die Vorstellung vor Mitternacht zu Ende
ist.
Semiramide (Salome Jicia, rechts) liebt den
jungen Arsace (Varduhi Abrahamyan, links), ohne zu wissen, dass es sich dabei um
ihren tot geglaubten Sohn Ninia handelt.
Die Handlung folgt im Großen und Ganzen der gleichnamigen Tragödie von Voltaire
und kann als orientalische Mischung aus Orestie, Hamlet und König Oedipus
betrachtet werden. Die assyrische Königin Semiramide hat vor 15 Jahren gemeinsam
mit dem Prinzen Assur ihren Gatten, den König Nino, vergiftet und regiert
seitdem relativ erfolgreich über Babylon. Der Hohepriester Oroe drängt sie
jedoch, endlich einen männlichen Nachfolger zu bestimmen. Während Assur darauf
hofft, die Herrschaft zu übernehmen und damit die Hand der Prinzessin Azema zu
erhalten, verfolgt Semiramide andere Pläne. Sie hat sich in Arsace, den jungen
Anführer des assyrischen Heeres, verliebt und beabsichtigt, ihn an ihrer Seite
zum neuen König zu machen, ohne zu wissen, dass Arsace ihr tot geglaubter Sohn
Ninia ist, den der sterbende Nino kurz vor seinem Tod hatte außer Landes
schaffen lassen. Arsace, der ebenfalls Azema liebt, ist von diesem Vorhaben zwar
nicht begeistert, willigt aber ein, dem Befehl seiner Königin Folge zu leisten,
als sich plötzlich Ninos Schatten aus dem Grab erhebt und Arsace ermahnt, den
Mord am König zu rächen. Oroe offenbart Arsace seine Herkunft und fordert ihn
auf, dem Befehl des toten Königs zu gehorchen. Arsace will aber nur Assur für
den Mord am König zur Rechenschaft ziehen und seine geliebte Mutter verschonen.
In der Grabkammer des Königs kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen den
beiden Männern. Als Arsace zum tödlichen Schlag ausholt, trifft er allerdings
seine Mutter, die sich zu seinem Schutz ebenfalls in die Grabkammer begeben hat.
Während Assur festgenommen wird und darüber triumphiert, dass Arsace seine
eigene Mutter getötet hat, und Oroe die Götter preist, da der Mord am König mit
dem Tod Semiramides gesühnt worden ist, wird der verzweifelte Arsace vom
jubelnden Volk als neuer König gefeiert.
Semiramide (Salome Jicia, im Hintergrund oben
Mitte links) ernennt Arsace (Varduhi Abrahamyan, im Hintergrund Mitte rechts)
zum neuen Herrscher und Gatten (auf der linken Seite: Idreno (Antonino Siragusa)
mit Azema (Martiniana Antonie), in der Mitte im Hintergrund unten: Assur (Nahuel
di Pierro)).
Das Regie-Team um Graham Vick rückt den ermordeten König Nino ins
Zentrum der Inszenierung. Stuart Nunn hat auf zwei bewegliche, die komplette
Bühne einnehmende Stellwände die Augenpartie des Königs in einer Nahaufnahme
gedruckt. In den Pupillen scheint sich der Mörder zu spiegeln, kurz bevor Nino
getötet worden ist. Diese Augen beobachten das ganze Geschehen, so dass man das
Gefühl hat, der Geist des Nino überwache die ganze Oper. Auf der Rückseite
dieser Stellwände, sind die Augen schwach in einer Art Negativ zu erkennen,
während die restliche Wand mit Kinderzeichnungen versehen ist. Die linke Wand
zeigt die Königin mit einem blutigen Messer, wahrscheinlich kurz nach der Tat.
Auf der rechten Wand sieht man den toten König blutüberströmt. Die Wände sind
flexibel gestaltet, so dass aus ihnen zahlreiche unterschiedliche Räume
konzipiert werden können. Wieso Semiramide auf diese Rückwand mit weißer Kreide
ein Herz zeichnet, das anschließend von Assur zu einem Gesicht mit Schweinsnase
und Königskrone ergänzt wird, erklärt sich genauso wenig wie die Idee, Oroe und
seine Priester halbnackt wie Vertreter eines afrikanischen Stammes fernab
jeglicher Zivilisation darzustellen. Der Donner, der ertönt, wenn Nino aus
seinem Grab in das Geschehen eingreift, wird durch lautes Hämmern der Priester
auf den Bühnenboden erzeugt und verleiht der Szene eine unheimliche Note.
Der Hohepriester Oroe (Carlo Cigni, vorne links)
mit seinen Dienern
Während der indische Prinz Idreno und die assyrische Prinzessin
Azema in ihren Kostümen nahezu orientalisch anmuten, wirken Semiramide, Arsace
und Assur wie moderne Politiker der heutigen Zeit. Die an Flaggen erinnernde
Gesichtsbemalung Arsaces und Assurs und ihrer Anhänger im ersten Akt soll wohl
die verschiedenen Völkergruppen darstellen. Als Reminiszenz an den tot
geglaubten Sohn Semiramides steht auf der rechten Bühnenseite ein himmelblaues
Bett, aus dem auch zu Beginn der Aufführung ein kleiner Junge schlüpft, der wohl
Ninia als Kind darstellen soll. Des Weiteren wird ein riesiger blauer Teddybär
mit roten Blutspritzern auf die Bühne geschoben, der wie die ständige
Anwesenheit des toten Königs an das Verbrechen erinnern soll. Wenn Semiramide im
ersten Akt an ihren vermeintlich toten Sohn denkt, zieht sie eine hellblaue
Spielzeugkiste auf die Bühne. Auch Ninos Anzug ist in diesem hellblauen Farbton
gehalten. Als Grabkammer fungieren zwei Teilwände, die das Gesicht Ninos ohne
die Augenpartie zeigen. In der fehlenden Augenpartie bewegen sich Semiramide,
wenn sie Arsace als neuen Herrscher und Gemahl ausruft, und Assur, wenn er dem
Rivalen in der Grabkammer im zweiten Akt auflauert. Das Premierenpublikum
scheint mit diesem szenischen Ansatz sehr unzufrieden zu sein, da sich ein
regelrechter Orkan an Unmutsbekundungen über das Regie-Team beim Schlussapplaus
ergießt. In dieser Heftigkeit mag die Ablehnung dann doch ein wenig überraschen.
Assur (Nahuel di Piero) in der Grabkammer des
Königs Nino
Musikalisch lässt der Abend keine Wünsche offen und wird vom
Publikum mit lang anhaltendem Zwischenapplaus frenetisch gefeiert. Da ist
zunächst einmal das Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai unter der Leitung
von Michele Mariotti zu nennen, der in dieser Oper bereits vor zwei Jahren am
Pult des Bayerischen Staatsorchesters geglänzt hat. Als absoluter
Rossini-Fachmann lotet er die Partitur mit wunderbar feinen Nuancen aus und
bringt die tragischen Momente des Stückes berührend zur Geltung. Salome Jicia
glänzt in der Titelpartie mit großartiger Dramatik. Dabei changiert sie
überzeugend zwischen Hoffnung in ihrer Kavatine im ersten Akt, "Bel raggio
lusinghier", wenn die Königin in Erwartung des jungen Feldherrn ihre Sorgen
vergisst und einer glücklichen Liebe mit ihm entgegensieht, und Verzweiflung,
wenn Arsace sich ihr als tot geglaubter Sohn Ninia zu erkennen gibt und sie
erneut von ihren Schuldgefühlen überwältigt wird. In den Duetten mit Varduhi
Abrahamyan als Arsace findet Jicia zu einer bewegenden Innigkeit und arbeitet im
ersten Duett, "Serbami ognor sì fido", parallel zur Kavatine Semiramides
Glücksgefühle mit einer Leichtigkeit heraus, die dann im zweiten Duett, wenn sie
in Arsace ihren Sohn Ninia erkannt hat, in große Dramatik umschlägt. Auch mit
Nahuel di Pierro als Assur liefert sie sich zu Beginn des zweiten Aktes einen
grandiosen Schlagabtausch, wenn sie ihm klar macht, dass sie ihn nicht zum König
ausrufen wird.
Varduhi Abrahamyan begeistert in der Hosenrolle des Arsace mit
warm tönendem Mezzosopran und wunderbaren Tiefen. Schon in ihrer ersten Kavatine
"Ah! quel giorno ognor rammento", in der Arsace darauf hofft, von Semiramide
Azemas Hand zu erhalten, punktet Abrahamyan mit einer samtig weichen
Stimmführung und beweglichen Koloraturen. Großartig gestaltet sie Arsaces innere
Zerrissenheit im zweiten Akt, wenn er erfahren hat, dass er Semiramides Sohn
ist, und die Verzweiflung, mit der der Sohn die Mutter schützen möchte. Nahuel
di Pierro ist als Assur mit profundem Bass ein stimmlich großartiger
Widersacher. Einen musikalischen Höhepunkt stellt Assurs große Wahnsinns-Arie im
zweiten Akt dar, in der ihm noch einmal der Geist des toten Königs erscheint,
der ihn ins Grab ziehen will. Mit großartigem Spiel und dramatischer
Stimmführung setzt di Pierro diesen aus dem schlechten Gewissen entstehenden
Wahnsinn überzeugend um. Carlo Cigni punktet als Hohepriester Oroe mit
autoritärem Bass und dunklen Tiefen. Antonino Siragusa gestaltet die
dramaturgisch eher undankbare Rolle des indischen Prinzen Idreno, der vergeblich
um die Gunst der schönen Prinzessin Azema wirbt, mit leuchtendem Tenor, der in
den extremen Höhen allerdings ein wenig stark forcieren muss. Martiniana
Antonie, Alessandro Luciano und Sergey Artamonov runden als Prinzessin Azema,
Mitrane und Schatten des toten Nino gemeinsam mit dem glänzend von Giovanni
Farina einstudierten Coro del Teatro Ventidio Basso den Abend musikalisch
überzeugend ab.
FAZIT
Musikalisch bietet der Abend puren Rossini-Genuss. Szenisch kann die Produktion
das Premieren-Publikum nicht überzeugen.
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