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Everything that Happened and Would Happen

Kreation von Heiner Goebbels
Textauszüge aus Europeana von Patrik Ouředník
Videoclips aus dem Programm No Comment des Fernsehkanals Euronews
mit Musik von Heiner Goebbels und Olivier Messiaen

In verschiedenen Sprachen, teilweise mit deutschen Übertiteln

Produziert von Artangel. Auftragswerk von 14-18 NOW; WW1 Centenary Art Commissions, Artangel, Park Avenue Armory und Ruhrtriennale. Die Uraufführung wurde gemeinsam von Artangel und Manchester International Festival präsentiert

Aufführungsdauer: ca. 2h 15' (keine Pause)

Deutsche Erstaufführung am 23. August 2019 in der Jahrhunderthalle Bochum

Logo: Ruhrtriennale 2019

Ach, Du sinnbefreites Europa!

von Stefan Schmöe / Fotos © Heinrich Brinkmöller-Becker

"Bitte schweifen Sie ab!" So die Forderung von keinem Geringeren als Heiner Goebbels, dem Schöpfer dieses wunderlichen Theaterabends, in seiner kurzen Einführung. Wovon überhaupt abschweifen, möchte man im Nachhinein zurückfragen. Everything that Happened and Would Happen folgt keiner linearen Entwicklung (von der man abschweifen könnte), hat schon gar nicht so etwas wie Handlung, bestenfalls vages Thema (oder zwei), nämlich Europa und die beiden Weltkriege (und vielleicht noch die europäische Operntradition). Goebbels möchte sein Publikum nicht manipulieren, weder kognitiv durch im Werk chiffrierte Botschaften noch emotional durch die Vorgabe bestimmter Stimmungen. Stattdessen: Völlige Gedankenfreiheit. Er sei immer sehr gespannt darauf, was Zuschauer in seinen Werken sähen (er aber nie hineingelegt habe), so Goebbels.

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Die Kreation wird bei der Ruhrtriennale unter "Musiktheater" geführt wird, dehnt den Begriff aber stark aus. Konventionell ist die klassische Theateranordnung: Das Publikum sitzt und schaut (insgesamt zu lange) zweieinviertel Stunden ohne Pause auf eine Bühne, auf der etwas passiert (sogar ziemlich viel), nur keine konkrete Handlung und auch kein Tanz im gewohnten Sinn. Everything that Happened and Would Happen ist im Wesentlichen aus vier Schichten aufgebaut. Dominant sind die Bühnenbildelemente, die Klaus Grünberg 2012 für die Aufführung von Europeras 1&2 von John Cage bei der Ruhrtriennale entwickelt hat, inszeniert seinerzeit von Heiner Goebbels (siehe dazu unsere Rezension). Zur Erinnerung: In diesen Europeras werden nach Zufallsprinzipien Fragmente aus Opern neu kombiniert, sodass ein Sänger z.B. gerade eine Arie des Don Giovanni singt, dabei das Kostüm von Rigoletto trägt, während man Bühnenbildelemente aus einer Barockoper sieht und einzelne Orchestermusiker Phrasen aus dem Barbier von Sevilla oder Wozzeck spielen. Grünberg hatte dafür opulente Kulissen entworfen (welchen unschätzbaren Wert diese für den Erfolg der Aufführung hatten, wurde zuletzt deutlich an der blutleeren Aufführung der Europeras in der Version der Gruppe Rimini Protokoll an den Wuppertaler Bühnen). Er habe mit diesen wunderbaren Kulissen und Requisiten wieder etwas machen wollen, gab Goebbels freimütig an. Und so lässt er von Tänzern, die man sich als sehr virtuose Bühnentechniker vorstellen muss (getanzt im üblichen Sinn wird überhaupt nicht) Prospekte entrollen und durch den Raum tragen, Sockel für Statuen versetzen, leuchtende Fahrzeuge herumrollen und solcherlei Dinge, mit oft umwerfender theatralischer Wirkung. Ein wenig entsteht freilich der Eindruck, die Europeras würden hier genüsslich fortgesetzt, aber ohne den raffinierten gedanklichen Überbau von John Cage: Seht her, so toll und verrückt kann Theater sein.

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Die zweite Ebene ist die Musik. Es gibt fünf Instrumentalisten: Percussion, Saxophon, Ondes Martinot (eine Art Synthesizer, den vor allem Olivier Messiaen verwendet hat), elektrische Gitarre und Orgel (ein ziemlich komlexer Eigenbau). Diese sind wie Inseln am Rand der riesigen Bühne postiert, was sehr eindrucksvolle räumliche Klangeffekte ermöglicht. Die Spieltechnik wird erweitert, nur vergleichsweise selten klingen, vom Schlagzeug abgesehen, die verwendeten Instrumente "normal", werden stattdessen geräuschhaft und perkussiv eingesetzt. Ob es eine feste Partitur für die Aufführung gibt, ist nicht klar; vieles klingt improvisiert. Im ersten Teil hört man oft einen Musiker ein Klangereignis erzeugen, auf das von anderer Stelle reagiert wird usw. Später gibt es zunehmend verdichtete Passagen. Das Saxophon hat irgendwann ein längeres (konventionell gespieltes) Solo, das sich stilistisch im Bereich der minimal music bewegt; die Ondes Martinot spielt gegen Ende eine kurze Komposition von Messiaen mit Orgelbegleitung. Was Goebbels letztendlich vorgegeben hat, bleibt offen, und das gehört wohl auch zum Konzept. Egal: Diese Musik übt eine ganz eigene Faszination aus.

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Als dritte Ebene werden Texte des tschechischen Schriftstellers Patrik Ouředník gelesen, der unter dem Titel Europeana eine sehr eigenwillige Geschichte Europas im 20. Jahrhundert verfasst hat, aufgebaut aus Anekdoten. Thematisch kreist die Textauswahl um die Weltkriege. Beispielsweise geht es in einer Passage darum, dass verfeindete Truppenteile im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges Lebensmittel austauschten (Cognac gegen Zigaretten) und am Heiligen Abend über die Schützengräben hinweg gemeinsam Weihnachtslieder sangen. Gesprochen sind diese Texte überwiegend in englischer Sprache - und teilweise nicht per Übertitel übersetzt, was doch einigermaßen rätselhaft ist. Nun ist Everything that Happened and Would Happen eine Koproduktion unter anderem mit dem Festival 14-18 NOW, das sich in England künstlerisch mit dem Ersten Weltkrieg und dessen Folgen auseinandersetzt; in Manchester ist Everything that Happened and Would Happen im Oktober 2018 auch uraufgeführt worden, und ein wenig bleibt der Eindruck, das der Abend dorthin und in diesen klar umrissenen Kontext besser passt als zur Ruhrtriennale. Warum das englische Publikum eine weitgehend englischsprachige, das deutsche dagegen keine deutsche Fassung bekommt (und nur stellenweise eine Übersetzung), bleibt einigermaßen rätselhaft. Sprachlich ist das sicher nicht allzu schwer zu verstehen, aber in der Flut der visuellen und akustischen Eindrücke den fremdsprachigen Text mit seiner latenten Ironie zu erfassen, wird trotzdem zur Kopfsache. Man müsse ja gar nicht alles verstehen, so Goebbels, schnell ungewollte Sinngebung fürchtend. Ein naiver Wunsch, der sicherlich am verstehenshungrigen Publikum vorbei geht. Die Verwendung der englischen Sprache gibt dem Abend aber als Nebeneffekt eine Wendung ins Elitäre. Boshaft überspitzt formuliert: Wenn es schon keinen tieferen Sinn gibt, so bleibt doch die Freude, einem intellektuell fremdsprachigen Theaterabend beigewohnt zu haben. Das braucht ein Festival an der Ruhr eigentlich nicht.

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Dann baut Goebbels als vierte Ebene an verschiedenen Stellen Filmeinblendungen ein, die auf die Kulissenfragmente projiziert werden. Der Fernsehkanal Euronews sendet regelmäßig ein paar Minuten unkommentierte Bilder aus aller Welt, bei denen der Ort der Aufnahme angegeben und der Originalton zu hören ist; "No Comment" heißt das Format. Goebbels hat Sentenzen aus den Tagen vor der Aufführung ausgewählt, darunter Flüchtlinge auf Lampedusa und "Friday for future"-Kundgebungen in Berlin. Auch hier geht es natürlich um das Prinzip der Gedankenfreiheit - der Zuschauer soll für sich selbst kommentieren. (Um das - natürlich manipulative - Prinzip der Vorauswahl zu beseitigen, hätte Goebbels eigentlich strikt die Bilder des Aufführungstages und vielleicht des Vortags verwenden können.) Aber was bringen diese Bilder? Sie gaukeln eine politische Relevanz vor, dass das Projekt ja gar nicht haben will.

Man könnte Everything that Happened and Would Happen als Beitrag zu einem nicht ganz taufrischen theatertheoretischen Diskurs auffassen, wäre Goebbels nicht doch viel mehr Theatermacher als Theatertheoretiker. Mindestens einem Zuschauer scheint diese deutsche Erstaufführung überhaupt nicht gefallen zu haben, was durch vehemente Buh-Rufe zum Ausdruck kam. Dem wurde bestenfalls zaghaft begegnet, den erschöpften Premierenapplaus darf man wohl als "enden wollend" bezeichnen. Sicher bietet Goebbels viele beeindruckende, sehr sinnliche Momente, aber mit dem Konzept des geforderten Abschweifens und der Sinnfreiheit zieht er sich ziemlich bequem aus der Affäre: Beliebigkeit statt Aussage wird zum Prinzip erhoben, das schmettert vorausschauend jeden Einwand ab. Was kann schon der Künstler dafür, dass im Kopf des Betrachters nichts Bedeutsames entsteht? So bleiben die Eindrücke doch sehr zwiespältig.


FAZIT

Tja, ob man dieses sehr sinnliche Theater voller großer (Klang-)Bilder, aber ohne Denkvorgaben und Leitlinien kreativ erfüllend wahrnimmt oder doch eher belanglos in seiner gewollten Bedeutungsfreiheit und etwas bemüht zusammengestückelten Konzeption, das bleibt eine ziemlich subjektive Angelegenheit. Das ganz große Triennale-Ereignis werden wohl nur wenige darin erkennen.




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Produktionsteam

Konzept und Regie
Heiner Goebbels

Lichtdesign
John Brown
Heiner Goebbels

Bühnenbildelemente
Klaus Grünberg
(entworfen für Europeras 1&2,
Ruhrtriennale 2012)

Sound Design
Willi Bopp

Videodesign
René Liebert

Dramaturgie
Matthias Mohr


Musiker

Percussion
Camille Emaille

Saxophon
Gianni Gebbia

Cécile Lartigau
Ondes Martinot

Gitarre, Elektronik
Nicolas Perrin

Orgel
Leo Maurel


Darsteller / Performer

Juan Felipe Amaya Gonzalez
Sandhya Daemgen
Antoine Effroy
Ismeni Espejel
Montserrat Gardó Castillo
Freddy Houndekindo
Tuan Ly
Thành Nguyễn Duy
John Rowley
Annegret Schalke
Ildikó Tóth
Tyra Wigg


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