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Musikfestspiele
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Bregenzer Festspiele 2021

Nerone (Nero)

Tragödie in vier Akten
Libretto und Musik von Arrigo Boito
Vervollständigung des vierten Aktes von Antonio Smareglia, Vittorio Tommasini und Arturo Toscanini

in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Aufführungsdauer: ca. 2h 50' (eine Pause)


Premiere im Festspielhaus Bregenz am 21. Juli 2021
(rezensierte Aufführung: 2. August 2021)

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Verrrätselte Visionen vom neuen Übermenschen

Von Stefan Schmöe / Fotos © Bregenzer Festspiele / Karl Forster

Arrigo Boito (1842 - 1918) ist ja keineswegs ein Unbekannter auf den Opernbühnen - hat er doch die Libretti zu Verdis Otello und Falstaff und auch Ponchiellis La Gioconda verfasst. Als Komponist ist er mit seiner Oper Mefistofele (1868, überarbeitet 1875) hin und wieder zu erleben, einer Vertonung des Faust-Stoffes. Nerone dagegen ist über ein paar Aufführungen nicht hinausgekommen. Dabei hätte diese Oper das Hauptwerk Boitos werden sollen, begonnen bereits 1862, aber nie vollendet. Inspiriert von Richard Wagner ist Nerone als ein Gesamtkunstwerk angelegt, Text und Musik aus einer Hand, unter Überwindung der konventionellen Nummernoper, dazu mit großem Programm: Der römische Kaiser als antbürgerlicher Machtmensch, Vertreter einer kommenden Zeit. Drei der geplanten fünf Akte hat der Komponist bei seinem Tod vollendet hinterlassen, den vierten vervollständigten Antonio Smareglia, Vittorio Tommasini und Arturo Toscanini anhand der vorhandenen Skizzen, sodass letzterer 1924 die Uraufführung an der Mailänder Scala dirigieren konnte - noch zu Lebzeiten Boitos hatte u.a. der Verleger Giulio Ricordi befunden, dass die Oper auch ohne den nur als Libretto vorliegenden fünften Akt (in dem Nero dem Wahnsinn verfällt) bühnentauglich sei. Durchgesetzt hat sich das Werk aber nicht. Für einen neuen Operntypus standen längst andere wie Giacomo Puccini oder Richard Strauss. Für den neuen Menschen leider auch, aber die interessierten sich nicht für Boitos Musik.


Vergrößerung in neuem Fenster Schreibtischtäter im Grammophonzeitalter: Nero

Angesichts der langen Entstehungsgeschichte fällt eine historische Einordnung schwer. Die bei aller Chromatik in ihrer Tonalität romantische Musik ist effektvoll, manchmal plakativ, mitunter ruppig, die plötzlichen Stimmungswechsel sind durchaus veristisch, manches wirkt beinahe collagenhaft. Das hat seinen Reiz, und Dirigent Dirk Kaftan und die insgesamt sehr guten, im Verlauf der hier besprochenen Aufführung im Verlauf ein wenig an Kontur und Präzision einbüßenden Wiener Symphoniker loten die unterschiedlichen Sphären sehr schön aus. Insofern eine lohnenswerte Entdeckung, auch wenn die Schwächen der Komposition unüberhörbar sind. Boito setzt eine chromatische Musik für die römischen Gottheiten gegen eine konventionell schlichte für die Christen, und so ist es ähnlich wie bei Webers Freischütz: Wenn dort das Christentum in Gestalt des Erimiten auftaucht, wird es ein wenig langweilig. Näher liegt aber der Vergleich mit Verdis Otello (der ohnehin vieles von Boitos Opernvisionen einlöst): Desdemonas Ave Maria ist als "christliche" Musik Boitos Kolorit um Klassen überlegen. Problematisch ist aber eben auch das dramaturgische Konzept, die den Kaiser Nero sehr ambivalent anlegt und nicht durchweg verteufelt. Dieser Nero hat sowohl Züge des teuflisch-genialischen Künstlers wie des sich abzeichnenden faschistischen Herrschers. Da ist vom "Übermenschen" die Rede, von der Notwendigkeit, das Bestehende zu vernichten (der Brand Roms - hier keineswegs von Nero verursacht, wohl aber aus eben diesem Grund geduldet). Das Pathos des Textes und die Überhöhung der Figuren zu Ideenträgern, das alles ist heute eher schwer verdaulich.

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Intrigantin mit Hammer: Asteria

Die überambitionierte Inszenierung von Olivier Tambosi hilft nicht, dieses vertrackte Geflecht aufzulösen, im Gegenteil: Sie will offenbar genau diese gedankliche Überladenheit vorführen und kompliziert durch ihre Bildsprache noch einmal zusätzlich. Bei einer Oper, die eigentlich niemand kennt, wäre eine die Handlung verdeutlichende Erzählweise ja durchaus sinnvoll, aber daran hat Tambosi gar kein Interesse. Grundsätzlich legt er die Geschichte etwas unbestimmt in den 1920er-Jahren an, die Möbel im abstrakten, durch säulenartige Lichtstreifen gegliederte Bühne (Frank Philipp Schlössmann) wirken modern. Nero und Gefolge treten in merkwürdigen Hausmänteln auf (Kostüme: Gesine Völlm). Die Christen erscheinen dagegen im Nonnenhabitat, ihr apostelartiger Priester Fanuél mit Dornenkrone als Christus. Tombosis und Völlms den Kitsch keineswegs nur streifende Bildsprache (so viel Theaterblut wie hier sieht man selten) wirkt mitunter unfreiwillig parodistisch. Nero als Schreibtischtäter des 20. Jahrhunderts mit der Vision, Kaiser der Antike zu sein, das hätte womöglich ein Ansatz sein können. Dazu müsste die Regie aber viel konzentrierter sein, auch ein Verhältnis zu den Figuren und nicht nur zu deren Funktion finden. Der hier gezeigte, manchmal leicht, öfter schwer oder gar nicht zu enträtselnde Bilderbogen stürzt einen bestenfalls in die ermüdende Dauerverwirrung. Eher allerdings langweilt sie, weil sie keinen Ansatzpunkt bietet, an dem das Interesse ansetzen könnte. Und man muss sich ziemlich gut in den apokryphen Büchern des Neuen Testaments und in frühchristlichen Legenden auskennen, um das Libretto (Boito hat intensiv unterschiedlichste Quellen studiert, bevor er das Libretti verfasst hat) wie die Bildsprache der Inszenierung zu entschlüsseln. So wird der Bösewicht der Oper, Simon Mago, am Ende dazu verurteilt, von einem Turm zu "fliegen", ohne dass diese ungewohnte Strafe - warum sollte ein Mensch fliegen können? - näher begründet würde. Eine (im Mittelalter wirkmächtige) Legende besagt, dass Mago ein Zauberer war, der tatsächlich vom Erdboden abheben konnte, aber abstürzte, als er dies zum Beweis seiner vermeintlichen Göttlichkeit vorführen sollte. In diesem Kontext ergibt es auch Sinn, dass der Mago dieser Inszenierung oft mit schwarzen Flügeln auftritt, ein Todesvogel oder Todesengel.


Vergrößerung in neuem Fenster Geflügelter Bösewicht: Simon Mago

Boito stellt die Verführbarkeit der Menge dar (der Philharmonische Chor Prag singt exquisit), konfrontiert das aufkommende Christentum mit dem Vestalinnenkult und schafft somit eine Umbruchsituation (bei einer Entstehungsgeschichte von fast 60 Jahren hat das Werk allerlei historische Umbrüche erlebt). Stellvertretend für diese Gemengelage steht die rätselhafte Asteria, eine Zaubererin (eigentlich tritt sie mit Schlangen um den Hals auf - auch etwas, das man wissen sollte, weil es die Regie als bekannt voraussetzt), in Nero vernarrt. Sie soll in einer Intrige Nero vortäuschen, eine Göttin zu sein - in der Inszenierung räkelt sie sich nicht wie vorgesehen auf dem Altar, sondern auf einem Billardtisch, aber wozu? Sopranistin Svetlana Aksenova gestaltet sie stimmlich ganz ordentlich, aber zu brav, sodass die Figur aus dem Zentrum rückt. Da steht neben Nero, den Rafael Rojas mit strahlendem, nicht zu hellem Tenor gibt, der Bösewicht Simon Mago, den Lucio Gallo mit baritonaler Wucht und enormer Präsenz, aber auch stimmlicher Eleganz ganz großartig verkörpert. Er möchte dem apostelartigen Christenpriester Fanuél (mit hellem, mitunter fast tenoralem, geschmeidigem Bariton: Brett Polegato) dessen Einfluss mit Geld abkaufen (auch dieses Motiv findet sich in spätantiken Legenden; im Libretto und noch mehr in Tambosis Regie scheint der Ansatz ziemlich irrational - wie kann man jemandem Charisma abkaufen?). Und dann ist da noch die Christin Rubria, die (was unter den Christen niemand wissen darf) auch als Vestalin Tempeldienste verrichtet. Alessandra Volpi singt sie mit schönem lyrischem Sopran.

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Verfolgte mit Dornenkrone: Rubria und Fanuél

Die Machtspiele am kaiserlichen Hofe führen zu Todesurteilen für Asteria und Simon Mago sowie die Ermordung der Christen im Circus, die uns die Regie zum Glück bei geschlossenem Vorhang erspart. Der (von Asteria gelegte) Brand Roms soll die Hinrichtung Magos und Rubrias verhindern, was nicht funktioniert. Den im Zypressenhain predigenden Fanuél und die Sterbeszene Rubrias in den Armen Fanuéls (da hält es Boito mehr mit Verdi als mit den Veristen: Gestorben wird ausführlich und mit viel Musik) zeigt Tambosi dagegen ausgesprochen konventionell. Ein ordentliches Schlussbild, in dem die Fäden zusammenlaufen, gibt es nicht, auch keine wirklichen Bezüge zur Gegenwart - man blickt auf ein historisches Stück, das einen Historienstoff verarbeitet. Und während die Musik mit hohem Puls vorantreibt, ist die Szene längst zerfasert und lässt das Publikum ratlos zurück.


FAZIT

Musikalisch gibt es viele spannende Momente in dieser merkwürdigen Oper, festspielwürdig dargeboten, aber die Regie verliert sich allzu kleinteilig darin, die oft unverständliche Handlung mit rätselhaften Bildern zu kommentieren. Geholfen ist Boitos Schmerzenskind Nerone damit nicht.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Dirk Kaftan

Inszenierung
Olivier Tambosi

Bühne
Frank Philipp Schlössmann

Kostüme
Gesine Völlm

Licht
Davy Cunningham

Chor
Lukáš Vasilek



Prager Philharmonischer Chor

Bühnenmusik in Kooperation mit dem
Vorarlberger Landeskonservatorium

Wiener Symphoniker


Solisten

Nerone
Rafael Rojas

Simon Mago
Lucio Gallo

Fanuèl
Brett Polegato

Asteria
Svetlana Aksenova

Rubria
Alessandra Volpe

Tigellino
Miklós Sebestyén

Gobrias
Taylan Reinhard

Dositèo
Ilya Kutyukhin

Cerinto | Pèrside
Katrin Wundsam

Primo Viandante
Hyunduk Kim

Voce di Donna
Shira Patchornik




hier geht´s zu unserem Bericht von

Rigoletto auf der Seebühne
aus dem Premierenjahr 2019


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