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Die Klänge jenseits der Musikvon Stefan Schmöe / Fotos © Christian Palm / Ruhrtriennale 2021
Der Titel des Abends geht auf eine Notiz des Malers Gerhard Richter zurück, der 1964 oder 1965 festgehalten hat: "Ich mag alles, was keinen Stil hat: Wörterbücher, Fotos, die Natur, mich und meine Bilder. (Denn Stil ist Gewalttat, und ich bin nicht gewalttätig)." Übertragen auf die Musik bedeutet Stil eine Einordnung in Schubladen und damit für einen Komponisten oder Komponistin eine Projektion von Erwartungshaltung. Das klingt nach einem ergiebigen Thema für Seminare, Tagungen und lange Feuilletonartikel, in denen man berühmte Stilbrüche untersuchen kann (wie etwa bei Richard Strauß zwischen Elektra und Ariadne auf Naxos oder bei Strawinsky zwischen Sacre du Printemps und Pulcinella), oder die Mechanismen des zeitgenössischen Musikbetriebs hinterfragen, die zweifellos so etwas wie Personalstil einfordern. Wie aber will man die Verweigerung oder Überwindung von Stil, die nicht in banaler Stilvielfalt endet, auf dem Konzertpodium vorführen? Spoiler: Gar nicht.
Patricia Alessandrini, geboren 1970 in Bologna, hat ebendort, in Strasbourg und am Pariser IRCAM studiert und arbeitet und forscht inzwischen in den USA, und ihre Art des Komponierens kann man durchaus als eine Art von Forschung auffassen: Wie kann man ein existierendes Stück Musik von seinem Stil befreien? Das Programm dieses Konzerts ist dementsprechend didaktisch angelegt: Zu hören sind drei Originalkompositionen von Luciano Berio, Claude Debussy und Arnold Schönberg und Alessandrinis stilbefreite "Antworten" darauf. Zudem gibt es während des Konzerts ein Gespräch zwischen der Komponistin und Ruhrtriennale-Dramaturgin Barbara Eckle. Letzteres ist gut gemeint, aber doch ein Beispiel dafür, wie man es besser nicht machen sollte. Erst einmal ergab das Gespräch substantiell nicht viel mehr als das, was man auf dem Programmzettel schon lesen konnte; die Frage, wie sie kompositorisch nun konkret vorgeht, blieb im Wesentlichen unbeantwortet. Und die sympathische Spontanität der Künstlerin wurde immer wieder ausgebremst, weil das in englischer Sprache geführte Gespräch ins Deutsche übersetzt wurde. Das "klassische" Modell, ein solches Gespräch dem Konzert vorzuschalten (vielleicht sogar Fragen des Publikums zuzulassen), wäre wohl effizienter gewesen, hätte auch die Konzertlänge (hier deutlich mehr als zwei fordernde Stunden ohne Pause) in hörerfreundlichere Dimensionen gebracht.
Die Gegenüberstellung von Original und Reflexion ("Bearbeitung" wäre der falsche Begriff) dagegen hat ihren Reiz eben durch das, was alles in Alessandrinis Musik nicht mehr zu hören ist, also durch die Entfernung von der Vorlage. Black ist he colour … (omaggio a Berio) bezieht sich auf einen der Folk Songs von Luciano Berio (1925 - 2003), komponiert 1964 für Stimme und sieben Instrumente, und bereits bei Berio ist das eine sehr eigene künstlerische Interpretation vorgefundener Musik. In Alessandrinis Komposition von 2012 für Flöte, Klarinette, Viola, Cello, Schlagzeug und verstärktes Klavier, bei der sich aus schwer zuzuordnenden Geräuschen eine abfallende Tonleiterskala herausschält (die es bei Berio nicht gibt), erkennt man nichts davon wieder. Vielmehr wirkt die Komposition (die mit etwa sieben Minuten rund doppelt so lang ist wie Berios Song) wie ein Reflex auf eine sehr weit entfernte Musik, von der hier ein Nachhall eingefangen ist. sehr zart und voller Wehmut. Rhythmus, Melodie oder Harmonik haben sich völlig aufgelöst, auch eine wahrnehmbare oder definierbare Tonhöhe bleibt die Ausnahme und wirkt in der genannten Tonleiterfigur umso signalhafter. Es bleibt - wie bei den anderen Werken des Abends - die Frage, ob man das "Original" überhaupt kennen muss, um diese Musik zu hören, ob die sinnliche Qualität nicht längt zu einer Ablösung geführt hat. Diese Frage bleibt offen.
Claude Debussys Les Chansons de Bilitis (entstanden 1900 - 1901) basiert auf einem Gedichtszyklus des belgischen Dichters Pierre Louÿs, der, von der Antike besessen, diese als originäres Werk aus dem Umfeld der Sappho (um 630 v. Chr. - um 570 v. Chr.) herausgab (und so manchen Kenner der Antike damit täuschte). Debussy lässt 12 der Gedichte um die Schäferin und spätere Kurtisane Bilitis und deren sexuelle, auch homoerotische Selbstfindung, rezitieren und hat eine ungemein delikate "szenische Musik" für zwei Flöten, zwei Harfen und Celesta darum herum komponiert, erlesen klangsinnlich gespielt von den Musikerinnen und Musikern des Ensemble Modern und sehr poetisch gesprochen von Justine Assaf in französischer Sprache - die deutsche Übersetzung in winziger Schrift auf dem Programmzettel lässt sich während des Konzerts nicht mitlesen, was ein wenig bedauerlich ist. Alessandrini antwortet darauf mit vier Miniaturen für Gitarre und Live-Elektronik, wobei sich akustische und elektrische Gitarre abwechseln. Auch hier besteht die Musik aus Klangereignissen, die kaum zuzuordnen sind, keinen direkten Bezug zu Debussy erkennen lassen (der Klang der Celesta ist im Anzupfen der Saiten zu erahnen, wenn man den will), wohl aber die Poesie weitertragen. Es spielt der chilenische Gitarrist Mauricio Carrasco, die Komponistin selbst agiert am Mischpult.
Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht (1899) ist eine subtil gearbeitete, rund halbstündige spätromantische Komposition, vom Ensemble Modern zurückgenommen introvertiert und mit gehöriger Melancholie interpretiert. Alessandrini reagiert darauf mit dem (nicht einmal halb so langen) Streichquartett Forklaret Nat (2011 - 2012), oft mit geräuschhafter Tonerzeugung, rhythmische, melodische oder gar harmonische Strukturen und Zusammenhänge sind nur angedeutet. Auch hier scheint sich eine Wand zwischen die Originalkomposition und Alessandrinis Antwort geschoben zu haben, die bestimmte Elemente verfremdet durchschimmern lässt und provoziert, dass man diesen Klängen nachhört und die verschollene Musik dahinter sucht - nicht im Sinne etwas Fehlendem, mehr einem nicht mehr Greifbaren.
Befreiung vom Stil? Natürlich definiert dieses Konzert sehr markant einen musikalischen Personalstil Patricia Alessandrinis, der sich durch alle drei Kompositionen verbindend hindurchzieht. Gewalttat? Mag sein. Ein faszinierender Fall von Autoagression.
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Produktionsteam
Mezzosopran
Rezitation
Gitarre
Live-Elektronik
Dramaturgie und Gespräch
Übersetzer
Künstlerische Produktionsleitung
Technik
Flöte
Klarinette
Klavier
Schlagzeug
Harfe
Violine
Viola
Violoncello
Klangregie
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- Fine -