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Festspielhaus Baden-Baden
23.9.2003


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Die Sprache der Musik allein

Die Wiener Philharmoniker spielen unter Pierre Boulez Orchesterstücke von Anton Webern und Mahlers vierte Sinfonie

Von Christoph Wurzel


"Im ersten Satz und im ,Himmlischen Leben' herrscht ein Laut possierlichen Humors, der seltsam mit der Verklärung zusammenstimmt, die den Grundton des Werkes ausmacht. Das Scherzo ist eine Art unheimlicher Märchenepisode; sein dämonisches Geigensolo und das anmutvolle Trio stehen in interessantem Kontrast zu den anderen Teilen der Symphonie, ohne den Ton der Leichtigkeit und des Geheimnisses zu verlassen. In Bezug auf die tiefe Ruhe und klare Schönheit des Andante sagte mir Mahler, er habe dabei die Vision eines der Kirchengrabmäler gehabt, wo das liegende Steinbild des Verstorbenen mit gekreuzten Armen im ewigen Schlaf dargestellt ist. Das Gedicht, dessen Vertonung den letzten Satz bildet, schildert nun in Worten die Atmosphäre, aus der die Musik der Vierten stammt; die kindlichen Freuden, die es ausmalt, symbolisieren die himmlische Seligkeit und erst als am Schluss die Musik als höchste der Freuden genannt wird, geht der Ton des Humors sanft in den einer verklärten Feierlichkeit über." Als Kronzeuge überlieferte Bruno Walter dieses poetische innere Programm von Mahlers vierter Sinfonie und konnte sich als künstlerischer Mitarbeiter wie als Freund dabei auf den Komponisten selbst berufen.

Authentischer kann Interpretation kaum sein, wie sollte da ein Publikum von den nachschöpfenden Künstlern nicht erwarten, dass sie seine Phantasie geradewegs in derartige Bahnen lenken? Doch schon Beethoven verwahrte sich - anlässlich seiner Pastoralsinfonie - gegen zu viel Tonmalerei in der Musik, "mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei" schrieb er über die Partitur.
Es kommt nun einer Gratwanderung gleich, in der Musik Gustav Mahlers den Subtext dieser stark biografisch beeinflussten inneren Bilder, seiner intensiv erlebten Empfindungen, seiner Kindheitsreminiszenzen, seiner Erlösungssehnsüchte, die darin schier in die Ohren stechen, hör- und erlebbar zu machen, aber zugleich dergestalt das Werk nicht allein auf ein Tongemälde zu reduzieren. In diesem Spannungsfeld muss sich jede Aufführung eines Werkes von Mahler bewähren. Die Auffassung von Pierre Boulez, die er jüngst in Baden - Baden mit den Wiener Philharmonikern realisierte, vermochte genau diese Dialektik aus epischem Gehalt und rein musikalischem Formprinzip auf beeindruckende Weise erfahrbar zu machen.
Im Vergleich etwa zu Simon Rattle, der einen stark expressiven Zugang zu Mahler wählt oder zu Michael Gielen ( seine Mahlerinterpretationen gehören in Baden - Baden - auch schon aus Zeiten vor der Existenz des Festspielhauses - zu alten Bekannten ), der die klangliche Modernität Mahlers in ihren Kontrasten und Schärfen stark betont und ihn so als Wegbereiter der Moderne ausweist, hat Pierre Boulez einen mittleren Weg gewählt, der die emotionale Grundierung nicht verschweigt, aber ebenso deutlich die strukturellen Elemente der Komposition, im eigentlichen Sinne die Syntax der Musik, herausarbeitet - und dies in einer Klarheit, die bestechen kann. Die Philharmoniker folgten ihm zudem in einer Klangschönheit, die geradezu überwältigend war.

Bereits im 3. und 4. Takt des ersten Satzes wurde klar, wohin die Reise geht. Deutlich ausgespielt, aber nicht besonders betont, waren die rhythmischen Reibungen zwischen den Schellen und Flöten auf der einen und den Klarinetten und Violinen auf der anderen Seite. Doch diesem leisen Anklang an die Wiener Gemütlichkeit wurde erst gar nicht nachgegeben. Der Satz entfaltete sich in seiner Formgestalt auf außergewöhnlich klare Weise. Im Scherzo fiedelt die um einen Ton höher gestimmte Geige recht penetrant gegen die Gemächlichkeit des Orchesters an: Auch hier betonte Boulez weniger das Gespenstische, Groteske dieses Satzes ( Mahler selbst sprach von Freund Hein, der hier aufspiele), sondern beließ es beim "Als ob". Deutlich zu Ohren kamen dafür die polyphonen Strukturen des Satzes, der schon manches in den späteren Sinfonien Mahlers erahnen lässt. Dem 3. Satz, einem ausladenden Adagio, fehlte trotz seines der-Welt-abhanden-gekommen-Seins jede falsche Sentimentalität. So schön spielten die Philharmoniker, dass es einem ein "Verweile doch" hätte entlocken können. Im 4. Satz setzte Boulez dann aber doch noch einen besonderen interpretatorischen Akzent und versah die Schellen und Flöten, bevor es "frisch bewegt" mit dem Lämmchen zur Schlachtbank geht, mit einer hervorstechenden Portion Schärfe, die Rasiermessern gleich, die himmlische Idylle doch erheblich in Zweifel zog. Dann wunderbar gelungen der Übergang zum Höhe- und Endpunkt der ganzen Sinfonie, auf den alles von Anfang an zuläuft, molto tenero e misterioso, wo der paradiesische Zustand in der Musik zum Ereignis wird und der Satz im dreifachen pianissimo verlöscht: Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die uns`rer verglichen kann werden!
Solchermaßen gelang ein Mahler - Erlebnis, das trotz einer gewissen emotionalen Distanziertheit, zugleich aber wegen seiner umso größeren gedanklichen Schärfe und vor allem dank der unübertrefflichen Klangschönheit wirklich außergewöhnlich genannt werden kann. Dabei ließ sich auch verschmerzen, dass der Sopranpart von Luba Orgonasova, kurzfristig für Juliane Banse eingesprungen, wenig prägnant und vor allen kaum textverständlich gestaltet war.

Die eigentliche Sensation aber war die halbe Stunde des ersten Programmteils mit den Orchesterstücken von Anton Webern, mit Werken also, die dort anknüpfen, wo Mahlers Tonsprache sich erschöpft hat.
Die Passacaglia ist Weberns letztes tonales, spätromantisches Stück, das er aus dieser Schaffensperiode als einziges anerkannte und dem er die Opuszahl 1 gab. Dieses Werk von 1908 entfaltet fast aus den Nichts, aus ganz leicht und leise getupften Pizzicati heraus einen auf- und absteigenden Spannungsbogen und verschwindet ebenso leise wieder im Nichts. Weberns Meisterschaft in der Durcharbeitung des musikalischen Materials ebenso wie in der Behandlung der Klangfarben kulminiert bereits in diesem etwa dreizehnminütigen Werk. Boulez, selbst aus der Schönberg- und Webernschule kommend, durchdrang diese Musik ganz selbstverständlich und formte deren Struktur zu größter Klarheit aus.
Es folgten zwei Gruppen von teilweise äußerst kurzen tönenden Impressionen, die etwas längeren und größer besetzten 6 Stücke op. 6 und die außerordentlich subtilen, zum Teil nicht einmal minutenlangen, ganz kammermusikalisch instrumentierten 5 Stücke op. 10, die aus den Jahren 1911 bis 1913 stammen. Hier konnten die Philharmoniker alles aufbieten, was sie an Tonschönheit, Klangraffinesse und Spielkultur zu bieten haben. In Weberns hoch artifiziellen Miniaturen bewies sich der Ausnahmerang dieses Orchesters. Und Boulez erlaubte in weitgespannten Nuancen die ganze Palette des Ausdrucks, dessen Musik fähig ist. Es wurde nicht nur eine Sternstunde des Orchesterspiels, sondern auch eine höchste Würdigung für Weberns einsamen, künstlerischen Rang.

Arnold Schönberg hatte über die Musik seines Schülers Anton Webern bemerkt, sie werde "nur verstehen, wer dem Glauben angehört, dass sich durch Töne Sagbares ausdrücken lässt". Pierre Boulez und die Wiener Philharmoniker haben in diesem Sinne Weberns und Mahlers Musik in schönster Weise zum Sprechen gebracht.


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Programm:


Anton Webern
Passacaglia für Orchester, op. 1

Fünf Stücke für Orchester, op. 10

Sechs Stücke für Orchester,op. 6

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 4 G - Dur



Luba Orgonasova, Sopran
Wiener Philharmoniker
Leitung: Pierre Boulez





Da capo al Fine

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