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Hector Berlioz
Grand Messe des Morts, op. 5
(Requiem)

im Festspielhaus Baden-Baden
am 27. März 2004
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Festspielhaus Baden-Baden
(Homepage)
Zum Raum wird hier Musik

Von Christoph Wurzel

Heinrich Heine, der zum Zwecke des Broterwerbs regelmäßig über das Pariser Musikleben berichtete, hatte offenkundig eine zwiespältige Meinung über Hector Berlioz. An einer Stelle bezeichnet er ihn als den "größten und originellsten Musiker, den Frankreich in letzter Zeit hervorgebracht hat", an einer anderen Stelle zählt er Berlioz zu den "merkwürdigsten, nicht den erfreulichsten, nicht den schönsten Erscheinungen der hiesigen musikalischen Welt" und lässt sich sehr bissig über den Komponisten und dessen Fantastische Sinfonie aus. Er macht sich über die häufige Verwendung der Pauke lustig, nennt die Musik sentimental und beklagt Berlioz' Hang zum Riesenhaften und materiell Unermesslichen. Die Instrumentierung sei kreischend und die Melodie spärlich. Berlioz Musik erinnere ihn an die Architektur der antiken Kulturen in Babylon oder Ägypten.

Diese Assoziationen sind interessant, weil sie sich wirklich bei Berlioz Musik einstellen können - und natürlich besonders beim Requiem. Allein der Bewertung würde man sich heute wohl kaum mehr anschließen. Was bei Heine zu dem Verdikt der "Urweltlichkeit" dieser Musik führt, dürfte aus heutigen Sicht wohl eher der Beleg für Berlioz' Modernität sein: dessen Formbehandlung, die alle bis dato gekannten Grenzen zu sprengen schien, eine expressive Instrumentation und eine plastische musikalische Dynamik, die bis zur kalkulierten Ausnutzung des Raumes als zusätzlichem Instrument geht.

Das "Berlioz - Jahr" um seinen 200. Geburtstag herum ist nun glücklicherweise Anlass, das Urteil über diesen Komponisten zu überprüfen, das mitunter bis heute von Missverständnissen geprägt zu sein scheint und seine Musik so wahrzunehmen, wie sie es verdient.

Zu den bedeutenden Berliozkennern ebenso wie zu den erklärten Berliozverfechtern gehört zweifellos Sylvain Cambreling, der jetzt mit dem Requiem eine fünftägige Konzerttournee unternimmt. Und hier kann sich jeder davon überzeugen, dass Heine gleichzeitig Recht hatte und sich geirrt hat. Denn in dieser Aufführung erinnerte die Musik tatsächlich an kolossale Architektur, bewies aber zugleich, wie Berlioz auch mit subtilen Mitteln ergreifende Wirkungen zu erzielen vermag.

Das SWR Sinfonieorchester ist natürlich für diese Art Musik nahezu prädestiniert, denn es verfügt über eine enorme Spielgenauigkeit und eine ausgeprägte stilistische Flexibilität -ein hohes Niveau, das in der permanenten Auseinandersetzung mit auch der modernsten Musik gewachsen ist. Unter dem langjährigen Chefdirigenten Michael Gielen wurde es intensiv vor allem an Beethoven, Mahler und an der Klassischen Moderne geschult. Silvain Cambreling, der das Orchester seit 1999 führt, hat in den letzten Jahren neben anderem besonders auch das französische Repertoire gepflegt - von Rameau über Berlioz bis hin zu Messiaen.
Gleichermaßen legt Cambreling Wert darauf, das musikalische Geschehen transparent werden zu lassen und zugleich die Spannung der Musik intensiv erlebbar zu machen. Dies ist in der Aufführung des Requiems von Berlioz wieder beeindruckend gelungen.


Schon in den ersten etwa 20 Takten mit ihrer abgestuften Dynamik in an- und abschwellender Lautstärke und über die Spannung steigernden Generalpausen hinweg baute Cambreling mit dem Orchester im Introitus das Szenarium für die erste Anrufung "Gib ihnen die ewige Ruhe" auf. Streng entwickelte sich der Satz bis zum Kyrie eleison, das vom Chor mehr gesprochen als gesungen wurde, was schon entsprechende Stellen etwa in Schoenbergs Moses und Aron vorausahnen ließ.


In der Symphonie fantastique hat Berlioz bekanntlich den "dies irae" - Cantus firmus mit spektakulärer Wirkung eingesetzt, im Requiem verzichtet er an der entsprechenden Stelle darauf, sondern lässt die Vorstellung vom Tag des Zornes zuerst gleichsam episch in rhythmisch überpointierten Weise vom Chor gestalten: hervorragend gelang dies durch die EuropaChorAkademie, die trotz der Riesenbesetzung bei diesem Werk dennoch stets durchhörbar klar blieb.

Erst zum "tuba mirum" setzt Berlioz einen monumentalen Klangapparat in Bewegung, der neben dem eigentlichen Orchester allein 8 Paar Pauken, zehn Becken und vier Tamtams sowie vier Fernorchester aus insgesamt 38 Blechbläsern (Trompeten, Posaunen und Tuben) aufbietet. An allen vier Ecken des Raumes auf den Rängen verteilt waren die Fernorchester in Baden - Baden und entfachten ein Klangbeben von solch außerordentlicher Gewalt, als sollte die Erde bersten und der Weltenrichter mit unvorstellbarer Macht sein Gericht abhalten. Hier wurde erfahrbar, was über Berlioz Musik gesagt wurde: sie sei die Musik eines mentalen Theaters. In scharfem Kontrast zu dieser Urgewalt wurde die Frage der armen Seele "quid sum miser tunc dicturus" vom solistischen Englischhorn und zwei Fagotten in subtil abgestimmter Klangfarbe klagend begleitet.

Im darauffolgenden "rex tremendae" zeigte der Chor wiederum seine hohe Flexibilität: erst vor allem in den Männerstimmen die kalte Pracht der Anrufung der Furcht einflößenden göttlichen Majestät, dann die flehende Bitte um Erlösung im Sopran. ( Übrigens hat Berlioz für das ganze Werk keine Altstimmen vorgesehen. ) Zu den Worten "Befreie mich aus dem Rachen des Löwen" ließen sich markant die Tuben in tiefsten Regionen vernehmen. Berlioz' Vorliebe (die ihn im übrigen mit Mahler verbindet), den Klangraum der Instrumente weit auszuschreiten - auch dieses Detail ließ Cambreling nicht unbeachtet.

Das "lacrimosa" erzielte durch seinen unregelmäßig betonten 9/8 - Takt die von Berlioz einkomponierte bizarre Wirkung. Das Schluchzen der armen Seelen und ihr Flehen um Milde vor dem strengen Richter wurden musikalisches Ereignis. Im Offertorium türmte sich nochmals der Klang wie zu einer gotischen Kathedrale monumental auf, um dann am Schluss im Gedächtnis Jesu Christi mit ergreifender Wirkung im dreifachen Piano in die Höhe zu entschweben.

Von besonderer kompositorischer Raffinesse ist das "hostias", die Darreichung der Opfergaben, das Berlioz vom Chor auf lediglich zwei Tönen psalmodierend zu einer Begleitung durch Flöten in extrem hoher Lage und Posaunen in betont tiefer Lage vortragen lässt. Der Chor meisterte diesen Part in einer Art gestischem Gesang in herausragender Weise.

Im "sanctus" tritt ein Solotenor hinzu, den in der Aufführung der Amerikaner Paul Groves in nahezu idealer Weise sang. Er war vor dem Chor platziert und verwob sich gut mit dem Gesangskollektiv. Groves entfaltete eine reiche Palette an Valeurs und bestach durch schönes Timbre. In der extremen Höhe wechselte er bei den Worten "et terra" im Piano beim hohen B ins Falsett - auf Kosten der Strahlkraft, aber immerhin zu Gunsten der Klangschönheit. Ansonsten konnte er sowohl in den hymnisch kraftvollen Passagen wie auch den lyrisch zarten im Ausdruck durchaus überzeugen.

Auch im "agnus dei" stellte Cambreling mit dem Orchester die besonderen instrumentalen Wirkungen deutlich heraus: Zu Beginn verzeichnet die Partitur mehrere liegende Akkordblöcke in Korrespondenz zwischen den Flöten und den Bratschen. Durch vibratoloses Spiel beider Gruppen entstand in der Aufführung der Eindruck einer fahlen Entrücktheit, eines still stehenden Zustands des Nichts, eines amorphen Ewigkeitsmoments - jenes Moments der Erwartung, bevor das ewige Licht der Erlösung in den harpeggierenden Streichern sich ausbreitet, angereichert von den darüber liegenden Bläsern und von den Pauken markant geformt. So schwebte es in einer abschwellenden Klangwolke verlöschend im Raum. Leider mussten ein paar ganz Begeisterte diesen ergreifenden Eindruck durch allzu plötzliches Klatschen jäh zerstören. Dennoch blieb der Nachklang an einen ungewöhnlich intensiven musikalischen Abend lebendig im Gedächtnis haften.


FAZIT

Mit einer ausgefeilt genauen und klanglich opulenten Aufführung haben das SWR Sinfonieorchester und Sylvain Cambreling Berlioz nicht nur als einen großartigen, sondern auch als einen ungeheuer modernen Komponisten vorgestellt.




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Paul Groves. Tenor

EuropaChorAkademie
Einstudierung: Joshard Daus

SWR Sinfonieorchester
Baden-Baden und Freiburg

Leitung: Sylvain Cambreling

Weitere Aufführungen:
28. März Luzern, Kultur-
und Kongresszentrum

31. März: Freiburg, Konzerthaus

1. April: Leverkusen, Bayer Forum

2. April: Frankfurt, Alte Oper

Live - Übertragung im Programm SWR 2
am 1. April aus Frankfurt





Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Festspielhaus Baden-Baden
(Homepage)



Da capo al Fine

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