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Keine Angst vor der Musik des 20. Jahrhunderts !
Zumindest nicht, wenn sie so kompetent vorgetragen wird
Von Gerhard Menzel / Fotos: Tonhalle Düsseldorf Im Rahmen seiner Deutschland-Tournee vom 26. bis 29. November, war das Bergen Philharmonic Orchestra unter seinem Chefdirigenten Andrew Litton in Wiesbaden (26.11.), Regensburg (27.11.) Köln (28.11.) und Düsseldorf (29.11.) zu Gast. Der in New York geborene Andrew Litton trat 1988 sein erstes Amt als Chefdirigent beim Bournemouth Symphony Orchestra in Großbritannien an. 1994 kehrte er in sein Heimatland zurück und übernahm als Musikdirektor das Dallas Symphony Orchestra, das er in zwölf Jahren zu einem der führenden amerikanischen Klangkörper formte. Gastdirigate führten Andrew Litton an die Pulte fast aller bedeutenden Orchester sowie als Operndirigent u. a. an die Metropolitan Opera New York, nach Covent Garden in London und ans Opernhaus von Los Angeles. Im Jahr 2003 übernahm Andrew Litton die Position des Chefdirigenten beim Bergen Philharmonic Orchestra/Norwegen. Mit seiner 240 jährigen Geschichte ist das Bergen Philharmonic Orchestra eines der ältesten Orchester der Welt. Zu den bekanntesten Gastdirigenten im 20. Jahrhundert gehörten u.a. Leopold Stokowski, Ernest Ansermet, Pierre Monteux, Sir Thomas Beecham und Sir John Barbirolli. Zusammen mit den Philharmonikern von Oslo wurde das Orchester 1996 in den Status eines nationalen Symphonieorchesters in Norwegen erhoben. Auch Edvard Grieg leitete für drei Jahre (1880-82) das Orchester seiner Heimatstadt. Mit Griegs "Trauermarsch auf Rikkard Nordraak" wurde das Konzert in Düsseldorf auch eröffnet, das ansonsten zwei gewichtigen Werken des 20. Jahrhunderts gewidmet war. Der norwegische Komponist Rikkard Nordraak (1842-1866) war ein Freund von Edvard Grieg und komponierte als 18-jähriger die norwegische Nationalhymne. Beide verfolgten die Idee einer eigenständigen norwegischen Musik unter Einbeziehung von Elementen der Volksmusik. Als Nordraak 1866 im Alter von nur 23 Jahren in Berlin an Tuberkulose starb, komponierte Grieg diesen - ursprünglich für Klavier geschriebenen - eindrucksvollen Trauermarsch. Leila Josefowicz
Als Solistin begleitete die junge Amerikanerin Leila Josefowicz die Tournee des Bergen Philharmonic Orchestra, die abwechselnd mit den Violinkonzerten von Beethoven und Schostakowitsch auftrat. Das David Oistrach gewidmete Konzert, der es am 29. Oktober 1955 als op. 99 mit den Leningrader Philharmonikern unter der Leitung von Jewgeni Mrawinsky uraufführte, hatte Schostakowitsch allerdings schon zwischen Juli 1947 und März 1948 als Opus 77 komponiert. Es verschwand "in der Schublade", da das ZK der Kommunistischen Partei es auf den Index antivolkstümlicher, formalistischer und damit "volksfeindlicher" Tendenzen setzte (wie reine Instrumentalmusik überhaupt). Nachdem sich die politischen Verhältnisse geändert hatten, holte es Schostakowitsch nach sieben Jahren wieder hervor und gab ihm die Opuszahl 99 (obwohl er das Werk - bis auf ganz kleine Änderungen in der Instrumentation - unangetastet ließ). Durch seine komplexen harmonischen und thematischen Strukturen und höchste spieltechnische Ansprüche ist Schostakowitsch's 1. Violinkonzert eines der anspruchsvollsten und musikalisch forderndsten Violinkonzerte überhaupt. "Unsägliches Leid" steht im Programmflyer als Motto über dem Konzert, was dessen Stimmung ganz gut trifft, nehmen doch die Melancholie und Schwermut eindeutig den größten Raum ein. Diese bestimmen neben dem noch eher verträumten Nocturne zu Beginn vor allem die monumentale Passacaglia, die allerdings mehr und mehr zerfasert und die Violine schließlich völlig allein lässt. Gerade dieses fünf Minuten währende Violinsolo (Cadenza) ist nicht nur mit anspruchsvollster Technik gespickt, sondern transportiert auch eine äußerst fesselnde, atmosphärische Intensität. Die ungeheure Expressivität des Vortrags war bei Leila Josefowicz sowohl zu hören, als auch deutlich zu sehen. Nur in dieser Passage war das ansonsten sehr hust- und räusperintensive Publikum wirklich mucksmäuschenstill und verfolgte die Violinstimme mit äußerster Anspannung und Aufmerksamkeit. Alleine diese wenigen spannungsgeladenen Minuten machten diesen Abend schon zum Ereignis! Einen herben Kontrast dazu bilden die virtuosen Passagen mit extrem grotesker "Heiterkeit", die sich sowohl im Scherzo, als auch in der finalen Burlesque zu unglaublicher Raserei steigern, als spiele der Teufel selbst zum letzten Tanz auf. Die irrwitzigen Läufe und Doppelgriffpassagen fordern aber nicht nur die linke Hand bis zum Äußersten, sondern auch eine unglaublich konzentrierte und technisch überragende Bogentechnik. Wenn dabei das eine und andere Bogenhaar auf der Strecke bleibt, ist das also nicht verwunderlich. Dass Leila Josefowicz nach diesem Parforceritt dennoch nicht völlig ausgepowert und am Ende ihrer psychischen und physischen Kräfte angelangt war, bewies sie in ihrer Zugabe; nicht wie so oft mit Bach, sondern mit einer ebenso packenden, zeitgenössischen Komposition von Esa-Pekka Salonen "Lachen verlernen!" Andrew Litton
Nach diesem fulminanten "Solo-Feuerwerk" folgte im zweiten Teil des Abends ein wahres "Orchester-Feuerwerk": Igor Strawinskys Ballettmusik "Le Sacre du Printemps". Andrew Litton und dem phänomenal aufspielenden Bergen Philharmonic Orchestra gelang eine äußerst wirkungsvolle und mitreißende Interpretation. Die Übereinanderschichtung von sich ständig wiederholenden musikalischen Motiven (Ostinati) und die nur gelegentlich hervortretenden melodischen Elemente, die oft genug ebenfalls ostinaten Charakter annehmen, indem sie nur noch um sich selbst kreisen, waren gut herausgearbeitet und rhythmisch präzise gestaltet. Das Orchester nahm die Funktion eines überdimensionalen Schlaginstruments an, das die häufigen Taktwechsel, die Behandlung von Rhythmus und Dynamik und die impressionistisch dissonanzreiche Harmonik so handhabte, dass die Lage und Instrumentation der einzelnen Dreiklänge heraushörbar blieben und sich einer diatonischen Tonleiter zuordnen ließen. Diese Multitonalität machte zugleich deutlich, dass Strawinskys "Le Sacre du Printemps" nichts mit der später von Schönberg praktizierten Atonalität zu tun hat. Andrew Litton und das Bergen Philharmonic Orchestra bedankten sich beim begeisterten Publikum - das die Tonhalle leider nich ganz füllte - mit Edward Griegs streicherseeligem "Letzter Frühling" (aus: Elegische Melodien op. 34) und der klangprächtigen und schwungvollen Festovertüre op. 96 von Dimitri Schostakowitsch.
Dieses Konzert brach eindeutig eine Lanze für die "große" Konzert- bzw. Orchestermusik des 20. Jahrhunderts. Wenn diese so interpretiert wird, braucht man sich wirklich nicht davor zu "fürchten"! Über mehr "nordische" Musik hätte man sich trotzdem gefreut. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Bergen Philharmonic Orchestra Leila Josefowicz Violine Andrew Litton Dirigent Edvard Grieg Trauermarsch auf Rikkard Nordraak Dmitri Schostakowitsch Violinkonzert a-moll op. 77 Igor Strawinsky Le Sacre du Printemps
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