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Der für die Sünde der Welt
leidende und sterbende Jesus
(„Brockes Passion“)

Passionsoratorium auf Worte
von Barthold Heinrich Brockes
Musik von Georg Philipp Telemann


Aufführung am 21. März 2008
ca. 3 Stunden
im Festspielhaus Baden-Baden
Homepage

Festspielhaus Baden-Baden
(Homepage)
Eine Lanze für Telemann

Von Christoph Wurzel

„Du zeigst uns abermal, beliebter Telemann,
Was deine Kunst in uns für Wunder schaffen kann,
Indem dir Brockes Geist die reiche Feder führet,
Und so, wie seine Schrift, dein Ton die Herzen rühret.“

So schwärmte in einem Gedicht an den „Herrn Capellmeister Telemann“ ein Christian Friedrich Weichmann in Hamburg im Jahre 1726 von dessen „Brockes Passion“.

Dies zeugt von der großen Wirkung, die sowohl der Text von Brockes als auch Telemanns Musik auf die Zeitgenossen ausgeübt haben müssen. Telemann selbst hat nicht ohne Stolz schon vom Erfolg der ersten Aufführung seines Passionsoratoriums am 2. April 1716 in Frankfurt berichtet, die unter dem regelrechten Ansturm einer „unsäglichen Menge von Zuhörern“ und in Anwesenheit zahlreicher Fürsten des Reichs stattgefunden hatte. Wegen derart großer Nachfrage musste die Aufführung vom „Armen-, Waisen- und Arbeitshause“, zu dessen Gunsten das Konzert stattfand, in die Barfüßerkirche verlegt und auch noch am folgenden Tage wiederholt werden. Es handelte sich um echte Benefizkonzerte, denn die Zuhörer mussten die gedruckte Textbroschüre erwerben und beim Einlass wie eine Eintrittskarte vorweisen. Der große Erfolg setzte sich in den folgenden Jahren fort, Telemanns Passionsmusik gehörte im 18. Jahrhundert offenbar zum Kernbestand geistlicher Musik. Auch Bach hat sie geschätzt und wahrscheinlich in der Thomaskirche auch aufgeführt. Heute allerdings ist Telemanns „Brockes Passion“ nahezu unbekannt, bis René Jacobs mit dem Werk nun auf Tournee gegangen ist. Am Karfreitag gastierte er auch in Baden-Baden.

Vergrößerung in neuem Fenster Titelblatt des Textbuches
(Frankfurt, 1716. Universitätsbibliothek Frankfurt)

Während Bachs Passionen in den Gottesdienst integriert waren, war „Brockes Passion“ allerdings schon damals für den bürgerlichen Musikbetrieb gedacht. Und während in Leipzig Rat und Konsistorium streng darauf achteten, dass Text und Musik nicht allzu sehr dem frommen liturgischen Zweck entgegen standen, war Brockes und Telemanns Passion in Frankfurt ganz bewusst auf äußere Wirkung bedacht. Text wie auch Musik tragen unverkennbar opernhafte Züge. Und Opernsänger waren auch die Mitwirkenden, denn in der Karwoche waren die Theater geschlossen und die besten Sängerinnen und Sänger standen zur Verfügung. Deren Bedürfnisse nach wirkungsvoller Selbstdarstellung habe Telemann, so betonte René Jacobs in einem Rundfunkinterview im Vorfeld der Baden-Badener Aufführung, stellenweise denn auch zu sehr bedient. Der Dirigent nahm sich daher die Freiheit für seine Aufführung derartige Stellen zu kürzen.

Noch aus einem anderen Grund nahm René Jacobs Kürzungen vor, aus einem Grund, der den Text des Hamburger Privatphilosophen, Juristen, Ratsherrn, Senators und Dichters Barthold Heinrich Brockes betrifft. Ganz in barocker Sprache ist der Text seiner geistlichen Dichtung über die Passion Christi gehalten, die er schon 1712 veröffentlicht hatte. Das Leiden Jesu wird darin schockierend direkt, drastisch und all seiner Brutalität geschildert, deren heftigste Stellen Jacobs dem Publikum auch angesichts der Gesamtlänge des Werks ersparen wollte. Andererseits aber ist diese bildmächtige Sprache auch eine besondere Qualität, die den Text zur idealen Vorlage für eine affektbetonte und expressiv eindringliche Vertonung macht. Mindestens zehn weitere Komponisten der Zeit haben Brockes Passion daher auch vertont, als erster der Hamburger Reinhard Keiser, dessen Oratorium Brockes sogar im eigenen Hause privat uraufführen ließ. Im selben Jahr wie Telemann vertonte Händel den Text, später u.a. noch Johann Mattheson, Johann Friedrich Fasch, Gottfried Heinrich Stölzel. All diese Fassungen wären ebenfalls noch näher zu entdecken, nur von wenigen gibt es z.B. Aufnahmen.

Seit längerem setzt Jacobs sich besonders auch für die Opern und andere dramatische Vokalwerke Telemanns ein. Dafür dass er also unermüdlich eine Lanze für Telemann bricht, hat er auch in diesem Jahr den Telemann-Preis der Stadt Magdeburg erhalten. Und mit der Aufführung der „Brockes Passion“ ist ihm sein Anliegen aufs Schönste gelungen. Er hat gezeigt, um welch beeindruckende Musik es sich bei diesem Werk handelt.

Schon die einleitende Sinfonia ist ein Instrumentalstück von überraschender Ausdrucksintensität. In den langsamen Anfangstakten wird in fast stehenden Akkorden und zuerst undefinierter Tonart eine Stimmung von Öde und Verzagtheit erzeugt: die Ausgangslage des unerlösten Menschen lässt sich hier nachfühlen. Der Instrumentalsatz entwickelt sich mehr und mehr zum konzertierenden Wechselspiel zwischen klagend melodischen Oboenlinien und schroffen Streicherakzenten hin zu lebhaften melodischen Verwicklungen: Leiden und Todeskampf Jesu während der Passionsgeschehnisse. Die Musik mündet schließlich in den ersten Choral, in welchem der „Chor der Gläubigen Seelen“ die religiöse Bedeutung der Passion Christi für den einzelnen Gläubigen reflektiert, Textzeilen, die auch Bach in seiner Johannespassion verwendet hat: „Mich vom Stricke meiner Sünden zu entbinden, wird mein Gott gebunden“. So wird in der Verbindung von Einleitungsmusik und Choral das ganze innere Programm des Werks entfaltet.

Wie dieser Beginn so sind das ganze Werk über die Mittel der barocken Rhetorik in Text und Musik in geradezu verschwenderischer Fülle eingearbeitet und miteinander verwoben. In zahlreichen Arien - es sind weit mehr als bei Bach - werden die aus der Passionshandlung erwachsenden Affekte musikalisch reich ausgestaltet und Telemann spart nicht mit tonmalerisch expressiven Mitteln. Enorm wirkungsvoll schildert die Musik etwa die Striemen auf Jesu Rücken und das Aufsetzen der Dornenkrone während der Geißelung oder die Sonnenfinsternis nach seinem Tod. Ein besonderer Höhepunkt ist auch das Terzett, welches Jesu Wort “Es ist vollbracht“ reflektiert. Die recitativi accompagnati sind zu kleinen dramatischen Szenen der Leidensgeschichte ausgebaut und reich an musikalischen Illustrationen. Zur hohen dramatischen Wirkung tragen auch die Arien bei, die den Rollen selbst zugeordnet sind, etwa Jesus in der Leidensszene am Ölberg oder Petrus nach seiner Verleugnung Jesu. Selbst ein Duett zwischen Jesus und seiner Mutter Maria enthält die Komposition. Die Rezitative des Evangelisten, im Text gereimte Paraphrasen der Bibelworte, sind melodisch abwechslungsreich und verziert. Der Chor ist in der Rolle der Volksmenge dramatisch effektvoll eingesetzt und ihm obliegen die wenigen Choräle.

Eine außerordentlich bildhafte und sprechende Musik also, die in der Baden-Badener Aufführung eine höchst angemessene Umsetzung erlebte. Jacobs Dirigat zeichnete sich durch ein hohes Maß an klanglicher Plastizität, präziser Artikulation und intensiver Ausdruckskraft aus. Das Ensemble „Akademie für Alte Musik“ aus Berlin, wie Jacobs ebenfalls Träger des Magdeburger Telemann-Preises (2006) und mit ihm in Sachen Telemann schon in langjähriger Zusammenarbeit verbunden, bewies seine Kompetenz als höchst lebendig und gar nicht akademisch musizierendes Spitzenensemble in historischer Aufführungspraxis. Besonders die Solisten in der Begleitung der Arien – Telemann hat 17 solistische Partien vorgesehen – spielten technisch souverän und klangschön. Auch der RIAS-Kammerchor ist ein ausgewiesen versiertes Ensemble für Barockmusik. Hier zeigte er seine hohe Flexibilität in der packend-lebhaften Präsentation der Turbae-Chöre wie in den getragenen Chorälen gleichermaßen.

Das Solistenensemble entsprach passgenau den unterschiedlichen Anforderungen der zahlreichen Partien. Mit einem zum Dramatischen neigenden Sopran sang Birgitte Christensen, allerdings mit scharfer Höhe und wenig textverständlich, dafür aber agil genug in den oftmals heiklen Koloraturen. Weitaus lyrischer, wärmer und emotional berührend präsentierte sich Lydia Teuscher. Die ursprünglich für einen Kastraten geschrieben Arien oblagen hier der Mezzospranistin Marie-Claude Chappuis, die einen starken Eindruck durch ihre hohe dramatische Gestaltungskunst hinterließ, aber auch einen überaus schönen Klang zu formen verstand.

Unter den Herren beeindruckte besonders Johannes Weisser in den Jesusworten durch emotionale Ausstrahlung und geschmeidige Tongebung. Den Evangelisten sang Daniel Behle mit der für Brockes Text passenden inneren Beteiligung und der Tenor Donát Havár lieh seine wohlklingend helle, lyrisch betonte Stimme den teilweise heiklen Petrus-Passagen, konnte aber leider nicht immer genügend durchdringen. Die beiden Solisten des RIAS-Kammerchores fügten sich hochprofessionell in das Solistenensemble ein.



FAZIT

Telemanns intensiv bildhafte Musik wurde hier faszinierend in Klang gesetzt. Mit seinen Solisten und Ensembles hat Jacobs einen Schatz wiederentdeckt und diesen in Hochglanz präsentiert.




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(Veröffentlichung vorbehalten)
René Jacobs
Musikalische Leitung

RIAS – Kammerchor

Akademie für Alte Musik

Solisten

Birgitte Christensen
Sopran

Lydia Teuscher
Sopran

Marie-Claude Chappuis
Mezzosopran

Donát Havár
Tenor

Daniel Behle
Tenor

Johannes Weisser
Bariton

Ingolf Horenburg*
Bariton

Andrei Redmond*
Bariton

*
Solisten des RIAS - Kammerchors


Ein Reprint der Textausgabe
von Brockes Passion aus
dem Jahre 1716 ist beim
Zentrum für Telemann-Pflege
und –Forschung Magdeburg zu
erhalten ( € 2,60)
telemann.magdeburg.de

(Der Abdruck des Frontispiz der
Textausgabe erfolgt mit freundlicher
Genehmigung der Universitäts-
bibliothek Frankfurt und des Zentrums
für Telemann-Pflege und
-Forschung Magdeburg)





Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Festspielhaus Baden-Baden
(Homepage)



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