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Die Königsklasse der Kammermusik Von Chrisoph Wurzel "Quartettwoche" ist untertrieben. An nicht weniger als zehn Tagen gastierten elf Streichquartette im Pierre Boulez Saal - ein großartiges Finale der dritten Spielzeit in Berlins jüngstem und für viele auch schönstem Konzertsaal. Im März 2017 eröffnet, hat sich die Spielstätte der Barenboim Said Akademie in der Nähe der Berliner Staatsoper mit exquisiten Programmen abseits vom Mainstream des Klassikbetriebs zu einem Ort außergewöhnlichen Musikerlebens entwickelt. "Musik für das denkende Ohr" soll es sein, die gemäß einem Satz seines Namensgebers Pierre Boulez hier geboten wird, steter Auftrag für die Programmgestalter Ungewohntes und Ungewöhnliches mit Bekanntem zu konfrontieren, das Publikum zum aktiven Hören herauszufordern. Hier gilt's wirklich der Kunst. Kostümparade und Starkult sind tabu. Aufmerksamkeit gilt allein der Musik. Die leichte und schwebende Architektur von Frank Gehry beflügelt, schafft wohltuende Leichtigkeit und im ovalen Rund des Saales sammelt sich die Konzentration auf die Mitte, das Wesentliche, die Musik. Etwa 680 Zuhörer fasst der Saal, die meisten in geringer Entfernung zu den Ausführenden. Dies beseitigt Distanz, ermöglicht unmittelbares Erleben, ideale Bedingung für Kammermusik, deren Königsklasse, das Streichquartett, also zehn Tage im Mittelpunkt stand. Der Komponist, Dirigent und Lehrer Pierre Boulez, dem dieser Saal gewidmet ist Ensembles der ersten Liga waren gekommen und breiteten einen weitgespannten Fächer der Quartett-Literatur aus. Von Joseph Haydn, dem Vater der Gattung, bis zur frisch gebackenen Siemens-Musikpreis-Trägerin Rebecca Saunders reichte der musikhistorische Bogen des Gesamtprogramms. Gipfelpunkte wie Beethoven, Janáček, Schostakowitsch wurden hell ausgeleuchtet. Kurios Ironisches rieb sich mit existenziell Tiefgründigem. Gewagte Neutöne wogen süffig Romantisches aus. Wild Dramatisches löste abgeklärt Ruhiges ab. "Luft von einem anderem Planeten" war vielfach zu fühlen, auch wo man sie nicht gleich erwartete.
Es war das Heath Quartet mit Carolyn Simpson,
die mit dieser Metaphorik Stefan Georges aus dem letzten Satz von
Arnold Schönbergs zweitem Streichquartett für das gerade angebrochene
20. Jahrhundert ahnungsvollen Klänge heraufbeschworen. Bei seiner
Uraufführung 1908 in Wien war das Werk auf krasse Ablehnung und
Ignoranz gestoßen, "Katzenmusik" war noch das mildeste Urteil. Vom
Heath Quartet erklang dieses Werk als Ausdruck gewaltiger Emotionen,
ohne aber dessen Orientierung am klassischen Modell zu verwischen.
Gerade was Schönbergs Komposition zum Schwellenwerk der Moderne macht,
kam in dieser Interpretation hervorragend zum Ausdruck, eine
kompromisslose Harmonik innerhalb der überkommenen Form. Im ersten Satz
war es das Auf und Ab der Stimmungen zwischen aufgewühlter Erregung in
den hochfahrenden Violinen und der resignativ matten Tongebung in
Viola und Cello. Wie neue Kraft schöpfend begann das Scherzo energisch
und trotzig, bis die plötzlich hereinbrechende Melodie vom "lieben
Augustin" dem Ganzen einen selbstironischen, einen bitteren Beiklang
gab. Denn den Komponisten hatte gerade seine Frau verlassen und ihn in
eine schwere Krise gestürzt, die er sich in diesem Werk wohl von der
Seele schrieb. Trauer und den Aufschrei eines verzweifelten Ichs
sucht der Komponist nicht allein instrumental auszudrücken, sondern
unterlegt dem dritten Satz Georges Litanei
und dessen Gedicht
Entrückung dem vierten.
Carolyn Simpson sang diese Passagen mit
stärkstem Ausdruck und tiefer Textauslegung. Kongenial mit Schönbergs
expressiver Vertonung gipfelte der dritte Satz in dem qualvollen
Aufschrei "schließe die wunde" und mit Klängen von höchstmöglicher
Sensitivität leitete das Heath Quartet zu der Textzeile über, die
gleichsam zum Synonym für das Neue in der damaligen Musik geworden ist,
der "luft von anderem planeten". Am Schluss dieser Entrückung hörte das
Publikum noch einen langen Moment in das Verklingen der körperlosen,
sphärischen Klänge dieses Satzes hinein.
Nicht ein
Verlust, sondern die jahrelange Verehrung einer Frau bildet den
biografischen Bezug für das 2. Streichquartett von Leoš Janáček. Intime Briefe sind die musikalische
Liebeserklärung an die fast 40
Jahre jüngere Kamila Stöslová, in der der Komponist die Muse seiner
letzten Schaffensjahre gefunden hatte. Über 700 Briefe von ihm an die
verheiratete Frau sind überliefert. Zusammen mit seinem 1.
Streichquartett hatte das Belcea
Quartet diese beiden Werke mit zwei Quartetten von Joseph Haydn
zu einem kontrastreichen Programm zusammengestellt. Perfekt in ihrer Eigenart gelangen dem Belcea Quartet auch die beiden Haydn-Quartette, die erfrischende Heiterkeit in der Nr. 41 in G-Dur, wo besonders im raschen Scherzo die brillante Technik der Musiker begeisterte. Auch Haydns Humor kam zum Zuge. Mit einem stattlichen Pizzicato setzte der Cellist den markanten Schlusspunkt hinter das wie eine gestenreich vorgetragene Arie wirkende Largo des zweiten Satzes. Und im d-Moll-Quartett Nr. 76 verfremdete er das Menuett mit starker Bass-Betonung derart, dass der höfische Tanz eher wie ein Ländler auf dem Dorfanger klang. Äußerst klar in der Struktur und mit leichtfüßigem Schwung setzte das Ensemble beiden Quartetten in den Finali die Glanzlichter auf.
Ironie und
Humor zu Hauf, ja sogar dass Streichquartett auch Kabarett kann,
demonstrierte das Jerusalem Quartet im
ersten Teil seines Konzert mit 5 kleinen Stücken für Streichquartett
von Erwin Schulhoff und führte anschließend in die Welt der jiddischen
Brettl-Lieder ins Warschau der Zwischenkriegszeit. Leonid Desyatnikov
hat eigens für dieses Ensemble fünf solcher Lieder für Streichquartett
adaptiert, Lieder von Träumen kleiner Leute, selbstironischer
Straßendiebe, einer melancholischen Prostituierten und einer stolzen
Möchtergern-Diva. Mit viel Geschmack und ohne Sentimentalität hat der
1955 geborene ukrainische Komponist viel von der Atmosphäre der
zwanziger und dreißiger Jahre eingefangen. Klezmer, Tango, Blues und
klassisches Streichquartett verschmelzen in seiner farbigen
Istrumentation zu einer stimmungsvollen Einheit. Als kleine
Kabrett-Show inszenierte die israelische Sängerin Hila Baggio ihren
Auftritt mit viel Charme und der dazugehörigen Chuzpe. Die vier Herren
des Quartetts genossen diesen Ausflug ins Populäre mit einigem
Augenzwinkern. Diesem Schicksal konnte Erich Wolfgang Korngold entkommen. Nach dem Anschluss Österreichs ging er rechtzeitig ins Exil und wurde in Hollywood zum Vorbild mehrerer Generationen von Filmkomponisten. Als gerade Siebzehnjähriger hatte Korngold in seiner Heimatstadt Wien an der Hofoper bereits mit Ballett- und Opernkompositionen Triumphe gefeiert. Jugendlicher Überschwang allerdings prägt sein 2. Streichquartett weniger (da war er bereits 36), dafür aber abgeklärte Meisterschaft. Die filigrane Kontrapunktik, die Klanglichkeit zwischen Spätromantik und Avantgarde und die muntere Melodik der vier Sätze und ihren jeweils eigenen Charakter brachte das Jerusalem Quartett glänzend zur Wirkung. Im 3. Satz, einem traumverlorenen Larghetto, schuf die sensible Klanggestaltung einen weiten, zauberhaften Phantasieraum zwischen der leise tremolierenden Bassstimme und dem zarten Flageolett der Oberstimmen. In musikantischer Leichtigkeit und Frische kamen das verspielte Intermezzo und der abschließende Walzer daher, deutlich betont auch die vom Komponisten eingebauten Widerhaken. Ein schönes Plädoyer für dieses selten gespielte Werk!
Wenige Jahre
zuvor, von 1929 datiert Karol Szymnowskis 2. Streichquartett, das
spätromantische Anklänge gänzlich hinter sich lässt. Das Quatuor Diotima präsentierte das Werk in all
seinem avantgardistischen Klangfarbenreichtum. Von den flirrenden
Anfangsklängen des ersten Satzes bis hin zum energischen Schlusspunkt
der abschließenden Doppelfuge reizten die Musiker die hochsensible
Klangartistik des polnischen Komponisten spieltechnisch meisterlich
aus. Der zweite Satz, Szymanowskis Auseinandersetzung mit der
Volksmusik der Karparten, lebte durch pulsierendes Tempo. Im dritten
Satz steigerte sich das anfangs in feierlichem Lento vorgetragene Thema
in heftiger Spannung zu explosiver Emotionalität. Schlagend machte
diese Interpretation den qualitativ hohen Rang des polnischen
Komponisten deutlich, zu dem seine geringe Beachtung im hiesigen
Konzertbetrieb in schmerzlichem Gegensatz steht.
Wer satte Romantik erwartete, war allerdings beim David Oistrakh String Quartet bestens bedient, zumindest
mit dem 2. Streichquartett von Alexander Borodin, mit dem das russische
Ensemble sein Programm eröffnete, Musik von keinen düsteren Stimmungen
getrübt. Fröhlich zupackend in üppigem Sound spielten die russischen
Musiker dieses reizvolle Werk. Klangschön trat immer wieder das Cello
als dominantes Instrument hervor, merkbar dass der Hobbycellist und
Freizeitkomponist Alexander Borodin, im Hauptberuf Chemiker, dieses
Streichquartett für das private Musizieren geschrieben hat. Die vier
Sätze sind meisterlich gebaut, vor allem das Notturno, in dem nach
einer gefühlvollen Celloeinleitung eine tänzelnde Melodie von allen
Stimmen charmant variiert wird. Effekvoll ist auch das Finale, wo ein
temporeiches Fugato immer wieder durch langsame Ruhephasen und Vorhalte
gebremst wird, was die Spannung nur umso mehr erhöhte.
Vom wohl bedeutendsten Komponisten aus dem Gebiet der ehemaligen
Sowjetunion Dimitri Schostakowitsch waren im Rahmen der Quartettwoche
drei Werke von verschiedenen Ensembles zu hören. Das Oistrakh-Quartett
hatte das Neunte mitgebracht, das der Komponist 1964 zu Beginn der sog.
Tauwetterperiode komponierte. Sehr narrative Musik, die sich als Bilanz
der schweren Jahre Schostakowitschs unter der Stalinherrschaft lesen
lassen. Im großartigen Vortrag der russischen Musiker lag dieser
Schluss deutlich nahe, sie spielten die fünf in einander fließenden
Sätze expressiv bis hin zur Beklemmung. Von der vielsagend
zurückhaltenden Ängstlichkeit des ersten Satzes schlugen sie
spannungsvoll den Bogen über die drei langsamen Mittelsätze bis hin zum
ausgedehnten Schlusssatz in seiner in einem geradezu triumphalen Trotz
wild vorwärtstreibenden Agogik. Die langsamen Mittelsätze ließen etwas
von der angespannten Ängstlichkeit, die den Komponisten zeitweise
regelrecht besetzt haben mag, erkennen. Die Ensembles der Quartettwoche 2019
"Alles Dunkle und Niedrige wird vergehen. Alles Schöne wird
triumphieren", beschrieb Schostokowitsch den geistigen Gehalt seiner
elegischen achten Sinfonie, nachdem er einige Wochen die Grausamkeit
des Krieges im von der faschistischen Wehrmacht belagerten Leningrad am
eigenen Leibe erfahren hatte. Dasselbe Motto könnte auch über seinem 3.
Streichquartett stehen. 1943 zur Zeit der Entstehung der Sinfonie waren
seine Sätze lediglich Wunsch, 1946 bei der Komposition des
Streichquartetts mindestens vorläufig Realität (denn zukünftige
Schwierigkeiten konnten damals vom Komponisten allenfalls geahnt
werden). Wie sehr auch dieses Kammermusikwerk - der Komponist hielt es
für eines seiner besten - wieder mit seiner Lebenssituation enggeführt
ist, machte das Michelangelo String
Quartet in seinem Konzert berührend deutlich. Das Werk
beginnt mit einem tänzerischen Allegretto, dessen fast
naive Lebensfreude die Musiker durch leichtfüßiges Spiel aufs Schönste
vermittelten. In einem starken Stimmungsumschwung entwickelt sich der
zweite Satz zu einem doppelbödigen Walzer, der durch verfremdende
Klänge (Flageolett-, Glissando-, spiccato-Striche) geradezu
alptraumhaften Charakter annimmt, eine fast gespenstische Wirkung, die
den Musikern hier aussdrucksstark gelang. In der Marschparodie des
dritten Satzes ließen sie in aggressiver Klanggestaltung lebhaft
Reminszenzen an Kriegsgeschehnisse deutlich werden. Als Klagegesang
schließt sich ein elegisches Adagio als vierter Satz an, dessen Thema
alle Instrumente cantabel und in ruhigem Fluss zu Momenten intensiver
Kontemplation werden ließen. Eine leise, seelenvoll gespielte
Cellomelodie leitete zum Schlusssatz über, der sich geradezu zu
orchestral strahlender Tanz-Freude aufschwang, als ob sich nun
die Türen zu freier individueller Kreativität öffneten. Bis sich in der
abschließenden Coda über einem festen, tief grundierten Orgelpunkt die
Stimme der Violine allein bis in höchste Regionen heraufschraubt, wo
sie gelöst sich selbst genügend zu verschwinden scheint. In diesen
Glücksmoment vollendeten Musizierens spürte das Publikum noch einen
langen Moment hinein.
Nicht annähernd enzyklopädisch können natürlich auch 10 Tage angefüllt
mit Streichquartetten sein, so vielseitig die Programme selbst waren.
Obwohl selbstverständlich bedeutende Komponisten fehlen mussten, so kam
man natürlich an Beethoven nicht vorbei, dessen Quartette den ersten
Kulminationspunkt dieser Gattung markieren. Mit seinen Rasumowsky-Quartetten hatte
Beethoven endgültig eine Musik für
hochprofessionelle Musiker geschrieben, die weit anspruchsvoller ist,
als alles was zuvor für das Musizieren meist zwar hoch gebildeter, aber
letztlich doch dilettierender Musikliebhaber im Rahmen der privaten
Kammer möglich war. Die drei Quartette op. 59, die dem russischen
Gesandten am Wiener Kaiserhof gewidmet sind, wurden von einem der
ersten Profiensembles, dem Schuppanzigh-Quartett uraufgeführt,
allerdings wegen unzureichender Qualität zu Beethovens
Missfallen. Die Nummern 1 und 2 standen auf dem Programm des Quatuor Ébène, welches sie im
Boulez-Saal in vollendeter Perfektion präsentierte. Wahrscheinlich
hätte diese Art seine Werke zu spielen, Beethovens heftigsten Beifall
gefunden, denn gerade die kühne Neuheit, die vorwärtsstürmende Energie
und ihre ungemein differenzierte Klanggestalt brachten die vier Musiker
faszinierend zur Geltung. Es war in den Konzerten gerade der jungen
Ensembles ja der Vorzug, dass sie sich am Prinzip des musikalischen
Dialogs, einer prononcierten musikalischen Rhetorik orientierten,
eine schlanke, vibratoarme Klanggebeung bevorzugten und in der
Artikulation der Emotionalität der Musik nachspürten - mit all
diesem setzte in besonders ausgeprägter Weise das Quatuor Ébène gleich
zu Beginn der Quartettwoche höchste Maßstäbe. Pointiert bewegte Agogik
bestimmte die Allegro-Sätze, vor allem die russischen Themen in beiden
Quartetten nahmen gehörig Schwung auf. Die häufigen Generalpausen
nutzen die Spieler zur Spannungssteigerung, dissonante Reibungen
spielten sie deutlich aus, chromatische auf- und absteigende
Achtelketten wurden spannungsvoll phrasiert. Die Adagio-Sätze spielten
die Musiker berückend im Klang, vor allem der zweite Satz des
e-moll-Quartetts wurde zu einem langen Moment reinster Schönheit.
Als sollten sie am Schluss eine Bilanz der Möglichkeiten des modernen
Streichquartettspiels ziehen, hatte das Hagen Quartett im letzten Konzert
der Quartett-Woche drei geradezu exemplarische Werke im Programm: das in
seiner formalen Komplexität bis an die Grenze der Kammermusik reichende
op. 131 von Beethoven, von Schostakowitsch das in seiner Expressivität
kompromisslose 13. Streichquartett und ein Werk, in dem der Klang
selbst zum Thema wird. Dies waren zu Beginn des Abends von György
Kurtág die 12 Mikroludien op. 13 aus dem Jahre 1978,
aphoristisch kurze variantenreiche Stücke, welche die Bandbreite der
Ausdrucksmöglichkeiten und Spieltechniken der Streichinstrumente ausloten. Das
reicht von extrem ruhigen, leisen Klangfeldern bis hin zu fast orchestraler
Üppigkeit. Spannende Überraschungen bereitete das Hagen Quartett in den zusammen
etwa acht Minuten dauernden Stücken
mit den zahlreichen Verfremdungen des Bogenstrichs, die sich
zwischen schrillem Pfeifen und sonorem Vollklang bewegten, der an ein
Akkordeon erinnerte. Fazit Mit dieser Reihe festspielreifer Konzerte mit überaus vielfältigen und hoch interessanten Programmen bestätige der Pierre Boulez Saal seinen überragenden Rang im Berliner Konzertleben.
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Die Programme7. Juni 2019
Die Formulierung "Musiker"
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