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Quartettwoche

 

7. bis 16. Juni 2019 im Pierre Boulez Saal Berlin



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Die Königsklasse der Kammermusik

Von Chrisoph Wurzel

"Quartettwoche" ist untertrieben. An nicht weniger als zehn Tagen gastierten elf Streichquartette im Pierre Boulez Saal - ein großartiges Finale der dritten Spielzeit in Berlins jüngstem und für viele auch schönstem Konzertsaal. Im März 2017 eröffnet, hat sich die Spielstätte der Barenboim Said Akademie in der Nähe der Berliner Staatsoper mit exquisiten Programmen abseits vom Mainstream des Klassikbetriebs zu einem Ort außergewöhnlichen Musikerlebens entwickelt. "Musik für das denkende Ohr" soll es sein, die gemäß einem Satz seines Namensgebers Pierre Boulez hier geboten wird, steter Auftrag für die Programmgestalter Ungewohntes und Ungewöhnliches mit Bekanntem zu konfrontieren, das Publikum zum aktiven Hören herauszufordern. Hier gilt's wirklich der Kunst. Kostümparade und Starkult sind tabu. Aufmerksamkeit gilt allein der Musik. Die leichte und schwebende Architektur von Frank Gehry beflügelt, schafft wohltuende Leichtigkeit und im ovalen Rund des Saales sammelt sich die Konzentration auf die Mitte, das Wesentliche, die Musik. Etwa 680 Zuhörer fasst der Saal, die meisten in geringer Entfernung zu den Ausführenden. Dies beseitigt Distanz, ermöglicht unmittelbares Erleben, ideale Bedingung für Kammermusik, deren Königsklasse, das Streichquartett, also zehn Tage im Mittelpunkt stand.

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Der Komponist, Dirigent und Lehrer Pierre Boulez, dem dieser Saal gewidmet ist

Ensembles der ersten Liga waren gekommen und breiteten einen weitgespannten Fächer der Quartett-Literatur aus. Von Joseph Haydn, dem Vater der Gattung, bis zur frisch gebackenen Siemens-Musikpreis-Trägerin Rebecca Saunders reichte der musikhistorische Bogen des Gesamtprogramms. Gipfelpunkte wie Beethoven, Janáček, Schostakowitsch wurden hell ausgeleuchtet. Kurios Ironisches rieb sich mit existenziell Tiefgründigem. Gewagte Neutöne wogen süffig Romantisches aus. Wild Dramatisches löste abgeklärt Ruhiges ab. "Luft von einem anderem Planeten" war vielfach zu fühlen, auch wo man sie nicht gleich erwartete.

Es war das Heath Quartet mit Carolyn Simpson, die mit dieser Metaphorik Stefan Georges aus dem letzten Satz von Arnold Schönbergs zweitem Streichquartett für das gerade angebrochene 20. Jahrhundert ahnungsvollen Klänge heraufbeschworen. Bei seiner Uraufführung 1908 in Wien war das Werk auf krasse Ablehnung und Ignoranz gestoßen, "Katzenmusik" war noch das mildeste Urteil. Vom Heath Quartet erklang dieses Werk als Ausdruck gewaltiger Emotionen, ohne aber dessen Orientierung am klassischen Modell zu verwischen. Gerade was Schönbergs Komposition zum Schwellenwerk der Moderne macht, kam in dieser Interpretation hervorragend zum Ausdruck, eine kompromisslose Harmonik innerhalb der überkommenen Form. Im ersten Satz war es das Auf und Ab der Stimmungen zwischen aufgewühlter Erregung in den hochfahrenden Violinen  und der resignativ matten Tongebung in Viola und Cello. Wie neue Kraft schöpfend begann das Scherzo energisch und trotzig, bis die plötzlich hereinbrechende Melodie vom "lieben Augustin" dem Ganzen einen selbstironischen, einen bitteren Beiklang gab. Denn den Komponisten hatte gerade seine Frau verlassen und ihn in eine schwere Krise gestürzt, die er sich in diesem Werk wohl von der Seele schrieb. Trauer und den Aufschrei eines verzweifelten Ichs sucht der Komponist nicht allein instrumental auszudrücken, sondern unterlegt dem dritten Satz Georges Litanei und dessen Gedicht Entrückung dem vierten. Carolyn Simpson sang diese Passagen  mit stärkstem Ausdruck und tiefer Textauslegung. Kongenial mit Schönbergs expressiver Vertonung gipfelte der dritte Satz in dem qualvollen Aufschrei "schließe die wunde" und mit Klängen von höchstmöglicher Sensitivität leitete das Heath Quartet zu der Textzeile über, die gleichsam zum Synonym für das Neue in der damaligen Musik geworden ist, der "luft von anderem planeten". Am Schluss dieser Entrückung hörte das Publikum noch einen langen Moment in das Verklingen der körperlosen, sphärischen Klänge dieses Satzes hinein.
Als Meister klanglicher Feinjustierung hatte sich das Heath Quartet bereits im ersten Teil des Konzerts mit Brittens erstem und Ravels einzigem Streichquartett erwiesen. Anders als Schönbergs Quartett wirkte das über 30 Jahre später entstandene Werk Benjamin Brittens trotz des prägnant herausgespielten avancierten Klangbildes viel gemäßigter und gleichsam disziplinierter. Dessen starke Kontraste stellte das Heath Quartet deutlich heraus, wie die Marsch-Parodie im zweiten Satz,  oder den Gedankenstrom des dritten, langsamen Satzes, der sich in der Ferne zu verlieren scheint. Auch der ruhige, in weiten Teilen abgeklärte Grundton des Ravel-Quartetts gewann in der bezwingenden Interpretation an diesem Abend große Tiefe und innere Größe.

Nicht ein Verlust, sondern die  jahrelange Verehrung einer Frau bildet den biografischen Bezug für das 2. Streichquartett von Leoš Janáček. Intime Briefe sind die musikalische Liebeserklärung an die fast 40 Jahre jüngere Kamila Stöslová, in der der Komponist die Muse seiner letzten Schaffensjahre gefunden hatte. Über 700 Briefe von ihm an die verheiratete Frau sind überliefert. Zusammen mit seinem 1. Streichquartett hatte das Belcea Quartet diese beiden Werke mit zwei Quartetten von Joseph Haydn zu einem kontrastreichen Programm zusammengestellt.
Haydn und Janáček - das bedeutet die Erfindung des Streichquartetts und deren vollkommene Überwindung. Denn Janáčeks Werke folgen weder in der Struktur der einzelnen Sätze noch in der Satzfolge dem von Haydn einst begründeten klassischen Muster, sondern sind Minidramen, Programmmusik expressiv geschilderter Situationen. In seinem 1. Quartett sind es Assoziationen zu Tolstois Novelle Kreutzersonate, in der ein Mann seine Frau aus Eifersucht ermordet. Nervöses Zittern, leidenschaftliche Energie, quälende Verfremdungen des Klangs, schrille Schmerzenslaute - geradezu physisch übertrug sich die Dramatik dieser Musik durch die Interpretation des Belcea Quartetts, deutlich spürbar wurde Janáčeks Mitgefühl mit der leidenden Frau aus der Novelle. So unglücklich der Grundton im ersten, so schwärmerisch ist er in Janáčeks zweitem Quartett. Die vier Sätze auch dieses Werks gestaltete das Ensemble außerordentlich bildhaft und plastisch. Als Stimme der in diesen intimen Briefen verehrten Frau kam vor allem im 1. Satz  im Dialog mit den leidenschaftlichen Ausbrüchen der Violine die empfindsam melodische Viola zu schönster Entfaltung. Im 2. Satz variiert der Komponist immer wieder denselben fragenden Gestus durch alle Stimmen hindurch bis hin zur klanglichen Schmerzgrenze. Ausdrucksstark modellierte hier das Belcea Quartet Janáčeks Sprachmelodie. In glühender Emotionalität steigerte sich der an slawische Folklore erinnernde Tanz im 4. Satz bis fast zum Taumel. Das war musikalische Gestaltung in höchster Vollendung.

Perfekt in ihrer Eigenart gelangen dem Belcea Quartet auch die beiden Haydn-Quartette, die erfrischende Heiterkeit in der Nr. 41 in G-Dur, wo besonders im raschen Scherzo die brillante Technik der Musiker begeisterte. Auch Haydns Humor kam zum Zuge. Mit einem stattlichen Pizzicato setzte der Cellist den markanten Schlusspunkt hinter das wie eine gestenreich vorgetragene Arie wirkende Largo des zweiten Satzes. Und im d-Moll-Quartett Nr. 76 verfremdete er das Menuett mit starker Bass-Betonung derart, dass der höfische Tanz eher wie ein Ländler auf dem Dorfanger klang. Äußerst klar in der Struktur und mit leichtfüßigem Schwung setzte das Ensemble beiden Quartetten in den Finali die Glanzlichter auf.

Ironie und Humor zu Hauf, ja sogar dass Streichquartett auch Kabarett kann, demonstrierte das Jerusalem Quartet im ersten Teil seines Konzert mit 5 kleinen Stücken für Streichquartett von Erwin Schulhoff und führte anschließend in die Welt der jiddischen Brettl-Lieder ins Warschau der Zwischenkriegszeit. Leonid Desyatnikov hat eigens für dieses Ensemble fünf solcher Lieder für Streichquartett adaptiert, Lieder von Träumen kleiner Leute, selbstironischer Straßendiebe, einer melancholischen Prostituierten und einer stolzen Möchtergern-Diva. Mit viel Geschmack und ohne Sentimentalität hat der 1955 geborene ukrainische Komponist viel von der Atmosphäre der zwanziger und dreißiger Jahre eingefangen. Klezmer, Tango, Blues und klassisches Streichquartett verschmelzen in seiner  farbigen Istrumentation zu einer stimmungsvollen Einheit. Als kleine Kabrett-Show inszenierte die israelische Sängerin Hila Baggio ihren Auftritt mit viel Charme und der dazugehörigen Chuzpe. Die vier Herren des Quartetts genossen diesen Ausflug ins Populäre mit einigem Augenzwinkern.
In dieser Haltung hatten sie den Abend schon mit den Schulhoff-Stücken begonnen, einer kleinen Suite unterschiedlicher Tänze, Charakterstücken von "Nationalmusik", die sich aber als geistreiche Parodien erwiesen. Der einleitende Wiener Walzer mit schrägen Ausrastern, eine Serenata, die sich zum Schluss immer mehr ausdünnt, eine Tarantella, bei der einem schwindlig wird und nur die feurige Polka scheint vom Komponisten einigermaßen ernst gemeint zu sein. Musik, die wie vom Jerusalem Quartet vorgetragen, höchstes Vergnügen bereitete und vom Hang ihres Komponisten zum Dadaismus beredt Zeugnis gab. Erinnert muss aber auch daran werden, dass Schulhoff, Kommunist und Jude, 1942 in einem Nazi-Konzentrationslager ums Leben kam.

Diesem Schicksal konnte Erich Wolfgang Korngold entkommen. Nach dem Anschluss Österreichs ging er rechtzeitig ins Exil und wurde in Hollywood zum Vorbild mehrerer Generationen von Filmkomponisten. Als gerade Siebzehnjähriger hatte Korngold in seiner Heimatstadt Wien an der Hofoper bereits mit Ballett- und Opernkompositionen Triumphe gefeiert. Jugendlicher Überschwang allerdings prägt sein 2. Streichquartett weniger (da war er bereits 36), dafür aber abgeklärte Meisterschaft. Die filigrane Kontrapunktik, die Klanglichkeit  zwischen Spätromantik und Avantgarde und die muntere Melodik der vier Sätze und ihren jeweils eigenen Charakter brachte das Jerusalem Quartett glänzend zur Wirkung. Im 3. Satz, einem traumverlorenen Larghetto, schuf die sensible Klanggestaltung einen weiten, zauberhaften Phantasieraum zwischen der leise tremolierenden Bassstimme und dem zarten Flageolett der Oberstimmen. In musikantischer Leichtigkeit und Frische kamen das verspielte Intermezzo und der abschließende Walzer daher, deutlich betont auch die vom Komponisten eingebauten Widerhaken. Ein schönes Plädoyer für dieses selten gespielte Werk!

Wenige Jahre zuvor, von 1929 datiert Karol Szymnowskis 2. Streichquartett, das spätromantische Anklänge gänzlich hinter sich lässt. Das Quatuor Diotima präsentierte das Werk in all seinem avantgardistischen Klangfarbenreichtum. Von den flirrenden Anfangsklängen des ersten Satzes bis hin zum energischen Schlusspunkt der abschließenden Doppelfuge reizten die Musiker die hochsensible Klangartistik des polnischen Komponisten spieltechnisch meisterlich aus. Der zweite Satz, Szymanowskis Auseinandersetzung mit der Volksmusik der Karparten, lebte durch pulsierendes Tempo. Im dritten Satz steigerte sich das anfangs in feierlichem Lento vorgetragene Thema in heftiger Spannung zu explosiver Emotionalität. Schlagend machte diese Interpretation den qualitativ hohen Rang des polnischen Komponisten deutlich, zu dem seine geringe Beachtung  im hiesigen Konzertbetrieb in schmerzlichem Gegensatz steht.
Gar nicht einmal ein so riesiger Sprung von derart avancierten Klängen war es zu dem jüngsten Werk aller Konzerte, dem im vergangenen Jahr durch das Quatuor Diotima in London uraufgeführte Stück unbreathed von Rebecca Saunders, die gerade vor wenigen Tagen den Ernst-von-Siemens-Musikpreis erhalten hatte. Hier geht es nur noch um Klangfarben. "Ungeatmet", nicht willkürlich also entstehen die Töne in diesem Stück, sondern es besteht aus einem ca 20 minütigen Strom von Klangwellen, die an- und abschwellen, richtungslos, dauerhaft oder abrupt, schwebend, gestoßen oder gezogen von den Instrumenten erzeugt werden. Wie Rauchschwaden ziehen sie sich durch das Gehör. Tiefes Brummen, scharfes Klirren, Schleiftöne, Sirenengeheul, Äolsharfe - ein grenzenloser Klangreichtum und grandiose Instrumentalkunst. Denkbar höchste Konzentration belohnte das phänomenale Quatuor Diotima und begeisterter Beifall die anwesende Komponistin.
Auch auf Franz Schuberts letztes Streichquartett G-Dur D 887, zweieinhalb Jahre vor seinem Tod entstanden und in einem Schaffensrausch von nur elf Tagen komponiert, richtete das Diotima Quartett konsequent seinen analytischen Blick und legte dessen ungemeine Modernität bereits in den Anfangstakten des ersten Satzes frei. Diese diffuse Suche nach harmonischem Halt, das unter verhangen dunklem Tremolieren sich nur zögernd herausbildende erste Thema, die darauf folgende energische Schroffheit der Oktavsprünge, der rapide Wechsel in der Dynamik von piano zu fortissimo - all diese Details der Komposition spielte das Ensemble so markant heraus, dass man schon an vorweggenommenen Expressionismus denken konnte. Der Schubert-typische Wanderschritt im Andante führte nicht in romantische Gemütlichkeit, sondern in schwere Untiefen, in harmonische Regionen schauerlicher Art, ähnlich den Liedern der Winterreise, die Schubert ein halbes Jahr später zu komponieren begann. Zu einem Spuk wuchs sich des Scherzo mit seinen schroff gestoßenen Achteln aus und die Idylle des Trios blieb sehr verhalten. Am wenigsten gönnte das atemlos vorantreibende Allegro assai des letzten Satzes auch nur einen einzigen Moment der Ruhe. Die vom Quatuor Diotima bis zum Schluss in hochkonzentriertem Spiel umgesetzte drängende Ungeduld dieses Werkes und seine sprühende Energie vermochte das Publikum 45 Minuten unter Hochspannung zu halten.

Wer satte Romantik erwartete, war allerdings beim  David Oistrakh String Quartet bestens bedient, zumindest mit dem 2. Streichquartett von Alexander Borodin, mit dem das russische Ensemble sein Programm eröffnete, Musik von keinen düsteren Stimmungen getrübt. Fröhlich zupackend in üppigem Sound spielten die russischen Musiker dieses reizvolle Werk. Klangschön trat immer wieder das Cello als dominantes Instrument hervor, merkbar dass der Hobbycellist und Freizeitkomponist Alexander Borodin, im Hauptberuf Chemiker, dieses Streichquartett für das private Musizieren geschrieben hat. Die vier Sätze sind meisterlich gebaut, vor allem das Notturno, in dem nach einer gefühlvollen Celloeinleitung eine tänzelnde Melodie von allen Stimmen charmant variiert wird. Effekvoll ist auch das Finale, wo ein temporeiches Fugato immer wieder durch langsame Ruhephasen und Vorhalte gebremst wird, was die Spannung nur umso mehr erhöhte.
Die heftigen Akkordschläge, mit denen die "Nachtgebete", Night Prayers des georgischen Komponisten Giya Kancheli begannen, ließen dagegen weniger Heiterkeit erwarten. Diese zwanzig Minuten Streichquartett-Musik verhießen allerdings - leicht esoterisch angehaucht - mittels einer hellen Stimme von oben, die vom Tonband kam, so etwas wie Erlösung und die zuvor klanglich ausgefochtenen Kämpfe zwischen aggressiven fortissimo-Ausbrüchen und sanft im Flageolett  zirpenden Geigenklängen lösten sich am Schluss in einer harmonischen Klangwolke auf. Die Musiker spielten dieses Werk mit hoher technischer Perfektion, dennoch konnte der Spannungsbogen nicht so recht gehalten werden, was vor allem an der Komposition selbst liegen dürfte, die sich in der Manier der Minimal Music zu oft und zu lange um sich selber dreht. Ein düsteres Grummeln kommt in der Mitte des Stücks ebenfalls aus dem Off, vielleicht ein unheimlicher Geist, denn da das Stück aus dem größeren Zyklus A Life without Christmas stammt, ist an einen gütigen Gott ja kaum zu denken.

Vom wohl bedeutendsten Komponisten aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion Dimitri Schostakowitsch waren im Rahmen der Quartettwoche drei Werke von verschiedenen Ensembles zu hören. Das Oistrakh-Quartett hatte das Neunte mitgebracht, das der Komponist 1964 zu Beginn der sog. Tauwetterperiode komponierte. Sehr narrative Musik, die sich als Bilanz der schweren Jahre Schostakowitschs unter der Stalinherrschaft lesen lassen. Im großartigen Vortrag der russischen Musiker lag dieser Schluss deutlich nahe, sie spielten die fünf in einander fließenden Sätze expressiv bis hin zur Beklemmung. Von der vielsagend zurückhaltenden Ängstlichkeit des ersten Satzes schlugen sie spannungsvoll den Bogen über die drei langsamen Mittelsätze bis hin zum ausgedehnten Schlusssatz in seiner in einem geradezu triumphalen Trotz wild vorwärtstreibenden Agogik. Die langsamen Mittelsätze ließen etwas von der angespannten Ängstlichkeit, die den Komponisten zeitweise regelrecht besetzt haben mag, erkennen.
Zurück zu purer Lebensfreude führten dann die 5 Rumänischen Volkstänze von Béla Bartók in einer Transkription für Streichquartett, die vom Ensemble mit enormem Schwung geboten wurden. Zwei lyrische Zugaben kühlten dann die aufgeheizten Temperamente wieder herunter.

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Die Ensembles der Quartettwoche 2019

"Alles Dunkle und Niedrige wird vergehen. Alles Schöne wird triumphieren", beschrieb Schostokowitsch den geistigen Gehalt seiner elegischen achten Sinfonie, nachdem er einige Wochen die Grausamkeit des Krieges im von der faschistischen Wehrmacht belagerten Leningrad am eigenen Leibe erfahren hatte. Dasselbe Motto könnte auch über seinem 3. Streichquartett stehen. 1943 zur Zeit der Entstehung der Sinfonie waren seine Sätze lediglich Wunsch, 1946 bei der Komposition des Streichquartetts mindestens vorläufig Realität (denn zukünftige Schwierigkeiten konnten damals vom Komponisten allenfalls geahnt werden). Wie sehr auch dieses Kammermusikwerk - der Komponist hielt es für eines seiner besten - wieder mit seiner Lebenssituation enggeführt ist, machte das Michelangelo String Quartet in seinem Konzert berührend deutlich. Das Werk beginnt   mit einem tänzerischen Allegretto, dessen fast naive Lebensfreude die Musiker durch leichtfüßiges Spiel aufs Schönste vermittelten. In einem starken Stimmungsumschwung entwickelt sich der zweite Satz zu einem doppelbödigen Walzer, der durch verfremdende Klänge (Flageolett-, Glissando-, spiccato-Striche) geradezu alptraumhaften Charakter annimmt, eine fast gespenstische Wirkung, die den Musikern hier aussdrucksstark gelang. In der Marschparodie des dritten Satzes ließen sie in aggressiver Klanggestaltung lebhaft Reminszenzen an Kriegsgeschehnisse deutlich werden. Als Klagegesang schließt sich ein elegisches Adagio als vierter Satz an, dessen Thema alle Instrumente cantabel und in ruhigem Fluss zu Momenten intensiver Kontemplation werden ließen. Eine leise, seelenvoll gespielte Cellomelodie leitete zum Schlusssatz über, der sich geradezu zu orchestral strahlender Tanz-Freude  aufschwang, als ob sich nun die Türen zu freier individueller Kreativität öffneten. Bis sich in der abschließenden Coda über einem festen, tief grundierten Orgelpunkt die Stimme der Violine allein bis in höchste Regionen heraufschraubt, wo sie gelöst sich selbst genügend zu verschwinden scheint. In diesen Glücksmoment vollendeten Musizierens spürte das Publikum noch einen langen Moment hinein.
Zu derart ergreifender Musik standen die expressionistisch wilden Klänge Igor Strawinskys und das klangüppige 2. Streichquartett von Tschaikowsky in heftigstem Gegensatz. Aber auch diese Werke gelangen unter den Händen der Mitglieder des Michelangelo-Quartetts hervorragend, wie die drei kleinen Stücke von Strawinsky, denen sie brillant ihren jeweiligen Charakter entlockten, unter denen besonders das clowneske zweite Stück  zu einem Glanzstück musikalischen Humors geriet.

Nicht annähernd enzyklopädisch können natürlich auch 10 Tage angefüllt mit Streichquartetten sein, so vielseitig die Programme selbst waren. Obwohl selbstverständlich bedeutende Komponisten fehlen mussten, so kam man natürlich an Beethoven nicht vorbei, dessen Quartette den ersten Kulminationspunkt dieser Gattung markieren. Mit seinen Rasumowsky-Quartetten hatte Beethoven endgültig eine Musik für hochprofessionelle Musiker geschrieben, die weit anspruchsvoller ist, als alles was zuvor für das Musizieren meist zwar hoch gebildeter, aber letztlich doch dilettierender Musikliebhaber im Rahmen der privaten Kammer möglich war. Die drei Quartette op. 59, die dem russischen Gesandten am Wiener Kaiserhof gewidmet sind, wurden von einem der ersten Profiensembles, dem Schuppanzigh-Quartett uraufgeführt, allerdings  wegen unzureichender Qualität zu Beethovens Missfallen. Die Nummern 1 und 2 standen auf dem Programm des Quatuor Ébène, welches sie im Boulez-Saal in vollendeter Perfektion präsentierte. Wahrscheinlich hätte diese Art seine Werke zu spielen, Beethovens heftigsten Beifall gefunden, denn gerade die kühne Neuheit, die vorwärtsstürmende Energie und ihre ungemein differenzierte Klanggestalt brachten die vier Musiker faszinierend zur Geltung. Es war in den Konzerten gerade der jungen Ensembles ja der Vorzug, dass sie sich am Prinzip des musikalischen Dialogs, einer prononcierten musikalischen Rhetorik  orientierten, eine schlanke, vibratoarme Klanggebeung bevorzugten und in der Artikulation der  Emotionalität der Musik nachspürten - mit all diesem setzte in besonders ausgeprägter Weise das Quatuor Ébène gleich zu Beginn der Quartettwoche höchste Maßstäbe. Pointiert bewegte Agogik bestimmte die Allegro-Sätze, vor allem die russischen Themen in beiden Quartetten nahmen gehörig Schwung auf. Die häufigen Generalpausen nutzen die Spieler zur Spannungssteigerung, dissonante Reibungen spielten sie deutlich aus, chromatische auf- und absteigende Achtelketten wurden spannungsvoll phrasiert. Die Adagio-Sätze spielten die Musiker berückend im Klang, vor allem der zweite Satz des e-moll-Quartetts wurde zu einem langen Moment reinster Schönheit.
Zwischen den beiden Beethovens Quartetten stand an diesem Abend von Henri Dutilleux der Zyklus Ainsi la nuit, der zwar im Titel die Assoziationen an nächtliche Impressionen suggeriert, aber doch rein abstrakte Musik darstellt, sieben kurze Sätze, die mit einer großen Bandbreite von Möglichkeiten in Spielweise und Ausdruck experimentieren, geradezu wie geschaffen für die technische Perfektion und das präzise Zusammenspiel des Quatuor Ébène. Zerbrechliche, flirrenden Klänge geistern durch die Sätze, Glissandi und Triolenketten wirken wie Schattenspiele,  dynamische Wechsel erzeugen Bewegungen ins Ungewisse und am Schluss zerfällt das musikalische Material zu Nichts. 20 Minuten hoch spannende Musik.

Als sollten sie am Schluss eine Bilanz der Möglichkeiten des modernen Streichquartettspiels ziehen, hatte das Hagen Quartett im letzten Konzert der Quartett-Woche drei geradezu exemplarische Werke im Programm: das in seiner formalen Komplexität bis an die Grenze der Kammermusik reichende op. 131 von Beethoven, von Schostakowitsch das in seiner Expressivität kompromisslose 13. Streichquartett und ein Werk, in dem der Klang selbst zum Thema wird. Dies waren zu Beginn des Abends von György Kurtág die 12 Mikroludien op. 13 aus dem Jahre 1978, aphoristisch kurze variantenreiche Stücke, welche die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten und Spieltechniken der Streichinstrumente ausloten. Das reicht von extrem ruhigen, leisen Klangfeldern bis hin zu fast orchestraler Üppigkeit. Spannende Überraschungen bereitete das Hagen Quartett in den zusammen etwa acht Minuten dauernden Stücken mit  den zahlreichen Verfremdungen des Bogenstrichs, die sich zwischen schrillem Pfeifen und sonorem Vollklang bewegten, der an ein Akkordeon erinnerte.
Diesen abstrakten Klangexperimenten folgte das 13. Streichquartett von Dimitri Schostakowitsch, ein bewegendes Dokument seines Spätstils, als der Komponist bereits stark von Krankheiten gezeichnet war. In den drei ineinander übergehenden Sätzen machte das Hagen Quartett die schwere Trauer und tiefe Einsamkeit, die dieses Werk vom einleitenden schwermütigen Bratschenmotiv bis zum Schluss durchzieht, beklemmend deutlich. Wie verlorene Individuen wirkten die besonders im ersten Adagio eigentümlich neben einander herspielenden Stimmen. Der zweite, schnellere Satz steigerte sich unter Unheil verkündendem Klopfen des Bogens am Korpus von Bratsche und Cello zu einem grotesk bedrohlichen Tanz, bei dem die Geige zunehmend wilder und schriller wie "Freund Hein" aufzuspielen schien. Mit fragendem Gestus begann die Violine das abschließende Adagio. Eine schwerfällige Cellomelodie lastete über der Musik, die dann nur noch auf der Stelle zu treten schien. Bis sich letztlich die Solovioline in einem expressiven crescendo wie zu einem letzten Schrei in die Höhe schraubte und sich dann in beklemmender Stille verlor.
Mit einem Giganten der gesamten Gattung, Beethovens Streichquartett in cis-Moll, beschloss das Hagen-Quartett nicht allein dieses Konzert, sondern die gesamte Konzertreihe der Quartett-Woche. Hier war zu erleben, wie sich grenzenlose Erfahrung, technische Perfektion und absolute Stilsicherheit zu höchster Professionalität verbinden. In höchstem Maße souverän spielte das Hagen Quartett die sieben in einander übergehenden Sätze und lotete deren jeweils spezifische Charakteristik phänomenal aus. Strukturelle Klarheit, subtile Artikulation, spannungsvolle Tempogebung und höchste Konzentration im Zusammenspiel ließen diese Interpretation zu einem absoluten Höhepunkt werden.

Fazit

Mit dieser Reihe festspielreifer Konzerte mit überaus vielfältigen und hoch interessanten Programmen bestätige der Pierre Boulez Saal seinen überragenden Rang im Berliner Konzertleben.



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Die Programme

7. Juni 2019
Quatuor Èbéne
Beethoven - Dutilleux


8. Juni 2019
Jerusalem Quartet & Hila Baggio
Schulhoff - Desyatnikov - Korngold


9. Juni 2019
Heath Quartet &
Carolyn Sampson, Sopran

Britten - Ravel - Schönberg


11. Juni 2019
David Oistrakh String Quartet
Borodin - Kancheli - Schostakowitsch -
Bártók


13. Juni 2019
Belcea Quartet
Haydn - Janáček


14. Juni 2019
Michelangelo String Quartet
Strawinsky - Schostakowitsch -
Tschaikowsky


15.Juni 2019
Quatour Diotima
Szymanowski - Saunders - Schubert


16. Juni 2019
Hagen Quartett
Kurtág - Schostakowitsch - Beethoven

 

Die Formulierung "Musiker"
bezieht stets Musikerinnen ein,
da in den meisten Ensembles auch
Geigerinnen bzw. Bratschistinnen
mitwirkten.

 


Weitere Informationen
erhalten Sie unter

Pierre Boulez Saal Berlin
(Homepage)



Da capo al Fine

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