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Pierre-Laurent Aimard, Klavier

Werke von Ludwig van Beethoven und Charles Ives

Aufführung im Festspielhaus Baden-Baden am 7. März 2020

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Festspielhaus Baden-Baden
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Zweimal Zukunftsmusik

Von Christoph Wurzel / Foto: © Julia Wesely

"Vielleicht wird wahre Kunst erst geboren, wenn der letzte Mensch, der von Kunst leben will, für immer verschwunden ist" - so der amerikanische Komponist Charles Ives. Als gut verdienender Versicherungsmakler konnte er sich seine kreative Nebentätigkeit als Komponist leisten, denn als reiner Freizeitkünstler musste er finanziell weder auf Verleger noch Veranstalter oder Publikum Rücksichten nehmen und wollte es auch nicht. Entsprechend frei von allen Kompromissen und im höchsten Maße eigenständig ist seine Musik. Ives gilt als ein absoluter Solitär der Musikwelt seiner Zeit.

Bei Beethoven war das anders. Auch er strebte als Künstler völlige Freiheit an, blieb aber Zeit seines Lebens von Geldgebern, Gönnern und Verlegern abhängig. Seine Große Sonate für das Hammerklavier ist dafür ein schlagendes Beispiel, denn um sie an einen Verleger zu bringen, stimmte er sogar zu, dass sie eventuell auch verstümmelt veröffentlicht werden könnte. Er fürchtete, sie könnte sonst unverkäuflich sein, denn was er musikalisch mitteilen wollte, hatte er in die überdimensionierte Anlage von (je nach Zählung) vier bzw. fünf Sätzen gepackt, die an den Interpreten  größte Anforderungen stellen und für das damalige Publikum höchst ungewohnt gewesen sein dürfte. Sein Kommentar zu dem zweijährigen Kompositionsprozess: "Es ist hart, beinahe um des Brotes willen zu schreiben".

Ives und Beethoven - zwei grundverschiedene Künstlerexistenzen also. Ohnehin liegen nicht allein ungefähr 100 Jahre, sondern ganze Welten zwischen den beiden Komponisten und es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, gerade sie in einem Konzert zu verbinden. Auch handelt es sich bei beiden Sonaten um Mammutwerke von je etwa 45 Minuten Spieldauer und damit gleichsam um einen doppelten Gewaltmarsch durch zwei extrem komplexe  Werke der Klavierliteratur. Ein Höchstmaß an Anstrengung für den Interpreten ebenso wie für das Publikum, gleichsam eine zweimalige Everest-Bezwingung.

Und doch gibt es bei näherem Hinhören erstaunliche Gemeinsamkeiten, schon weil beide Werke im gesamten ¼uvre der Klaviermusik ihrer Komponisten den Höhepunkt an Gehalt, kompositorischer und pianistischer Technik bilden. Umso beeindruckender, wie Pierre-Laurent Aimard in diesem Rezital all diese Anforderungen bewältigte und ihm ohne jede Einbuße an Ausdrucksintensität, struktureller Klarheit und pianistischer Brillanz wirklich mustergültige Interpretationen gelangen. Schon Beethovens Hammerklaviersonate ist (jedenfalls außerhalb des Jubiläumsjahres) nicht allzu häufiger Gast auf den Konzertpodien, mit Ives Concord-Sonate im Programm besitzt Aimard allerdings nahezu Alleinstellungsstatus im Konzertbetrieb.

Viel grundsätzlicher aber sind die Wesensverwandtschaften zwischen diesen Werken. Busoni nannte Beethovens Sonate, die freieste Musik, die bis dahin geschrieben worden sei. Tatsächlich überwindet Beethoven mit diesem fünfsätzigen Mammutwerk jede bislang geltende Konvention. Schon allein die Klangfülle, die durch die sechs Oktaven des ihm aus England gelieferten Broadwood-Flügels nun möglich war, übertrifft alles bisher vom Klavier Gehörten.

Nun auf dem modernen Steinway-Flügel konnte Aimard diese Klangwirkungen noch weiter steigern. Schon in den wenigen Anfangstakten modellierte er die Wirkung dieser acht Töne quasi zu einer Fanfare: der fortissimo-Auftakt im Bass, dann staccato die folgenden gehämmerten Akkorde und nach der etwas zurückgenommenen Wiederholung eine überdeutliche Fermate: ein Auftritt mit Aplomb, der Beethoven als einen Komponisten mit großem Selbstbewusstsein vorstellt, der alles weit hinter sich lässt, was er etwa bei Haydn gelernt hat. Hier äußerst sich der freiheitlich bürgerliche Künstler. Der ungeheuren Energie, die sich im weiteren Verlauf dieses Satzes entfaltet, ließ Aimard einerseits in den schroffen dynamischen Kontrasten des Hauptthemas, im cantablen Seitenthema dagegen mit großem melodischem Bogen klanglich freien Lauf.

Das folgende, attacca angestürmte Scherzo erhielt in seinem fluchtartig nervösen Tempo, seinen irrlichternden Sprüngen und den abrupten Wechseln in der Dynamik schon fast spukhaften Charakter. Besonders im Trio spielte Aimard scharf pointiert die Tempogegensätze aus und ließ erahnen, wie weit Beethovens Komposition schon auf die Abgründe romantischer Gefühlswelt  vorausweist.

Adagio appassionato e con molto sentimento hat Beethoven den 3. Satz überschrieben, den längsten langsamen Satz überhaupt in seinem Werk. In weite melodische und harmonische Welten führt uns hier der Komponist. Ruhig und konzentriert öffnete Aimard diese Räume, blieb stets analytisch und drohte sich nie in Gedankenschwere oder Sentimentalität zu verlieren. Stets blieb sein Spiel kontrolliert, dennoch ließen Leidenschaft und subkutane Dramatik eine starke Binnenspannung entstehen, wodurch sein Spiel eine faszinierende Ausdrucksstärke gewann.

Mit diesen drei Sätzen wäre eigentlich das Maß einer herkömmlichen Klaviersonate schon fast erfüllt. Aber Beethoven fügt noch eine breit ausgeführte Doppelfuge hinzu, zu der er mit einer äußerst ungewöhnlichen Passage überleitet; beginnend mit einem wie improvisiert wirkenden Largo, in dem sich die musikalischen Gedanken in sechzehntel- und zweiunddreißigstel-Tönen und in auf- und absteigenden Skalen zu verlieren scheinen. Wie frei phantasierend vertiefte sich Aimard in das harmonische Farbenspiel und in die melodischen Verzweigungen dieser Passage, steigerte das Tempo allmählich über ein Allegro bis zum Prestissimo, um anschließend in demonstrativ strengem Tonfall in die Doppelfuge zu münden. Noch einmal mehr als zehn Minuten höchst angespannte Konzentration, in denen sich der Pianist mit energischer Entschlossenheit durch dieses undurchdringbar erscheinende Noten-Dickicht schlug, bis nach abstürzenden Tonleitern und einer Folge von unerbittlichen Oktavtrillern der musikalische Lauf mit vier fortissimo-Akkorden an das befreiende Ziel gelangte.

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Pierre-Laurent Aimard

Beethoven lieferte sein pianistisches opus maximum nach einem guten Jahr dem Londoner Verleger ab, der sie 1818 veröffentlichte. Charles Ives ließ sich für das Seinige mehr als sieben Jahre Zeit und verstand es Zeit seines Lebens noch als work in progress. Ähnlich wie Beethoven, der - wie es Martin Geck in seiner grandiosen Monografie "Beethoven - Der Schöpfer und sein Universum" formuliert - in der Hammerklavier-Sonate "subjektive und traditionelle Momente  in gleicher Radikalität wie wild aufeinander loslässt", geht auch Charles Ives in seiner Concord-Sonate radikal eigene Wege, aber stärker noch als Beethoven löst er sich von überlieferten Formen. Schon der Begriff "Sonate" ist nach seinen eigenen Worten eigentlich unzutreffend. Nur in Ermangelung einer anderen Bezeichnung habe er diesen vier Sätzen die überlieferte Gattungsbezeichnung gegeben.

Im eigentlichen Sinn sind es vier im Material unzusammenhängende Rhapsodien, die aber ein Thema verbindet. Es sind gleichsam musikalische Essays zu den Leitfiguren der amerikanischen Philosophie des Transzendentalismus, die ihre Keimzelle um die Mitte des 19.Jahrhunderts in der Kleinstadt Concord in Massachusetts hatte. Nach ihnen benannte Ives die vier Sätze seiner Komposition. Ralph Waldo Emerson war der Begründer dieser Lebensphilosophie aus einem Dreiklang von spiritueller Naturerfahrung, naturbezogener Lebensweise und ethischer Selbstvervollkommnung. Was Emerson theoretisch entwickelt hatte, setzte Henry David Thoreau wenige Jahre später in ein praktiziertes Lebensmodell um. Ein Jahr lang zog er sich in eine Waldhütte an einem See zurück und lebte dort abgeschieden und autark im Einklang mit der Natur - ein früher Vorläufer solcher Gedanken wie Nachhaltigkeit, Infragestellung ungezügelten Wachstums und auch von Gewaltlosigkeit, denn die Sklaverei wurde von den Transzendentalisten abgelehnt. Ives, selbst Anhänger dieser Philosophie, widmete jeden Satz seiner Sonate einem ihrer maßgeblichen Vertreter. Es handelt sich nach eigenen Bekunden ausdrücklich um Programmmusik, aber nicht im Sinne einer Abbildung empirischer Vorgänge, sondern - und da berührt er sich erneut mit Beethoven - "mehr um den Ausdruck der Empfindung als Malerey", womit er ja seine Pastorale ja überschrieb.

Im ersten Satz "Emerson" entwickelt Ives in epischer Breite der Gedankenwelt des Philosophen gemäß einen höchst komplexen Musikstrom in teilweise freier Atonalität  (doch völlig unabhängig von Schönberg, der gleichzeitig damit zu experimentieren begann) bis hin zur tönenden Clustern, die mit einem über die Tasten zu legenden Brettchen erzeugt werden; ein Mittel, das sich erst in der musikalischen Avantgarde nach 1945 allgemein durchsetzen wird. Teilweise ist der Satz in vier Systemen notiert, zwischen denen die musikalischen Gedanken hin- und herpendeln. Aimard betonte den innovativen Charakter dieser Musik mit ihren schroffen Klängen, Dissonanzen und Ragtime-Splittern vehement, arbeitete aber auch die motivischen Schichtungen heraus. Trotz fehlender Taktstriche im Notentext konnte sich ein logischer Fluss entwickeln. Das kurz aufblitzende Zitat der klopfenden Anfangstöne von Beethovens Fünfter Sinfonie hob Aimard deutlich heraus.

Hier huldigt Ives seinem Idol Beethoven und auch erneut im vierten Satz (Thoreau) mit dem Zitat dieser Auftaktfigur mit fallender Quarte aus Beethovens c-Moll-Sonate op. 111, das Thomas Mann im "Doktor Faustus" als "Lebewohl"- oder "Himmelsblau"- oder auch "Wiesengrund"-Motiv beschrieben hat. Hier erfasst Ives auf musikalische Weise die Empfindungen, die Thoreau in "Walden", der Schilderung seines Lebens in der Waldhütte, beschrieben hatte. In diesem Satz mit seinem meditativen Anfang in weichen Arpeggien betonte Aimard mehr den lyrischen Charakter der Musik und die darin anklingenden Assoziationen an einen Herbsttag in den Wäldern Massachusetts.

Gedankensplitter aus Kinderliedern, volkstümlichen Märschen und Folksongs durchziehen den zweiten Satz, der dem Schriftsteller Nathaniel Hawthorne gewidmet ist. Doch auch surreale, gespenstische Bilder geistern umher, die von der schwarzen Romantik in Hawthornes Werk künden. Eher beschaulich mutet der dritte Satz an, wo Ives das fromme Leben der Puritanerfamilie Alcott in ihrem idyllischen Anwesen schildert. Auch in diesen Sätzen gelang es Aimard deren jeweiligen Ausdruckscharakter deutlich herauszuarbeiten. Merklich lange schon beschäftigt sich Pierre-Laurent Aimard mit dieser Musik, die es selbst den aufmerksamsten Hörern nicht leicht macht. Dennoch vermochte er auf die lange Distanz von über 45 Minuten auch hier durch sein Spiel zu fesseln.

Sichtlich angetan von dem derartig konzentriert zuhörenden Publikum spielte Aimard - wie er es nannte - eine kleine Schwester der großen Hammerklaviersonate als Zugabe: von Beethoven eine  Bagatelle in derselben Tonart B-Dur. Dieser schlichte (aber nicht simple) kurze musikalische Moment verdeutlichte nochmals umso mehr, wie viel an Zukunftsmusik in Beethovens großer Sonate und genauso in dem Werk von Charles Ives doch steckte.


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Ausführende

Pierre-Laurent Aimard, Klavier

 

Programm

Ludwig van Beethoven
Sonate B-Dur Nr. 29
Große Sonate für das Hammerklavier

Charles Ives
Klaviersonate Nr. 2
Concord, Mass

Zugabe:

Ludwig van Beethoven
Bagatelle B-Dur op. 119 Nr. 11


 

 

 


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Festspielhaus Baden-Baden
www.festspielhaus.de/



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