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La BohèmeSzenen aus Henri Murgers "Vie de Bohème" in vier BildernDichtung von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica In italienischer Sprache mit deutschen Untertiteln Musik von Giacomo Puccini
Premiere des Aalto-Musiktheater Essen Italienischer Opernschlager in EssenEine Sternstunde der Essener PhilharmonikerMEINE LIEBLINGSOPERDer Flirt mit dem selbstzerstörerischen Leben der Bohème im Treibhaus-Klima des 19. Jahrhunderts hat etwas stets neu Faszinierendes und Aktuelles: Eine Gesellschaft, die großen Wert auf das Einhalten von Etikette und rigiden gesellschaftlichen Regeln legte, die an Leistung und Fortschritt glaubte, erfreute sich am geregelten Umgang mit Kunst und Künstlern in ihren Salons. Sie kokettierte zudem mit dem tolerierten gesellschaftlichen Freiraum der 'Nichtstuer' und ihrer Musen in der Literatur, auf dem Theater und in der Oper. Dort wurde immer wieder quasi die Geburt des künstlerischen Genies aus dem chaotischen, nämlich von leidenschaftlichen, unkontrollierbaren Gefühlen bestimmten sozialen Kontext geradezu zelebriert als eine Art Selbstschöpfungsakt, dessen zugrundeliegende Überzeugungen (von der Macht und den Möglichkeiten des Einzelnen) man als konstitutiv für unsere heutige individualisierte Gesellschaft bezeichnen kann.Puccini packte diesen Stoff in die bürgerlichste aller Gattungen, in seine Gattung und komponierte eine Grand Opéra, seine größte, meiner unmaßgeblichen, aber überindividuellen Meinung nach. Interessiert Sie, warum? - Nun: Puccinis Instrumentation ist filigran gearbeitet, die Register und Instrumentenfamilien werden ausgewogen und gezielt eingesetzt. Besonders wirkungsvoll und nicht so übertrieben wie Verdi verwendet Puccini Unisono-Passagen als musikalische Höhepunkte; sie jagen uns zusammen mit Septakkordharmonien und übermäßigen Dreiklängen die berühmten Schauer über den Rücken, etwa in Rudolfos Arien oder in den Quartetten der Freunde. Dann wieder übernehmen Orchesterinstrumente obligate d.h. quasi solistische Stimmen, dies vor allem, um die Fragilität Mimis zu charakterisieren. Puccini arbeitet nicht so konsequent leitmotivisch wie Wagner, doch bestimmten Figuren, Stimmungen oder Szenen werden "Erinnerungsmotive" zugeordnet, die den musikalischen Zusammenhalt gewährleisten und formallogisch dem Verlauf der Geschichte Rechnung tragen. Mit Wagner hat Puccini außerdem den großen Einfluß auf die Filmmusik gemeinsam; alle genannten Techniken werden von Filmkomponisten wie Erich Korngold, Bernhard Herrmann, Stephen Sondheim oder John Williams 'aus dem ff' beherrscht. Gut gemacht, könnte man über 'La Bohème' sagen, wenn man nicht das Gefühl hätte, das wäre zuwenig gesagt. Ich jedenfalls liebe besonders die Szenen, in denen es um die jeweiligen Beziehungen geht, dieses Zusammen-Wollen und Nicht-Können, Sich-Lieben und Sich-Verfluchen begleitet von einer Musik, die synomyn für Leidenschaft und Pathos steht, sich auf dem Grat zwischen Kunst und Kitsch aber aufrecht hält (sozusagen).
STERNSTUNDEN UND KABELTROMMELNSchon vor Beginn der Musik eröffnete sich uns der Blick auf einen Teil der Bühne, die ganz in blau ausgeleuchtet war und mit vielen Sternen erstrahlte. Bühnenschnee, der unaufhörlich herabrieselte, erzeugte eine weihnachtliche Stimmung. Über den Dächern von Paris stehen bald vier karge Betten und ein kalter Ofen, es öffnet sich eine Falltür für den Vermieter und eine Wandtüre für die Nachbarin. Bis hier eine überzeugende Konzeption, die sich die ganze Breite der mittleren Bühne als Gestaltungsbereich wählte mit den Möglichkeiten, nach vorne an den Orchestergraben zu treten oder den blauen, besternten Hintergrund in drei Teilen zu öffnen und die Perspektive bis zum Horizont zu erweitern (Bühne: Johannes Leiacker).Die anderen drei Bilder konnten nicht in gleicher Weise gefallen: das Quartier Latin besaß den Charme der Essener Fußgängerzone, und wir versuchten vergeblich, die teilweise überdimensionalen Anspielungen auf das amerikanisierte französische partyähnliche Weihnachtsfest sowie die Baustellenrelikte und Kabeltrommeln vor dem Wirtshaus mit der Geschichte irgendwie in Zusammenhang zu bringen. Mimi starb schließlich in einem Krankenhausbett auf einer Bühne aus Schnee und Sternen; da konnte ich meine Taschentücher wieder einpacken, die ich normalerweise in 'La Bohème' benötige. Mein Nachbar fand die Inszenierung 'zäh', doch ich würde eher das Statische des Ganzen beklagen - gefährlich nahe manchmal am Scala-Stil (große Stimmen vor hübschem Hintergrund). Das betrifft die Personenführung der Solisten, doch vor allem den Part des Chores: die dritte Szene wurde uns wie eine Diashow lebender Bilder präsentiert - immerhin sehr malerischer Bilder vor einem ebenso pittoresken Horizont mit Stadtlichtern.
A STAR WAS BORNDas klingt etwas mißverständlich: keiner der Protagonisten hat hier seinen Freiflug zur Met gewonnen, obwohl sich Francesco Petrozzi als Rudolfo die Seele aus dem Leib gesungen hat und Claudio Otelli mit machtvoller Stimme einen temperamentvollen Marcello verkörperte. Alle boten eine solide Leistung, leider schien Galina Simkinas Stimme leicht belegt zu sein; irgendwie fehlte der Mimi der Funken lyrischer Leidenschaft, der die Figur so tragisch wirken läßt. Störende Schwächen fielen in der Koordination des Chores und in wenigen Ensemble-Szenen auf, aber das wird ein Premieren-Problem sein. Schön, wie homogen sich die solistischen Männerstimmen mischten, doch mir mißfiel (was aber wohl wirklich Geschmackssache ist), daß Musetta (souverän: Heike Gierhardt) und Mimi mit klaren, aber doch eher dramatischen Sopranen besetzt wurden; das paßte nicht recht zusammen.Der Star, der diese Premiere zu einem Glanzpunkt machte, war das Orchester unter der Leitung des Intendanten Stefan Soltesz, der an diesem Abend alle Bedenken hinsichtlich der Personalunion von Dirigent und Intendant zunichte machte. An den wundervoll sensibel intonierten Beginn des zweiten Teil werde ich noch lange denken: ein Bravi den Bläsern! Toll auch die Flexibilität der Tempi, die nie zu Lasten der melodischen Stringenz ging; das Orchester erklang wie ein Körper - fast ideal. Die Philharmoniker konnten an diesem Abend alles: Solistisch sein, ohne herauszustechen; uns mit dem warmen, intensiven Puccini-Tutti umwehen; Melodiebögen quer durch das Orchester spannen und sich leicht führen lassen mit einem selbstverständlich präzisen Timing. Das hatte Klasse und wurde vom Publikum hoch honoriert.
Sänger und Sängerinnen, aber besonders das Orchester und seinen Leiter bedachten wir mit vielfachem Bravo. Das Inszenierungsteam mußte sich einige Buhrufe anhören, denen eine Riege von Claqueuren kräftig antwortete. Schauspielerisch und dramaturgisch hat die Essener Bohème einige Schwächen, was aber völlig ausgeglichen wird durch die fantastische Leistung des Orchesters. Sie werden - wie ich - Schwierigkeiten haben, Karten für diesen Schlager zu bekommen. |
Musikalische Leitung Stefan Soltesz
Inszenierung
Choreinstudierung
Bühne
Kostüme
Dramaturgie
SolistenRodolfoFrancesco Petrozzi
Schaunard
Marcello
Colline
Benoit
Mimi
Musetta
Parpignol
Alcindoro
Opernchor und Extrachor
Kinderchor des Statisterie des Theaters Essener Philharmoniker
Weitere Aufführungen
Gedvidas Lazauskas (Schaunard), Claudio Otelli (Marcello), Richard Medenbach (Benoit), Francesco Petrozzi (Rodolfo) und Almas Svilpa (Collin) Heike Gierhardt (Musetta), Claudio Otelli (Marcello), Francesco Petrozzi (Rodolfo), Galina Simkina (Mimi), Almas Svilpa (Collin) und Gedvidas Lazauskas (Schaunard) Heike Gierhardt (Musetta), Claudio Otelli (Marcello), Almas Svilpa (Collin), Gedvidas Lazauskas (Schaunard), Francesco Petrozzi (Rodolfo) und Galina Simkina (Mimi) mit Chor Galina Simkina (Mimi) und Francesco Petrozzi (Rodolfo) |