Von Annette van Dyck
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Fotos von Michael Hörnschemeyer
Angesichts der alten Geschichte von der femme fatale und dem homme serieux ist schon vorstellbar, dass man als Regisseur das Bedürfnis entwickelt, eine aktualisierende Interpretation vorzustellen. Die begehrenswerte, eiskalte und kriminelle Zigeunerin, der ehrliche, zutiefst verletzliche, leidenschaftlich und selbstlos liebende Soldat, das moralisch einwandfreie, aber eben nur nette Mädchen vom Lande, der selbstgefällige, rücksichtslose Macho - was für Klischees! Und doch: welche Spannung zwischen den Figuren Meilhacs und Halévys bzw. Mérimèes, situiert in der farben- und assoziationsreichen Umgebung von Stierkampf und Zigarettenfabrik, Schmuggel und Soldateska. 'Carmen' wird eine der meist gespielten Opern bleiben, solange man sich vorstellen kann, dass Männer um der Liebe willen spontan ein riskantes dem sicheren Leben vorziehen und sich in einem unkontrollierten Gefühlsstrudel aus Kränkung und Eifersucht dazu hinreissen lassen, eine Frau zu töten...
Dabei war die Oper bei ihrer Uraufführung 1875 in Paris eher ein Flop; man behauptet, das Publikum fand die amoralische Titelheldin suspekt. Acht Jahre später allerdings brach die Oper alle Aufführungsrekorde - nach der Umarbeitung von einer Opéra comique mit gesprochenen Dialogen zu einer damals sehr beliebten Mischung aus 'realistischer' National- und Folkloreoper durch Ernest Guiraud, der die Dialoge zu Rezitativen auskomponierte. Interessant übrigens auch, dass die Melodie der berühmten Habanera ("L'amour est un oiseau rebelle") ebenfalls nicht von Bizet, sondern von Sebastián Yradier stammt (Kennen Sie nicht? Aber 'La Paloma' kennen Sie, oder?), und dass der Ohrwurm "Toréador, en garde" angeblich in Bizets Ohren wenig Gnade fand.
In Münster entschied man sich für die auskomponierte Fassung von 1883, die auch Friedrich Nietzsche begeisterte. Das erzeugt unseren Ohren heutzutage, die wir in der Oper nicht mehr so empfindlich auf formale Eigenheiten reagieren, aber eher einige Längen (eine Qual: die französische Aussprache) und die Aufführungsdauer von 3 Stunden. Eine solche Entscheidung bedingt eine perfekte Personenführung, die über die Rezitative hinweg trägt und während die Arien schlüssig weitergeführt wird.
In den Szenen mit den Hauptfiguren gelang es in der Münsteraner Premiere in vielen Fällen, die musikalische und schauspielerische Spannung aufrecht zu erhalten. In den meisten Ensemble- und Chorszenen wurden wir durch Farbenreichtum und gute Show-Einlagen gebannt. Jede Begegnung von Carmen und Jose zwang zum Zuschauen durch detailreiche, einfühlsame Pantomime. Die obertonreiche, sogar ein bißchen rauchige, dabei aber prägnante Stimme von Janet Collins, die ihren Part durchweg differenziert und überzeugend gestaltete, passt gut zum hart gezeichneten Charakter der Carmen und zum kräftigen, sicheren Tenor des Attila Wendler, der uns in der sogenannten Blumenarie ("La fleur que tu m'avais jetée") zu atemlosen Mitleid mit der einsamen Liebe des Jose bewegte - einer der besten Momente des ganzen Abends.
Gut besetzt erschienen die Charaktere von Micaëla und Escamillo: warm und fast ein wenig 'bluesig' die Stimme der Birgit Beckherrn (nur anfangs ein wenig unsicher im Ansatz, dafür mit ergreifender Arie "Je dis que rien ne m'épouvante" im drtten Akt); bebend vor männlicher Eitelkeit und stilistisch treffend gespreizt das musikalische und schauspielerische Auftreten von 'Escamillo' Renatus Mészár.
Sämtliche Nebenrollen fand ich ausgezeichnet besetzt (gerne hätte ich mehr gehört von der schönen, klaren Stimme von Radoslaw Wielgus), ein Genuß choreographisch und stimmlich: die Ensembleszene mit den Schmugglern und Carmens Freundinnen. Die Chöre erzeugten einen soliden szenischen und zusammen mit dem Orchester musikalischen Hintergrund. Letzteres lief vor allem in den Zwischenspielen zu Hochform auf, Will Humburg hat seine Musikerinnen und Musiker wirklich gut im Griff, besonders gefällt mir der warme, einheitliche Geigenton.
Es gibt viele schöne Passagen in dieser Inszenierung, doch fühlt man sich durch einige totale Fehlgriffe seitens der Regie unverhältnismäßig beeinträchtigt. Die szenische Illustration der Ouverture (als wären wir zu doof, die Leitmotive wieder zu erkennen) und die geometrische Positionierung von Jose und Micaëla während ihres ersten Duetts, das auch prompt an Koordinationsschwierigkeiten litt, kann man ja noch ertragen; aber diese schreckliche Bettszene zwischen Jose und Carmen (Bettgardine zu/ Bettgardine auf) kurz vor dem dramatischen Höhepunkt am Ende des zweiten Aktes reizt leider nur zum Lachen. Genauso fatal die Idee, der Geschichte als hin und wieder auftretende Gaffer einige Touristen hinzu zu gesellen, die fotografieren, Almosen geben (oder auch nicht) und tun, was Touristen angeblich so tun. Das sollte wahrscheinlich irgendwie Kritik am (vor allem englischen) Kolonialismus und Exotismus des 19. Jahrhunderts sein - mit sozusagen indirektem Seitenhieb auf das touristische Gaffertum und Überlegenheitsgeprotze unserer Tage. Ok. Ist ja auch bestimmt ein wichtiges Thema, aber wird ein solcher sozialkritischer Holzhammer - und auch noch derart willkürlich (sogar inkonsequent und wenig schlüssig) eingesetzt - irgendjemanden irgendwie erreichen?? - Ich fürchte, die vielen leeren Plätze nach der Pause sprechen ihre eigene Sprache...
FAZIT
Eine unbefriedigende Inszenierung tut den engagiert und professionell auftretenden Akteuren und dem präzisen Orchester großen Abbruch. Dennoch lohnt sich der Besuch: wegen einer coolen Carmen, einem soho einsahamen Jose und viel guter Musik.
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