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I Puritani

Melodramma serio in drei Akten
Libretto von Carlo Pepoli
Musik von Vincenzo Bellini

Essener Erstaufführung


In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 h 10 min (eine Pause)

Premiere im Aalto-Theater Essen
am 9. November 2002


Logo:  Theater Essen

Theater Essen
(Homepage)
Geschundenes Genie

Von Thomas Tillmann / Foto von Matthias Jung


Opernintendant Soltesz muss seine Liebe zum Belcanto im Allgemeinen und zum Schaffen Vincenzo Bellinis im Speziellen entdeckt haben: Nach der konzertanten Norma zum Abschluss der letzten Saison eröffnete das Aalto-Musiktheater mit dem letzten, 1835 in Paris uraufgeführten Bühnenwerk des Sizilianers die neue, mit gerade einmal vier nicht besonders originellen Opernneuproduktionen ziemlich magere Spielzeit (Andrea Chénier stand im Frühjahr auch auf dem Spielplan des konkurrierenden Theaters Dortmund, an dem Christine Mielitz mit einer fulminanten Inszenierung der Meistersinger von Nürnberg ihren Einstand gab, die ab April 2003 nun auch in Essen zu sehen sein werden, und die wahrlich nicht unproblematische Ägyptische Helena ergänzt zwar den Strauss-Zyklus des Hauses, verhilft aber nicht zuletzt auch Luana DeVol zum späten Rollendebüt in der Titelpartie).

Wer wollte bestreiten, dass die von dramaturgischen Brüchen und unwahrscheinlichen Wendungen durchzogenen Puritani keine leichte Aufgabe für einen Regisseur darstellen. Die von Stefan Herheim für die Essener Erstaufführung konzipierte "Handlung" aber ist mindestens genauso abstrus wie das von Carlo Pepoli unter starker Beteiligung des Komponisten verfasste Libretto. Auch wenn ich Gefahr laufe, mich als nicht erwachsener Zuschauer zu outen (die absurden, von unerträglicher akademischer Arroganz durchtränkten Hinweise, wie wir als "erwachsene" Zuschauer diese Inszenierung zu rezipieren haben, möchte ich meinen Lesern ersparen), wage ich anzumerken, dass diese aufwändige Backstage-Story, die die Genese des Werkes in den Vordergrund stellt (eine ähnliche Idee verfolgte übrigens nicht nur Peter Konwitschny bei der Essener Daphne, sondern auch Tilman Knabe beim Nabucco im benachbarten Gelsenkirchen vor Jahresfrist, während die Schlussszene mit dem kurzzeitigen Einschalten des Saallichts und der Konzentration auf die Primadonna doch wohl von Viscontis berühmter Sonnambula an der Scala mit der ebenfalls als Ballerina gewandeten Callas abgekupfert ist) und in erster Linie das Opernleben im Paris der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts mit seiner Gier nach opulenten Inszenierungen, spektakulären Bühneneffekten und prunkvollen Balletteinlagen reflektiert - wo sind da "die Mechanismen dieser Kunst im Hier und Jetzt"? Bei genauerer Betrachtung legt sich der Verdacht nahe, dass der junge Norweger mit der Vorlage relativ wenig anfangen konnte, auf den Erhalt der sicher nicht geringen Gage aber keineswegs verzichten wollte. Dass dieses Konzept "der Distanz zur narrativen Ebene der abstrusen Puritani-Handlung" auf der popularpsychologischen Exegese von Bellini-Briefen und den Zitaten zahlreicher Exponenten der Geistesgeschichte fußend auf acht langen Programmheftseiten unter der Überschrift "Der Schwanengesang des Cigno di Catania" vom Produktionsdramaturgen gerechtfertigt wird, versteht sich von selbst. Der hochgemuten Gewissheit, mit der Alexander Meier-Dörzenbach sich quälend wortreich zu äußern pflegt, entspricht indes selten wirkliche Beweisführung: Viele der als Tatsachen dargestellten Erkenntnisse über das "Werk mit der inhärenten gesellschaftlichen Hoffnung auf Erlösung durch Kunst" rechnen auf die suggestive Wirkung verblüffender Entlarvungen, bewegen sich aber bei näherer Betrachtung ganz auf der Ebene des Behauptens.

Szenenfoto

Die von der Pariser Gesellschaft (Corps de ballet, Opernchor und Extrachor des Aalto-Theaters) umringte Elvira (Elena Mosuc) gibt "Son vergine vezzosa" im opulenten "Erinnerungsraum" zum Besten.

Zweifellos beeindruckend ist natürlich der jegliches Gejammer über finanzielle Engpässe am Theater Lügen strafende "Erinnerungsraum", den Dieter Richter detailverliebt und mit viel Sinn fürs Dekorative als Synthese von Opernhaus, gotischem Kirchenschiff und bürgerlichen Salon geschaffen hat (für Abwechslung und kurzlebige Intimität sorgen sechs fahrbare Spiegel, die zusammengestellt einen Übungssaal fürs corps de ballet und die als Mitglied des Balletts der Pariser Oper charakterisierte Elvira markieren und auf der Rückseite die gotischen Bögen des Hintergrunds aufnehmen) und in dem "bigotte Sublimierung, unbewusste Sehnsüchte und kollektive Träume inszenatorisch beschwört werden können". Diese Bühnenbildgestaltung will verdeutlichen, "dass es um hoffmaneske Verflechtungen von Wirklichkeiten geht, die zu einem kunstvollen Teppich gewoben werden. Einzelne Erzählstränge, Charakterisierungen oder analytische Erläuterungen zu isolieren, heißt daher immer auch ein Aufribbeln des Musters". Damit aber lässt sich eigentlich alles begründen, was einem Produktionsteam bei der Auseinandersetzung mit einem Werk durch den Kopf schießen mag: die Brechung der Handlung durch das Vom-Blatt-Singen mancher Nummern, die Vervielfachung der Handlung durch das Einbeziehen eines Bühnenbildmodells samt der passenden, ins Spiel der Akteure einbezogenen Figurinen, das Einfügen zusätzlicher Figuren (wie das Double von Elvira und Enrichetta in Gestalt einer bald in weißem, bald in schwarzem Tüll über die Bühne trippelnden Primaballerina oder auch eines "Bellini, das Genie" genannten Charakters, dem auch noch ein Bellinino und mehrere Bellinissimi zur Seite gestellt werden - heilige Einfalt! - und der sich den Platz am Flügel mit dem ebenfalls wie der sizilianische Komponist ausstaffierten Arturo teilen darf), das In-Atem-Halten der Requisite und der technischen Mannschaft, die einmal mehr die Einfälle eines Nachwuchsspielleiters umsetzen musste, der das Aalto-Theater als Abenteuerspielplatz missbraucht (etwa während des als "Künstlerdämmerung" gedeuteten Sturms) und Solisten wie Chor (in den edel-üppigen, in verschiedenen Dunkelgrüntönen gehaltenen Roben im Stil der Handlungszeit von Renate Schmitzer) entweder in überzogenen Ballettposen über die streckenweise geradezu stümperhaft ausgeleuchtete Bühne hetzt oder in brav arrangierten Standbildern auf derselben verharren lässt. Die daraus resultierende Kurzweiligkeit indes wird nicht aus dem zu interpretierenden Werk entwickelt, sondern erklärt sich einzig aus dem blinden Aktionismus, der den Abend beherrscht.

Szenenfoto Die von der voyeuristischen Menge (Opernchor und Extrachor des Aalto-Theaters) umzingelte Primaballerina (Elena Butrimovich, Mitte), Elviras alter ego, zelebriert vor Brunos (Herbert Hechenberger, links) und Giorgios (Karl-Heinz Lehner, rechts) Augen ihren Wahnsinn.

Die Begeisterungsstürme, die der wirklich sehr kleine, in der Tiefe kaum vernehmbare, in der Höhe reichlich weiße Sopran von Elena Mosuc nicht nur beim Essener Publikum und manchen Kritikern auslöst, habe ich nie verstehen können - hier versucht sich eine ambitionierte Soubrette, die sicher einen gewissen Eindruck etwa als Adele in der Fledermaus oder als Ännchen im Freischütz machen würde, im zu schweren Fach: Als Fachpartie für einen dramatischen Koloratursopran oder gar einen jugendlich-dramatischen Sopran weist das Handbuch der Oper von Kloiber und Konold die Partie der Elvira aus, und auch Jürgen Kesting erklärt in seinem Callas-Buch mit Hinweis auf Giulia Grisi, die die Uraufführung sang, "daß die Elvira vom Komponisten für einen dramatischen Sopran mit agilità konzipiert worden war", dass die Rolle aber im Laufe des 20. Jahrhunderts den lyrischen Koloratursopranen anheimgefallen sei, von denen nur wenige die Cantilena "Qui la voce" "mit Sinn und noch weniger mit dramatischem Feuer erfüllen konnten. Um so mehr haben sie die cabaletta in einer Weise vorgeführt, die den englischen Kritiker Richard Fairman stöhnen ließen: 'Empty of sense and full of notes.'" Auch die Rumänin kam über das Aneinanderreihen von nicht einmal durchgängig schönen, besonders im Forte und bei der unentwegt, leider aber nicht funktional eingesetzten messa di voce das Flackern der Überforderung aufweisenden Tönen und Phrasen und streckenweise durchaus brillanten Verzierungen (die man von einer so leichten Stimme aber auch wirklich erwarten kann), über das Vorführen von vokalen Fertigkeiten also, nicht hinaus, wobei manche Acuti nur durch unschönes "Scooping" erreicht wurden und reichlich angestrengt klangen. Ausdruck versuchte die Künstlerin über äußere Effekte wie Seufzer und lautes Atemholen zu erzielen (das streckenweise beinahe nach jedem Ton nötig war und jede sinnvolle Phrasierung und ein spannungsvolles Legato unmöglich machte), nicht aus der Entfaltung und Färbung der Gesangslinie, nicht durch die Illuminierung der Wörter.

Für die Partie des Arturo, die ganz auf den hohen, agilen Tenor Rubinis zugeschnitten ist, hatte man mit Mario Zeffiri durchaus einen Spezialisten gefunden, der den Atem für die langen Melodiebögen Bellinis und das Wissen um den klugen Einsatz der Voix mixte hat, ohne das die extreme Tessitura und namentlich das gefürchtete F nicht zu bewältigen sind, das prominenteren Kollegen selbst im Studio den Schweiß auf die Stirn getrieben hat. Berückende Töne standen hier neben einigen wenigen quäkig-grellen, und allein der kein Risiko scheuende Einsatz verdiente Bewunderung, ebenso wie das herrliche fil di voce und das sorgfältige Aussingen der Verzierungen. Einen glänzenden Eindruck hinterließ auch Károly Szilágy, der als Riccardo nicht nur einmal mehr die Flexibilität und die hohe Legatokultur seines glänzend geführten, besonders in der Höhe enorm präsenten Baritons unter Beweis stellte, sondern sich auch vorbildlich um den Text seiner Partie bemühte. Ausgesprochen engagiert gab sich auch Karl-Heinz Lehner als Giorgio, dessen relativ schlanker, ebenmäßiger, tonschöner Bass inzwischen aber bedenkliche Höhenprobleme erkennen ließ. Gern hätte man mehr von Marcel Roscas charaktervollem Bass gehört - er gab mit großer Autorität den Gualtiero -, während Herbert Hechenberger als Bruno und die als Konkurrentin der Primaballerina natürlich in schwarz gewandete, mit Krücken ausgerüstete Gritt Gnauck als Enrichetta ganz zurecht nur in kleineren Partien eingesetzt werden. Trotz einzelner Kongruenzprobleme hatte der von Alexander Eberle betreute Chor die lange Sommerpause hörbar für eine gewissenhafte Vorbereitung genutzt.

Szenenfoto

Arturo-Bellini (Mario Zeffiri) erinnert sich an seine Liebe zu Elvira, die er vor drei Monaten verlassen hat, um Enrichetta zu retten.

Ich würde nicht so weit gehen wie manche Kollegen, die Stefan Soltesz generell das richtige Händchen für die italienische Oper absprechen, aber ein besonderes Gespür für die Musik des romantischen Belcanto hat er sicher nicht - die Ankündigung des Hauses, der GMD knüpfe "an den fulminanten Erfolg der 'Norma' an" (vgl. dazu nicht nur unsere Kritik, sondern auch die dazu erschienenen Leserbriefe!), erwies sich als verfrüht. Stattdessen frönte der Wiener am Pult der dank zahlreicher Proben natürlich auf hohem Niveau, wenn auch nicht fehlerfrei musizierenden Essener Philharmoniker (ich erwähne nur die verpatzte Einleitung zum großen Duett Giorgio - Riccardo!) einmal mehr seiner Obsession, sich in Ermangelung eines wirklichen Konzepts und einer tieferen Einsicht in die Erfordernisse des Genres als sensibler Begleiter für zu leichte Stimmen zu profilieren, indem er das Orchester möglichst leise hielt und das Werk damit mancher Dimension und Farbe beraubte. Über weite Strecken klang Bellinis letzte Oper nämlich wie belanglos-leichte, dekorativ-diskrete Ballettmusik, was dem Werk ebenso nicht gerecht wird wie die bald viel zu schnellen, bald den Fluss der Musik lähmenden Tempi und die völlig überzogenen Akzente, die ebenso wie die bis in die letzte Reihe des Parketts hörbaren Podestsprünge keinen anderen Zweck haben als Aufmerksamkeit zu erregen; dass die eigentliche Vorstellung damit endet, dass ein einzelner Punktstrahler auf Stefan Soltesz ruht, zeugt von einer Eitelkeit, die keines weiteren Kommentars bedarf. Dass die Mehrheit der Premierengäste dennoch in Jubel ausbrach, gehört inzwischen ja zu den Ritualen im Aaltotheater.


FAZIT

Angesichts der szenischen Beliebigkeit, die das durchaus erwachsene Publikum zurecht lautstark abstrafte, wäre eine konzertante Aufführung vielleicht doch die richtigere, kostengünstigere Entscheidung gewesen, vor der man sich am Ende der letzten Spielzeit bei der bühnenwirksameren Norma ja auch nicht gescheut hat. Dann allerdings wäre noch deutlicher aufgefallen, dass auch in musikalischer Hinsicht viel Blendwerk aufgefahren wurde.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Stefan Soltesz

Inszenierung
Stefan Herheim

Bühne
Dieter Richter

Kostüme
Renate Schmitzer

Choreographie
Jeremy Leslie-Spinks

Dramaturgie
Alexander Meier-Dörzenbach/
Kerstin Schüssler

Chor
Alexander Eberle

Licht
Hartmut Litzinger



Opernchor und Extrachor
des Aalto-Theaters

Die Essener Philharmoniker



Solisten


Elvira
Elena Mosuc

Arturo
Mario Zeffiri

Riccardo
Károly Szilágy

Giorgio
Karl-Heinz Lehner

Enrichetta
Gritt Gnauck

Bruno
Herbert Hechenberger

Valton
Marcel Rosca

Primaballerina
Elena Butrimovich

Ballettratte
Nadine Cordovinus

Corps de ballet
Antonia Zagel
Judith Speckmaier
Karen Ilaender
Eva Weber
Ruth Scheller
Ines Fischbach
Cornelia Trümper
Tomoko Yamashita
(Ballettschülerinnen des
Gymnasiums Essen-Werden)

Bellini, das Genie
Christian Stadlhofer

Bellinino
Paulus Hagemeyer

Lakaien und Bellinissimi
Bernd Bochennek
Frederic Buhr
Wolfgang Danzer
Wolfgang Etterich
Matthias Hasselhuhn
Thomas Müller
Sebastian Nosol
Michael Schmitz
Frank Simokat

Krankenfrau
Ursula Rössler
(Statisterie des
Aalto-Theaters)






Weitere Informationen
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Theater Essen (Homepage)




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