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Musiktheater
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Il Viaggio a Reims
Opera buffa von Giuseppe Luigi Balloco
Musik von Giacchino Rossini


In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h 30' (eine Pause)

Premiere im Großen Haus des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen
am 23. Februar 2003


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Musiktheater im Revier
(Homepage)
Gipfeltreffen: Europa geht baden

Von Stefan Schmöe / Fotos von Rudolf Majer-Finkes



Vertreter der wichtigsten europäischen Nationen treffen sich in einem Hotel in der Provinz. Sie diskutieren, streiten, versöhnen sich, sind aber vor allem eins: handlungsunfähig. Sie kommen, im wahrsten Sinn des Wortes, nicht weiter. Was sich liest wie eine Beschreibung aktueller europäischer Befindlichkeiten ist, unwesentlich verkürzt, die Handlung der Reise nach Reims, im Original: Il Viaggio a Reims, und schon der Titel ist Spott und Hohn, denn in Reims werden die Reisenden nie ankommen. 1825 komponierte Gioacchino Rossini diese irritierende Anti-Oper, aber fast scheint es, als hätte er sie vorausschauend für unsere tage konzipiert.

Vergrößerung in neuem Fenster Vereinigtes Europa: Man isst zusammen ...

Im Gasthof zur Lilie wartet eine illustre multikulturelle Gesellschaft auf die Abreise nach Reims, wo Karl X. zum König gekrönt werden soll. Die Herren stellen den Damen nach, andere Herren sind eifersüchtig, eine Primadonna besänftigt alle mit ihrem Gesang, die Koffer werden inspiziert, die Reisekasse überprüft, und über allen wacht die Wirtin. Mehr passiert nicht, und Pferde für die Weiterreise sind nicht zu haben – also genügt man sich selbst, und in der finalen Party gibt jeder mit einem Ständchen seinen Nationalstolz zum Besten. Mehr Handlung gibt es tatsächlich nicht, und Rossini und sein Librettist Luigi Balloco spielen mit den allzu bekannten Versatzstücken der zeitgenössischen Opernproduktion – eine Meta-Oper sozusagen, wie man sie erst ein Jahrhundert später erwarten würde. Viele Aufführungen hat es nicht gegeben, denn kurz nach der Uraufführung zog der Komponist das Werk zurück und recycelte weite Teile der Musik für den Comte Ory. Erst in den letzten 25 Jahren wurde die Oper wiederbelebt. Ihrer Verbreitung dürfte im Wege stehen, dass man 10 große Partien besetzen muss, die fast gleichberechtigt sind und einem einzelnen Sänger kaum erlauben, sich besonders hervor zu tun. Das Musiktheater im Revier ist zu bewundern, dass es dieses Kunststück fast ausschließlich mit dem hauseigenen Ensemble zustande bringt – und das auf musikalisch sehr ordentlichem Niveau.

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... man badet gemeinsam ...

Regisseur Andreas Baesler verlegt das Geschehen in ein Berghotel mit Aussicht auf kitschiges Alpenpanorama irgendwann in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Röntgenaufnahmen und Grammophon wecken wohl nicht zufällig die Assoziation an ein anderes europäisches Gipfeltreffen von künstlerischem Range, nämlich den Zauberberg. Dieses klinisch angehauchte Ambiente verwandelt sich mehr und mehr in ein Irrenhaus; geht es zu Beginn im Speisesaal noch einigermaßen gesittet zu, so spielt die zweite der drei Szenen im Bad – da klettert Cavalier Belfiore, bekleidet im schicken Badekostüm, der Primadonna Corinna zwecks Liebesbekundung in die Wanne. Zum Finale sieht man die Gesellschaft vereinigt im gemeinsamen Schlafsaal, wo man Fähnchen schwingend das Heimatland besingt. Kleine Eingriffe in den Text lassen zum guten Schluss nicht den zu krönenden König, sondern den Komponisten dieses brillanten Schwachsinns hochleben.

Baesler wandert sicher auf dem schmalen Grat zwischen hintersinnigem Witz und Klamauk. Über eine Fülle liebenswerter Details darf man herzhaft auflachen, aber der Blick auf das Tollhaus Europa bleibt geschärft, gerade weil Baesler keine nationaltypischen Klischees bemüht. Mit ihren Papierfähnchen, mit denen sie fröhlich dem Ende entgegen wehen, sind sie ohnehin alle gleich, und alle dürfen sich eine farbige Papierkrone aufsetzen: Jeder ein kleiner König. Dass die schmucken bunten Kopfbedeckungen (wie zuvor schon die ebenfalls knallig gefärbten Koffer der Reisenden) das Logo der Düsseldorfer Olympiakampagne andeuten (die passenden Anstecknadeln dazu lässt die Sparkasse Gelsenkirchen am Eingang verteilen) ist mehr als nur eine hübsche Pointe. Das totale Chaos dieser hoffnungslos verrückten, dabei aber irgendwie liebenswerten Gesellschaft hat, veredelt durch Rossinis hinreißende Musik, auch ein utopisches Moment: Irgendwie gehören sie ja doch alle zusammen.

Vergrößerung in neuem Fenster ... ja, man engagiert sich sogar gemeinsam für Olympia an der Ruhr ...

Das Ensemble präsentiert sich nicht nur in prächtiger Spiellaune, sondern singt auch gut bis vortrefflich. Überragend ist die koloraturensichere, mit warmer Stimme singende Claudia Braun als Contessa di Folleville, die in einer großen Szene das denkbar schrecklichste Opernschicksal durchleidet (ihre Koffer sind verschwunden), aber am Punkt tiefster Verzweiflung das Erbarmen der Götter findet (ein Hut taucht wieder auf). Anke Sieloff als kapriziös-charmante Sängerin Corinna und Marie-Belle Sandis (Marchesa Melibea) stehen ihr kaum nach. Die Herren übertrumpfen sich gegenseitig mit hinreißenden komödiantischen Charakterzeichnungen, durchweg auch musikalisch sehr überzeugend: Ob Mark Adler als Belfiore oder Till Fechner als Lord Sidney , die auch im Badeschaum stets die Contenance wahren, ob Joachim G. Maaß als langfingriger Don Profondo, Nikolai Miassojedov als militaristischer deutscher Musikliebhaber Trombonok, Burkhard Fritz als russischer General, fast schon ein Bär, oder Nyle P. Wolf als kampfbereiter spanischer Grande – schwwer, jemanden aus dem homogenen Ensemble herauszuheben. Hinzu kommt noch Noriko Ogawa-Yatake, eine mütterlich-warme Hotelbesitzerin mit obligatem Jodler im Finale. Angesichts dieser selbstverliebten Gäste ist Nicolai Karnolsky ein wohltuend nüchterner Badearzt. Ähnlich wie die Sänger auf der Bühne – dazu gehört auch der gut disponierte Chor – stürzen sich die Instrumentalisten mit hohem Engagement ins musikalische Getümmel, das Cosima Sophia Osthoff am Dirigentenpult aber stets sicher im Griff hat. Das Orchester begleitet schwungvoll und virtuos, aber auch sängerfreundlich.

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... und wo endet das? Natürlich im Irrenhaus.

Zuletzt, wenn die Europäer im Partyrausch sich gegenseitig vom kollektiven Krankenlager aus ihre Hymnen vortragen, wird die Bühne endgültig von Verrückten bevölkert. Die spinnen, die Römer, Spanier, Deutschen, Russen, Engländer, Polen und Franzosen, und sie gruppieren sich, als wären sie auf dem Olymp, der vielleicht, wie oben schon erwähnt, in Form einer Olympiade nach Gelsenkirchen kommen könnte. Gleichzeitig schlagen die Fenster auf, und ein eisiger Schneesturm weht durch das Lazarett. Und das Musiktheater im Revier hat die denkbar schönste politische Bestandsaufnahme des alten, neuen Europa präsentiert.


FAZIT

Unbedingt sehenswert: Witzige, auch musikalisch überzeugende Bauchnabelschau aus dem Irrenhaus Europa.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Cosima Sophia Osthoff

Inszenierung
Andreas Baesler

Bühne
Eckhard Wegenast

Kostüme
Gabriele Heimann

Dramaturgie
Johann Casimir Eule

Chor
Nandor Ronay



Chor des
Musiktheaters im Revier

Neue Philharmonie
Westfalen


Solisten

* Besetzung der Premiere

Corinna
Anke Sieloff

Marquise Melibea
Anna Agathonos /
*Marie-Belle Sandis

Gräfin von Folleville
*Claudia Braun /
Elise Kaufman

Madame Cortese
Regine Hermann /
*Noriko Ogawa-Yatake

Chevalier Belfiore
Mark Adler

Graf von Libenskof
*Burkhard Fritz /
Juan Carlos Falcón

Lord Sidney
Till Fechner

Don Profondo
Joachim Gabriel Maaß

Baron von Trombonok
Nikolai Miassojedov

Don Alvaro
*Nyle P. Wolfe /
Jee-Hyun Kim

Don Prudenzio
Nicolai Karnolsky

Don Luigino
Sergey Fomenko

Delia
Gabriele Ernesti

Maddalena
Anna Agathonos /
Marie-Belle Sandis
wegen Erkrankung eingesprungen:
*Susanne Seefing

Modestina
Eva Tamulénas

Zefirino
Sergey Fomenko

Antonio
Bernd Frings



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