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Wie man schleichend in die Katastrophe rutschtVon Christoph Wurzel
Der Kern des "tragischen Reiseerlebnisses", das Thomas Mann in seiner 1930 veröffentlichten Novelle erzählt, geht auf ein Ereignis zurück, das dem gern mit seiner Familie an Badestränden urlaubenden Dichter im Jahre 1926 einen Aufenthalt im italienischen Forte dei Marmi verleidete. Dort war der berühmte Zauberer Cesare Gabrieli aufgetreten, dessen Vorstellung die Manns nach eigenem Bekunden mit einigem Entsetzen verfolgt haben. Es hat sich offensichtlich alles so abgespielt, wie es der Nobelpreisträger erzählt hat: der Zauberkünstler - in Novelle und Oper heißt er Cipolla -, eine Mischung aus heruntergekommenem Künstler-Bohemien und gerissen hochstaplerischem Artisten, trotzdem nicht ohne ein gewisses Charisma, zieht während seiner Vorstellung das Publikum in zwielichtiger Weise in seinen Bann. Zuerst vollführt er unter Mithilfe des Publikums Rechenkunststücke und andere billige Tricks, dann erschleicht er sich dessen Bewunderung durch hypnotische Manipulationen einzelner Personen und zwingt gar eine ganze Gruppe junger Männer in völliger Selbstvergessenheit zu wilden ekstatischen Zuckungen. Dieses Spektakel einer schleichenden Vergewaltigung des freien Willens seiner Opfer gipfelt schließlich darin, dass der Magier sich der erotischen Gefühle des liebesbekümmerten Mario bemächtigt und ihm suggeriert, er, Cipolla, sei seine Angebetete. Dermaßen hypnotisiert küsst Mario unter dem Hohngelächter anderer anwesender Ragazzi den eigentlich abstoßenden Zauberkünstler. Der "Augenblick von Marios Seligkeit" wird so zum Augenblick seiner größten Entwürdigung. Nach einer Schrecksekunde durchschlagen "zwei schmetternde Detonationen Beifall und Gelächter" im Publikum dieser Vorstellung - Mario hat den Zauberer erschossen. Dieser "letale Schluss" ist nach Thomas Manns Bekunden allein reine Erfindung im Ablauf dieser abscheulichen Vorstellung.
Noch ein zweiter Umstand war es, der der Familie Mann den Sommerurlaub 1926 in Italien verdarb: seit 4 Jahren herrschte Mussolini in Rom und die Faschisten hatten mit zahlreichen Maßnahmen ihre Macht gefestigt, so dass der Dichter bilanzierte, es habe in dem Urlaubsland an "kleinen Widerwärtigkeiten nicht gefehlt, die mit dem derzeitigen unerfreulichen überspannten und fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand zusammenhingen". Aus diesem Sujet hat der britische Komponist Stephen Oliver (1992 bereits im Alter von 42 Jahren verstorben) eine Oper gemacht, bei deren selbst verfasstem Libretto er trotz einiger Kürzungen und Straffungen dennoch sehr eng an Thomas Manns literarischer Vorlage geblieben ist. Die atmosphärische Dichte des epischen Werkes kommt dabei naturgemäß zu kurz, an dramatischer Wirkung hat dieser an sich genuin theatralische Stoff dadurch aber gewonnen. Für die deutschsprachige Erstaufführung der Oper hat Manfred Weiß eine Übersetzung angefertigt, die sich zum Teil wörtlich am erzählenden Text orientiert.
Und als Theater im Theater, respektive in der Oper, hat Manfred Weiß das kurze Werk denn auch äußerst wirkungsvoll in Szene gesetzt. Entscheidend ist die Podiumsbühne, um die in ansteigenden Reihen U - förmig die Zuschauerränge angeordnet sind. Das Orchester befindet sich hinter dem Mittelblock, trotzdem bleibt der Dirigent in Sichtweite der Sänger. Die Spielfläche ist in der 1. Szene hauptsächlich ein Laufsteg am Badestrand mit dazugehörigem Meeresprospekt. In der 2. Szene bildet ein kleines Podium den Aktionsraum für Cipollas fragwürdiges Illusionstheater und das Publikum selbst ist das Publikum auch in seiner Vorstellung, nachdem die übrigen Protagonisten der Oper (die Touristin mit ihrer Tochter, Signora Angiolieri, der Bürgermeister, auch Mario und die Übrigen) sich darunter gemischt haben. Allerdings fordert der Komponist auch vom Publikum nichts, was übermäßig schrecken könnte. Die Musik präsentiert sich gemäßigt in freier Tonalität, durch die kammermusikalische Besetzung (10 Instrumente oft solistisch oder im kleinen Ensemble verwendet) ergibt sich eine große Transparenz der musikalischen Strukturen. Die musikalische Sprache ist eher illustrativ, das Wort unterstützend, dabei lakonisch und prägnant. Nie werden die Sänger zugedeckt, optimal ist der Text zu verstehen - eine sängerfreundliche Musik also und unmittelbar zugänglich auch für ein vielleicht noch Opern unerfahrenes Publikum. Mit dem wachsenden Gefühl der Beklemmung, bedingt durch die sich steigernde Handlung, gewinnt die Musik in gleichem Maße an Ausdrucksintensität, bis hin zum aggressionsgeladenen Schlusspunkt. Dennoch entsteht vor allem durch die Instrumentation ein verfremdender Effekt, der das Bühnengeschehen noch aus einer kritischen Distanz betrachten lässt. Dass Oliver vor allem auch Komponist von oftmals zu Unrecht geschmähter Gebrauchsmusik war, ist diesem aus der stattlichem Reihe seiner über 40 Bühnenwerke stammenden Stück durchaus positiv anzumerken. Zu einer stark wirkenden Unmittelbarkeit des Geschehens trägt die Regie wirkungsvoll bei. Es wird ungemein realistisch gespielt - hervorragend von allen Sängerdarstellern. Auch spielt das reale Publikum mit, wenn auch nur ein wenig, dennoch bleibt das Geschehen als Fiktion noch erkennbar. Aber die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Theater fließen in einander - so wie es auch bei Gabrielis / Cipollas Vorstellung und in der inszenierten Politik eines Mussolini oder auch des von Thomas Mann vorausgeahnten Hitler gewesen ist, die vom Dichter eigentlich gemeint sein mögen.
Die Hauptrolle des Cipolla verkörpert Motti Kastón aus dem Stuttgarter Opernensemble mit beeindruckender darstellerischer wie sängerischer Kraft. Die für die Rolle typische Mischung von Anziehung und Abscheu, die von dieser Person ausgeht, vermag er drastisch lebendig zu machen. Gesanglich steht er die immerhin rund einstündige Partie ohne Einbußen durch. Eine virtuose solistische Leistung! Das übrige weitgehend sehr junge Ensemble (die jüngste Rollenträgerin, die auch ein paar Takte zu singen hat, Amelie Wimpffen als Tochter, geht in die dritte Grundschulklasse) besticht ebenfalls durch souveräne Bühnenpräsenz und sängerische Qualität. So ist die Einrichtung der Jungen Oper in Stuttgart nicht nur Oper für junge Leute, sondern auch Oper von jungen Künstlern, die sich hier nach den ersten an anderen Stellen verdienten Sporen im Theaterbetrieb weiter bewähren können.
Die Junge Oper ist ein Zweig der Staatsoper Stuttgart mit einem eigenen, jährlich garantierten Etat. Pro Spielzeit kann sie 2 Produktionen zeigen, die sich an ein junges Publikum richten; der beste Weg, um das Publikum für anspruchsvolles Operntheater, wie es ja in Stuttgart vorbildlich gepflegt wird, heranzuziehen.
Mit diesem Projekt fördert Operntheater nicht nur erfolgreich sein Publikum der Zukunft, sondern stellt sich zudem wichtigen und brisanten Fragen der Zeit und bewährt sich damit beispielhaft im Spannungsfeld zwischen Kunst, Realität und Publikum. Ihre Meinung ?Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Dramaturgie
Flöte / Piccolo
Klarinette
Tuba
Kornett
Klavier / Harmonium
Violine
Violoncello
Percussion
Solisten* Abendbesetzung
Signora Angiolieri
Die Mutter
Tochter
Bürger
Bürgermeister
Guiscardo
Signor Angiolieri
Cipolla
Mario, ein junger Hotelkellner
Antonio
Beppe
Franco
Ruggiero
Vittorio
sowie:
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