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Boris Godunow
Oper in vier Akten mit Prolog
Fassung von 1872
Text und Musik von Modest Mussorgski

In russischer Sprache mit deutschen Übertiteln.

Wiederaufnahme am 2. Oktober 2004
in der Niedersächsischen Staatsoper Hannover
Premiere der Neuinszenierung am 22. Dezember 2000

Aufführungsdauer: ca. 4 h 10 Minuten (zwei Pausen)




Niedersächsische Staatsoper Hannover
(Homepage)
Von Machtgier zum Wahnsinn

Von Bernd Stopka / Fotos von Thilo Nass

Ungewöhnlich viele Plätze blieben bei der Wiederaufnahme des Boris Godunow im Opernhaus Hannover frei. Die Produktion war im Dezember 2000 eine der letzten Neuinszenierungen unter der Intendanz von Hans-Peter Lehmann. Sein Nachfolger Albrecht Puhlmann geht andere Wege und hat die Seh- und Hörgewohnheiten verändert. So war dieser "Boris" wie ein Ausflug in die jüngere Vergangenheit. Aber durchaus ein schöner Ausflug.

In Hannover wird die Fassung von 1872 mit allen Szenen inklusive Polenakt gespielt. Mussorgskis eigene Instrumentation ist sicherlich spröder als die in den Bearbeitungen von Rimskij-Korsakow oder Schostakowitsch. Aber sie drückt aus, was es auszudrücken gilt und das in ganz reizvollen Klängen und Rhythmen.

Anthony Pilavachi verzichtet bei seiner Regiearbeit auf überladen-prunkvolle Bilder ebenso wie auf provokative Mätzchen und gewaltsame Aktualisierungen. Das Hauptaugenmerk richtet er auf die Charakterzeichnung der Personen. Und er zeigt die Kontraste und Verbindungen, die sich zwischen den Einzelschicksalen und dem Gemeinschaftsschicksal des Volkes ergeben.

Als Einheitsbühnenbild hat Ric Schachtebeck den Raum mit schmutzig-rotbraunen, bühnenhohen Wänden begrenzt, die an Holzverschalungen erinnern und den Eindruck von Enge und Armut vermitteln. Verschiebbare Elemente, Türen und Tore und eine eindrucksvolle Lichtregie variieren die Szenenbilder. Die Kostüme von Yvonne Forster haben durchaus modernen Charakter, aber man sieht doch ganz deutlich, dass wir in Russland sind.

Pilavachi gibt dem Volke was des Volkes ist: die Hauptrolle in Mussorgskis düsterem Drama. Eine große Aufgabe für Chor, Kinderchor und Extrachor, die bei aller Kraft der Klänge durchaus differenziert klingen. Nicht umsonst hat ihm die Zeitschrift "Opernwelt" jetzt den Titel "Chor des Jahres" verliehen.

Vergrößerung in neuem Fenster Der Zarenmantel so schwer wie das Gewissen:
Boris (Hans-Peter König) und Chor.

In der Titelrolle zeichnet Hans-Peter König stimmgewaltig ein grandioses Charakterbild. Ein schwarzer Bass, eine große Stimme und dazu ein Hüne von einem Mann. Man hört keine Schwäche und keine Anstrengung. Die Stimme klingt immer satt und rund und bietet vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten. Mit aller Sicherheit aus dem üppigen Material schöpfend, zeigt er den Weg von Machtgier zum Wahnsinn, stimmlich und schauspielerisch. Dabei wirkt er nicht überzogen oder theatralisch, sondern so, wie der Mann von nebenan, der langsam durchdreht und doch im Bewusstsein stirbt.

Doch bis dahin hat er einen schweren Weg vor sich. Da ist der liebende Vater, der sich Zeit für die Geschichten seines Sohnes Fjodor (knabenhaft rein: Carolin Masur) und die Trauer seiner Tochter Xenia (auch stimmlich voller Liebreiz: Alla Kravchuk) nimmt und kindgerecht Anteil zeigt. Da ist der von seinem Gewissen geplagte Anstifter zum Mord, der von Albträumen und Wahnvorstellungen geplagt wird, und da ist der Politiker, der Angst um seine neu errungene Macht hat. Mit beißendem Spott und bitterem Hohn bedenkt er Schuiski, den Berater, den er hasst und doch braucht, auf den er sich nicht verlassen kann, ohne den er aber verlassen ist. Schuiski ist ein Giftzwerg, einer, der als Berater in der zweiten Reihe steht und doch als Erster die Fäden in der Hand hält. Und der Boris mit Methode den Weg in den Wahnsinn ebnet. Hans-Dieter Bader singt diesen scheinbar korrekten Widerling angemessen bedrohlich keifend.

Boris' Tod ist eines der stärksten Bilder dieser Inszenierung. Es wirkt wie eine Wahnvorstellung: Mit roten Grablichtern betritt der Chor langsam die Bühne und umschließt den Zaren, der stirbt indem er unbeleuchtet im Volk untergeht.

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Auf dem Weg in den Wahnsinn:
Boris (Hans-Peter König)

Randall Jakobsch beweist als Pimen Stimmkultur, lässt aber satte Tiefe vermissen. Ein sehr junger alter Mönch, dem man den nahen Tod kaum abnimmt. Im Gegensatz zu Hans-Peter König ist er ein heller Bass. Das hat aber auch seinen Reiz. Besonders in der Szene, in der er den Bojaren und Boris von der Heilung des Blinden berichtet. Da treffen zwei Bässe aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein können.

Geradezu karikiert mutet die Szene in der Schenke an. Die Schenkwirtin sitzt wie eine gelangweilte Puffmutter im Tresenfenster ihres heruntergekommenen Imbisswagens, der in erster Linie flüssige Stärkung feilbietet. Sie ist eine echte Schlampe, durch und durch mannstoll und dabei nicht wählerisch. Egal ob es die radwandernden Ex-Mönche Waarlam und Missail (stimmkräftig: Frank Schneiders und Thomas Ruud) sind oder gar die analphabetischen Polizisten. Am intensivsten und eindeutigsten balzt sie Grigori an, denn der scheint ihr die beste Partie zu sein. Aber im Zweifelsfalle nimmt sie jeden. Aber keiner will sie. Wenn sie sich nur mal entscheiden könnte, ob sie nun die rosa Plüschschlappen, oder die hochhackigen, ausgelatschten Stiefel mit oder ohne Strümpfe an- oder ausziehen möchte...: Gertraud Wagner ist eine Veteranin hier wie dort. Entsprechend köstlich überzogen und angemessen schrill klingt nicht nur ihr Lied vom Enterich.

Vergrößerung in neuem Fenster Heruntergekommene Wirtschaft:
Grigori (Latchezar Pravtchev) und
die Schenkwirtin (Gertraud Wagner).

Ja, ja, die Lieder. Mussorgskis erklärte Absicht war es, das Russische, das Volkstümliche in seinen Werken zu verwenden und sich nicht den westlichen Einflüssen hinzugeben. Neben den für den westlichen Hörer so typisch russischen Klängen, zeugen auch die vielen (Volks-) Lieder im "Boris" davon. Auch wenn den Zuhörer zuweilen der Eindruck beschleicht, dass man das eine oder andere auch hätte weglassen können.

Keinesfalls weglassen sollte man aber den Polenakt. Hier macht Mussorgski auf musikalische Weise deutlich, dass Russland Gefahr droht. Die Musik hat deutlich westlichen Einfluss. Ja, das Liebesduett zwischen Marina und Grigori erinnert stellenweise sogar an die italienische Oper.

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Machtgeil aus Langeweile:
Marina (Leandra Overmann).

Latchezar Pravtchevs zuverlässiger Tenor klingt samtig-lyrisch. Ein beeindruckender Grigori, auch wenn man sich manchmal ein bisschen mehr Kraft und Glanz in der Höhe wünschen würde. Die Partie der Marina liegt hörbar unbequem für Leandra Overmann. Da offenbaren sich kleine Brüche zwischen Mittelage und Tiefe, die die Stimme unausgeglichen klingen lassen. Ihre größere Stärke ist der Ausdruck. Ihre Marina ist keine verführerische Schönheit, sondern eine Dame der gehobenen polnischen Gesellschaft, die sich durch ihren Marsch auf Moskau einen Spaß und Abwechslung verspricht, deren Machtgeilheit aus Langeweile geboren ist. Ein furioses Weib, dass sich rote Rosen köpfend in Rage singt. Die Geister, die sie rief, wachsen ihr aber über den Kopf.

Der lüsterne Rangoni lässt sie hypnotisierend und unter klerikalem Druck zu seiner Marionette werde. Sie will Grigori benutzen und wird doch von Rangoni benutzt. Andreas Förster verkörpert den alternden machtbesessenen Geistlichen mit glänzender Glatze und singt ihn mit starkem Vibrato.

Vergrößerung in neuem Fenster Unorthodoxe Überzeugungspraktik:
Rangoni (Andreas Förster)
auf Marina (Leandra Overmann).

Beide erscheinen im Schlussbild als die wahren Gewinner. Rangoni bereitet Grigori, dem falschen Dimitri und neuen Zaren, den Weg durch das Volk und Marina tritt an seine Seite. Im Zarenmantel präsentiert sich Grigori dem Volk, das zuvor seinen Hass an einem Bojaren ausgelassen hat. Es jubelt und hofft, wie es im erstem Bild auf Boris gehofft hat. Das Schlussbild in Pilavachis Inszenierung zeigt die neuen Machthaber inmitten des wie ohnmächtig zu Boden gesunkenen Volkes. Hinkend durchschreitet die geschändete Xenia die Bühnenlänge. Fjodor fehlt. Ist es ihm ergangen wie dem Zarewitsch, den Boris ermorden ließ um Zar zu werden? Der Kreis schließt sich. Oder die Spirale. Der Gottesnarr (ergreifend schön von Michael Nowak gesungen) wird Recht behalten: "Weine, rechtgläubige Seele. Denn der Feind kommt bald und das Dunkel kommt...".

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Das Volk und der Sündenbock.


FAZIT

Eine Produktion, die nicht den aktuellen Weg der Staatsoper Hannover repräsentiert, aber rundum gelungen ist. Hans-Peter König in der Titelpartie ist ein Ereignis. Nicht nur für Nostalgiker gibt es außerdem ein Wiedersehen und -hören mit vielen langjährigen Ensemblemitgliedern.


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Produktionsteam


Musikalische Leitung
Shao-Chia Lü

Inszenierung
Anthony Pilavachi

Bühne
Ric Schachtebeck

Kostüme
Yvonne Förster

Choreinstudierung
Johannes Mikkelsen



Chor, Kinder- und Extrachor
der Staatsoper Hannover
Staatsorchester Hannover


Solisten

Boris Godunow
Hans-Peter König

Grigori
Latchezar Pravtchev

Marina
Leandra Overmann

Schuiski
Hans Dieter Bader

Pimen
Randall Jakobsch

Rangoni
Andreas Förster

Schenkwirtin
Gertraud Wagner

Waarlam
Frank Schneiders

Missail
Thomas Ruud

Gottesnarr
Michael Nowak

Fjodor
Carolin Masur

Xenia
Alla Kravchuk

Xenias Amme
Helga Schmidt



Weitere
Informationen

erhalten Sie von der
Niedersächsischen
Staatsoper Hannover

(Homepage)



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