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Musiktheater
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Neither

An opera.
Text von Samuel Beckett
Musik von Morton Feldman

Mit einem Prolog
von Raoul Mörchen und Klaus Reichert

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden (1 Pause)

Premiere am 31. Oktober 2004
im Staatstheater Stuttgart

Besuchte Aufführung: 17. November 2004

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)

Eine Oper, deren Autoren keine Opern mögen

Von Christoph Wurzel


Weder noch: dies ist keine Oper im eigentlichen Sinn, aber auch kein Konzert. Eine "Handlung" in der Form bestimmbarer Aktionen gibt es ebenso wenig wie einen fixierten Ort, an dem etwas geschieht. Figuren als handelnde Subjekte treten nicht auf. Es gibt zwar einen Text, aber der ist weder semantisch noch strukturell erfassbar, sondern bleibt nur als Idee der gedankliche Überbau von rund einer Stunde Musik. Die Klänge werden durch keinerlei Zeitgefüge strukturiert, sondern nach dem Willen des Komponisten ist es umgekehrt: Zeit konstituiert sich aus dem musikalischen Material. Dieses kennt keine Motive oder thematisch bestimmbare Elemente, sondern besteht aus "patterns", Mustern, stofflichem Tonmaterial, aus dem der musikalische Fluss sich entwickelt.
Eine Sängerin trägt die allein als phonetische Ereignisse übrig gebliebenen Textbausteine vor. Der riesige Orchesterapparat erzeugt ein ständig schwebendes Ineinander wechselnder Klangfarben, deren sanfte Dynamik nur an wenigen Stellen durch Zäsuren unterbrochen wird. Es ist eine zumeist leise Musik, die von "nichts" sich her entwickelt, zu nichts hinführt und nichts bedeutet will.
Auch der zu Grunde liegende Text ist kaum hermeneutisch zu erfassen. Sein gedanklicher Fluss bewegt sich "hin und her vom inneren zum äußeren Schatten" bis zu einer "unaussprechlichen Heimstatt". Kein lyrisches Ich spricht, nur ein lockerer syntaktischer Zusammenhang ist vorgegeben.

In diesem abstrakt unbestimmbaren Text-Klang-Geflecht irrt fluktuierend die Phantasie des Zuhörers herum und wer sich darauf einließe, würde bald mit dem Atmen dieser Klänge verschmelzen, diese Musik erzählt nichts, bedeutet nichts, sondern ist "nur" anwesend als eigene Erscheinung. Als eine Negation der Welt versteht Morton Feldman (1926 - 1987) seine Musik, als ästhetische Verselbständigung. Er hat dies seine "Kunstrevolution" genannt - denn: "Die Welt hat keinen Sinn, es ist nutzlos, den Sinn der Welt zu diskutieren".

In diesem existenziellen Nihilismus begegnet der amerikanische Komponist dem europäischen Schriftsteller Samuel Beckett, den er 1976 bei Proben zu einem seiner Stücke in Berlin traf und um ein Libretto zu einer Oper bat. Es dürfte eine der merkwürdigsten Entstehungsgeschichten des Musiktheaters überhaupt sein. Denn bereits einige Monate zuvor hatte Feldman dem Opernhaus in Rom ein Werk von ihm in Zusammenarbeit mit Samuel Beckett versprochen, wovon jener zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nichts wusste.
Ex nihil ist gleichsam dann "Neither. An opera" entstanden: Ein echt Beckettscher Dialog markiert den Beginn der Zusammenarbeit mit Feldman: "Herr Feldman, ich mag die Oper nicht!" - "Da widerspreche ich Ihnen nicht." - "Ja also, was wollen Sie dann von mir?" Feldman erhoffte sich die "Quintessenz", also einen auf den Kern aller existenziellen Fragen reduzierten Text, den Beckett ihm dann wenig später auf einer Postkarte notiert an dessen Wohnort nach Buffalo schickte.

Ganze 16 Zeilen umfasst dieses wohl kürzeste Opernlibretto der Musikgeschichte und ist ebenso wie Feldmans Musik gebaut als fließender Gedankenstrom, dessen Bausteine zwar Gegenständliches bedeuten, die aber Chiffren für existenzielle Fragen sind: Schatten, Türen, Schritte, Laute, Licht und Heimstatt. Aber dieser Text wird völlig zu Phonemen atomisiert und auf Melismen reduziert vorgetragen und so in das klangliche Geschehen der Instrumente integriert.
Mit bewundernswerter Sicherheit entfaltete sich die von einer schweren Erkältung gebeutelte Stimme von Petra Hoffmann vom aus dem Orchestergraben herausragenden Podest in den Theaterraum. (Bei der Premiere erfüllte Anu Komsi mit großem Erfolg diesen Part). So statisch wie die Gestalt der Sängerin muteten auch die gesungenen Passagen an: Nur wenige Töne überhaupt sind es: um Fis - G - As - H in der hohen Lage kreist die Stimme und setzt ihre Klangfarbenakzente auf den orchestralen Untergrund. Stimme und Instrumente korrespondieren miteinander in ständiger Veränderung der klanglichen Entwicklungen. Unerschöpflich wirkt dabei der klangmalerische Pinselstrich, der diese betörenden Klanggemälde hervorbringt. Außerordentlich spannungsvolle akustische Momente wechseln sich ab.

Doch zur Oper gehört auch der visuelle Aspekt und hierzu hat das Studio AZURRO mittels Videoprojektionen beigetragen. Anders als die in eine von jeder Konkretion freie Phantasie hinweg tragende Musik führen die Bilder in einer konkreten Sehweise zu bestimmten Gegenständen hin , die als existenzielle Symbole dem Bekettschen Werk entnommen zu sein scheinen, also als die Quintessenz seines dichterischen Schaffens verstanden werden können: eine Maus oder Ratte, ein Bett, ein Schaukelstuhl, ein brennender Regenschirm, ein Koffer, ein paar ausgetretene Schuhe, eine sich öffnende und schließende Tür, die brechenden Sprossen einer Leiter, schließlich ein kahler Baum.
Quer über den Bühnenboden und die hintere Bühnenwand laufen diese vom Licht erschaffenen Bilder, vergrößern sich, verschwinden wieder, werden überblendet, schwanken hin und her und führen das Auge des Zuschauers mit dem Mittel der subjektiven Kamera in eine Vorstellungswelt des Ungefähren, Unbestimmbaren. Pausenlos stellt eine Realität sich her und verschwindet ebenso unvermittelt wieder.

Schwer für das Publikum - zum Subjekt der Geschichte wird jeder selbst kraft eigener Vorstellungskraft. Keine Deutung der Welt wird geboten, kein Weg zum Verstehen gebahnt. Nur ein Ausschnitt aus dem Fluss des Lebens zieht vorüber. Für das Verstehen wird jeder auf sich selbst zurückgeworfen. Dieses Werk verlangt ein Publikum, das anders zu hören, zu sehen vermag als in der Oper gewohnt. Und das war leider in der besuchten Vorstellung nicht allen gegeben: in störender Weise verließen Besucher den Opernsaal, vereinzelt nur, doch unachtsam in höchstem Maße. Dabei hätten sie sich nur einzulassen brauchen, denn provoziert konnte man sich nicht fühlen. Aber das Werk zu verneinen, ist ja auch eine Möglichkeit, sich dazu zu verhalten. Und so bewies dieses Opernprojekt auch in der Verweigerung den singulären Rang von Feldmans und Becketts radikal auf Freiheit insistierender Kunst.

Offensichtlich hatte die Dramaturgie mit Verständnisbarrieren gerechnet. Akademisch, trocken und steif begann denn der Abend mit dem "Prolog", einem Halbstunden-Gespräch zweier Experten in der Manier eines Spezialistentalks auf der Bühne über die Entstehung des Werks und die Kunstphilosophie seiner Autoren. Als ein Zugeständnis an den gängigen Opernbetrieb wirkte dann noch die Pause mit Häppchen und Sekt, bevor das Eigentliche begann - und das war eine Stunde von höchster künstlerischer Anspannung.


FAZIT

Ein Meilenstein der innovativen Stuttgarter Opernarbeit. Besonders wertvoll, weil nicht ausgelagert ins Reservat für Modernes, sondern wie selbstverständlich einbezogen in den täglichen Opernbetrieb.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Roland Kluttig

Inszenierung
Videoprojekt STUDIO AZURRO
Luk Perceval

Regie
Paolo Rosa

Fotografie und Licht
Fabio Cirifino

Technische Realisation
Stefano Roveda

Bühne
Stefano Gargiulo
(Mubeiò)

Kostüme
Berna Todisco
(Mubeiò)

Dramaturgie
Klaus Zehelein
Sergio Morabito


Staatsorchester Stuttgart


Solistin

Sopran
Anu Komsi *
/ Petra Hoffmann

* Premierenbesetzung




Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Stuttgart
(Homepage)



Da capo al Fine

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