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Intolleranza 1960
Szenische Aktion in zwei Teilen
nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino
Text von Angelo Maria Ripellino, Julius Fucik, Jean-Paul Sartre, Paul Eluard, Wladimir Majakowskij und Bertolt Brecht
Deutsche Übersetzung von Alfred Andersch
Text der ersten Szene des zweiten Teils von Heiner Müller
Musik von Luigi Nono


in deutscher Sprache mit Übertiteln
Aufführungsdauer: ca. 70 min (keine Pause)

Premiere im Saarländischen Staatstheater am 25. September 2004 
(weiterer Vorstellungsbesuch am 29. September 2004)


Logo:  Theater Saarbrücken

Saarländisches Staatstheater (Homepage)
Lebendig ist, wer das Leben liebt

Von Claus Huth / Fotos von Bettina Stöß

Beim Schreiben dieser Kritik erreicht mich die Nachricht, dass die Zeitschrift „Opernwelt“ als Opernhaus des Jahres die deutschen Stadttheater in ihrer Gesamtheit gekürt hat. In der deutschen Opernlandschaft ein überfälliges Zeichen. Leisten doch gerade die kleinen Häuser oft Großes, sei’s in künstlerischer, sei’s in bildungspolitischer Art und Weise. Nicht nur, dass die kleinen und mittleren Häuser für viele Theatergänger die einzigen Bezugspunkte der Theaterlandschaft sind: Diese Häuser leisten so auch einen nicht unerheblichen Beitrag zur allgemeinen ästhetischen und – dadurch auch – politischen und sozialen Bildung ihrer Besucher. Arbeit an der Basis, die sich auszahlen kann – wie es auch die Eröffnungspremiere des Saarländischen Staatstheaters in der Saison 2004/2005 eindrucksvoll demonstrierte.

Keine leichte Kost hatte man aufs Programm gesetzt. Und keine leichte Aufgabe für das eher kleine Dreispartenhaus, musikalisch wie szenisch: Luigi Nonos szenische Aktion „Intolleranza 1960“. Dass die Aufführung am Ende heftig akklamiert wurde und keineswegs für türenschlagend fliehende Besucher sorgte (wie noch vor einigen Jahren am selben Haus in Bergs „Wozzeck“ erlebt!) , zeigt, wie viel die Arbeit der Theater vor Ort erreichen kann.

„Intolleranza“ ist kein unproblematisches Stück: Für das Handlungsgerüst nahm sich Nono Ereignisse aus dem Jahre 1960 zum Vorbild, durch die er seinen Protagonisten, der in Alfred Anderschs deutscher Übertragung „ein Flüchtling“ ist, jagt. Ein Bergwerksunglück in Belgien und die Überschwemmung der Po-Ebene fallen in die Zeit der Komposition und der Uraufführung; ebenso die politischen Parolen der Demonstration, in die der Flüchtling gerät. „Morte al fascismo!“, „No passeran!“, „Down with discrimination!“, „La sale guerre“, „Libertá ai popoli!” skandiert da der Chor. Die  Uraufführung in Venedig 1961 wurde aus offenbar politischen Gründen massiv gestört - „Intolleranza“ ist also ein durch und durch politisches Stück.

Wie bringt man das auf die Bühne? Regisseur Christian Pöppelreiter entschied sich dafür, das Stück nicht in einen tagesaktuellen politischen Kontext zu versetzen, sondern die Handlung als eine allgemeingültige Parabel zu erzählen. Unabhängig von konkreten politischen Bezügen zeigt die Saarbrücker Aufführung eine Geschichte, die sich in verschiedenen sozialen und politischen usammenhängen immer wieder ereignen könnte. Damit knüpft Pöppelreiter an eine Sichtweise an, die schon Christof Nel 1992 für das Opernhaus Stuttgart entwickelt hat. Konsequenter aber noch als dort vermeidet die Inszenierung in Saarbrücken die Illustration der genannten politischen Parolen. In der Demonstrationsszene des ersten Aktes bleiben die Plakate und Transparente der Demonstranten leer und schwarz wie die restliche Bühnenwelt.

Diese Bühnenwelt ist völlig abstrahiert, weder Kostüme noch Ausstattung lassen Rückschlüsse auf eine zeitliche Verankerung zu. Kalt und leer ist alles, schwarz die dominierende Farbe, in der das Rot, das das Unglück des Beginns symbolisiert, und die spärlichen hellen Flecken als ein deutlicher Kontrast erscheinen. Anonym sind die Opfer, anonym die Helfershelfer der Unterdrückung, beide Gruppen gleichermaßen gesichtslos agierend. Gleichwohl ist fortwährende Bedrohung spürbar, was einerseits durch einfachste theatralische Mittel, andererseits durch die Ausstattung der Bühne erreicht wird.

Der Architekt Daniel Libeskind hat eine expressive, fast sprechende Bühnenskulptur entworfen, deren zeichenhafte Oberflächenstruktur sicher nicht zufällig an Libeskinds Architektonik des Jüdischen Museums in Berlin erinnert. Ein verzerrter Quader schiebt sich mit aller Gewalt in den Raum; er erdrückt unter seiner Last alles, was vor ihm ist. Die Oberfläche ist begehbar, doch auch darüber streckt sich menetekelhaft drohend ein verzerrtes Trapez. Diese Skulptur ist so raumgreifend, dass sie die Protagonisten auf beiden Seiten der Macht, egal ob Opfer oder anonyme Helfer der Unterdrücker (die in dem Stück nie in persona auftreten), zu erdrücken droht. Als gegen Ende des ersten Teils, als es dem Flüchtling gelingt, aus der Folterhaft auszubrechen und in die Freiheit zu entkommen, das Bühnenbild in die geöffnete Hinterbühne zurückfährt, empfindet man die weichende Bedrohung nachgerade körperlich mit. Und am Ende, wenn die Skulptur als „Flutwelle“, die den Flüchtling und seine Gefährtin verschlingen wird, langsam wieder nach vorne rollt, will der Zuschauer  unwillkürlich zurückweichen.

Christian Pöppelreiter nutzt den durch die Skulptur zunächst deutlich begrenzten Raum geschickt, indem er einen Bewegungschor (Statisterie des Saarländischen Staatstheaters) neben den Protagonisten auftreten lässt. Schwarz gewandete, charakterlose Gestalten, die sich unter der Unterdrückung beugen, die zwar einerseits die Toten des offenbar geschehenen Unglücks beweinen, andererseits aber selbst nicht ähig werden, zu agieren, einzugreifen, die Geschehnisse zu ändern. Der singende Chor sitzt links und rechts über dem rchestergraben; auf diese Weise wird seine Position als teils kommentierendes, teils aber auch agierendes Kollektiv unterstrichen. Pöppelreiter konzentriert die szenischen Aktionen schnell auf den Protagonisten und seine Konflikte, verwendet viel Aufmerksamkeit auf die Begegnungen mit der Frau, die er auf seiner Flucht zurücklässt und die Gefährtin, die er auf seiner Reise, die auch eine Reise zu sich selbst ist, findet. Immer wieder nimmt Pöppelreiter die szenische Aktion zugunsten der Musik zurück, etwa wenn der Protagonist zu Beginn seiner Reise alleine im Bühnenvordergrund steht und aus der Tiefe der Bühne ein zart hoffnungsvoller a-cappella-Chor ertönt, fast wie einer der „Himmelschöre“ aus Wagners „Parsifal“. Dadurch entsteht bisweilen ein fast ritueller, starrer Charakter, wie eine Reminiszenz an Bachs Passionen, die Pöppelreiter als eine musikalische Quelle des Stückes nennt.

Die Reise des Protagonisten durch die verschiedenen Stationen der Intoleranz erinnert sicher nicht von ungefähr an den Kreuzweg Jesu, mit dem Unterschied, dass Nonos Protagonist nicht wie Jesus die Allgemeingültigkeit für sich in Anspruch nimmt. Nicht einer alleine trägt hier die Last aller auf den Schultern, sondern einer übernimmt bewusst seine eigene Last, stellt sich ihr und geht letztlich daran zugrunde. Das Ausbrechen aus der anonymen Gesellschaft, aus dem schwarz-schwarz der Gemeinschaft, wird durch Kostüme symbolisiert, die sich schleierhaft über die Grundkostüme der Figuren legen. Man kann Vogelfedern erkennen. Der Wunsch in die Freiheit zu fliegen – ein Traum?

Zum Höhepunkt dieser sehr stark auf das Subjekt bezogenen Sicht gerät das Aufeinandertreffen des Protagonisten, seiner Gefährtin und seiner Frau zu Beginn des zweiten Aktes; in Pöppelreiters Sicht offensichtlich eine Kernszene. Gänzlich verzichtet wird auf die „Projektionen des Schreckens und des Fanatismus“, die im Textbuch in dem Satz „Arbeit macht frei“ gipfeln, das dazu komponierte Schlagzeugintermezzo deutet Pöppelreiter szenisch als Auseinandersetzung der beiden Frauen, die um den Mann, den sie lieben, kämpfen. Der Ausruf des Protagonisten „Nie! Nie wieder!“ ist nicht mehr nur politisch als Fanal gegen die Unterdrückung der Nazis zu verstehen. Vielmehr schleudert der Flüchtling ihn seiner ehemaligen Frau entgegen - ein endgültiges Zeichen der Trennung, das in seiner Grausamkeit fatalerweise im privaten ebenso unterdrückend und bösartig wirkt wie die öffentliche Unterdrückung von außen. Ist der Unterdrückung und der Intoleranz überhaupt zu entgehen? Holt sie uns nicht immer wieder ein, ist sie nicht zwangsläufig Folge des Zusammenlebens von Menschen? Unangenehme Fragen stellt die Inszenierung nicht zuletzt auch Nonos Stück, das als Fanal gegen Ungleichbehandlung, Unterdrückung, Intoleranz und Grausamkeit gemeint ist. Und Nonos Stück – das ist in der Saarbrücker Aufführung das letztlich überraschende, hält diese Befragung aus, ja, gewinnt durch sie am Ende ganz neue Aspekte. Doppeldeutigkeiten finden sich immer wieder, so auch am Ende, wenn der Flüchtling und seine Gefährtin zunächst auf der Skulptur der Unterdrückung tanzen, bevor die Gefährtin stirbt. Der Flüchtling bleibt am Ende allein zurück, sein Schicksal wird szenisch nicht besiegelt.

Dazu passt, dass man – gleich der erwähnten Stuttgarter Aufführung – auf die „Absurditäten des heutigen Lebens“ verzichtet, die das Textbuch an den Anfang des zweiten Teils stellt. Stattdessen, wie in Stuttgart, wird Heiner Müllers Text „Sisyphus“ eingespielt. Die Geschichte des Sysiphus als Bild für das Schicksal des Protagonisten: Unmöglich ist es, die Aufgabe zu schaffen; der Stein rollt den Berg immer wieder hinab und zwingt Sisyphus, erneut zu versuchen, den Stein auf den Gipfel zu rollen. Das Streben des Menschen kann nie von endgültigem Erfolg gesegnet sein. Letztlich eine bittere Erkenntnis. „Gedenkt unser mit Nachsicht“, fordert der letzte Satz des Stückes mit Worten Berthold Brechts. Sind wir schon an dem Punkt, an dem wir „gedenken“ können?

Neben den theatralischen und dramaturgischen Schwierigkeiten hat Nonos „Szenische Aktion“ erhebliche musikalische Hürden: Die a-cappella-Chöre des Anfangs und des Schlusses galten zur Zeit der Uraufführung als so unsingbar, dass sie für die Bandeinspielung während der Aufführung aus einzeln aufgenommenen Tönen, Silben und Akkorden montiert werden mussten. An Orchester und Sänger werden durchweg hohe Anforderungen gestellt. Erstaunlich und bemerkenswert ist daher, was der junge Dirigent Constantin Trinks mit Opern- und Extrachor des Staatstheaters und dem Saarländischen Staatsorchester musikalisch vollbringt. Der zweite Kapellmeister des Hauses hat die Chance, sich nachhaltig zu profilieren, gekonnt genutzt. Er nimmt sich viel Zeit für Nonos an sich nur etwa einstündige Partitur, horcht immer wieder den Klängen nach, lässt gerade die leisen Stellen fein differenziert erklingen. Der Chor entledigt sich der sicher ungewohnten Aufgabe sensationell gut, ein Lob an die Choristen, die zuverlässig wie lange nicht mehr von Andrew Ollivant einstudiert wurden. Das Staatsorchester folgt Trinks animierendem Dirigat mit dem denkbar größten Engagement, geizt nicht mit starken Kontrasten zwischen zarten und heftig brutalen Momenten. Zwar ist der Saarbrücker Orchestergraben zu klein für die geforderte Instrumentalbesetzung, so dass die 14 Schlagwerker ausgelagert und über Lautsprecher oberhalb des Chores eingespielt werden. Das funktioniert ohne Koordinationsprobleme, und bietet an der Stelle des „Schreckens und Fanatismus“ die Möglichkeit, für ein imposantes, durch den Saal „wanderndes“ Schlagzeugintermezzo. Völlig zu Recht ist Constantin Trinks mit seinen Musikern und Sängern am Ende der Premiere der meiste Applaus gegönnt – noch vor Pöppelreiter, dem statt Libeskind anwesenden Projektarchitekten Thore Garbers und den Sängern.

Auch diese können sich hören lassen: Allen voran Stefan Vinke, der in der vergangenen Spielzeit schon als Andrea Chenier in Giordanos gleichnamiger Oper und als Erik in Wagners „Holländer“ für sich einnehmen konnte. Spielt er den Flüchtling bisweilen etwas täppisch und derb, so stürzt er sich andererseits mit Verve in die tenoralen Höhenflüge, die Nono vorschreibt. Und das mit Erfolg: Wenige Sänger dürften diese Rolle derzeit auf vergleichbarem Niveau singen können. Ihm zur Seite stehen mit Manou Walesch (Frau) und Donna Ellen (Gefährtin) zwei intensive Singschauspielerinnen: Walesch mit expressivem Mezzosopran, Ellen mit stupender Beherrschung der außergewöhnlich schönen Stimme und einem sehr eindringlichen Auftritt. Aus dem Restensemble ragt schließlich noch Hiroshi Matsui heraus, der den kurzen Auftritt des Gefolterten zu einem eindringlichen, berührenden vokalen Höhepunkt zu machen weiß (Volker Philippi singt als Zweitbesetzung etwas weniger ausdrucksstark).

In Saarbrücken war dies eine weitere Gelegenheit, sich dem Komponisten Luigi Nono anzunähern: Der Verein Netzwerk Musik Saar e.V. hatte im Jahr vor der Premiere ein feines Programm über den Italiener gestaltet, viele Werke des Komponisten in Saarbrücken vorgestellt, außerdem mit Vorträgen und einer Veröffentlichung ermöglicht, auch auf theoretischer Ebene viel zu lernen. Arbeit, die sich ebenso wie das Engagement des Theaters für die zeitgenössische Oper (in den letzten Jahren gab es etwa Gerhard Staeblers „Madame La Peste“ und Alfred Schnittkes „Gesualdo“), jetzt auszahlte. Zum Erfolg der Aufführung beigetragen hat sicher auch das an sich hervorragend gestaltete Programmbuch, das als zweiter Teil einer Schriftenreihe über Luigi Nono, herausgegeben vom Saarbrücker Pfau-Verlag und dem Netzwerk Musik Saar, auch über den normalen Buchhandel erhältlich sein wird (ISBN 3-89727-270-9). Es verwundert nur, dass der musikalische Leiter Constantin Trinks neben dem Regisseur und dem Bühnenbildner darin nicht ein einziges Mal zu Wort kommt. Schließlich ist ihm mindestens so wie jenen zu verdanken, dass diese Saarbrücker Aufführung ein mehr als beachtlicher Erfolg wurde.


FAZIT

Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ ist in der auf ihre Art radikalen Sicht von Constantin Trinks, Christian Pöppelreiter und Daniel Libeskind im Saarbrücker Repertoire angekommen. Die Aufführung, heftig beklatscht, zeugt auf erfreuliche Weise davon, was ein "Stadttheater" zu leisten im Stande ist.


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Produktionsteam

Inszenierung
Christian Pöppelreiter

Musikalische Leitung
Constantin Trinks

Bühnenbild und Kostüme
Daniel Libeskind

Projektarchitekt
Thore Garbers

Dramaturgie
Alexander Jansen /
Katharina John

Choreinstudierung
Andrew Ollivant



Opernchor, Extrachor und Statisterie
des Saarländischen Staatstheaters

Das Saarländische Staatsorchester


Solisten

* Besetzung der Premiere

Ein Flüchtling
Stefan Vinke

Seine Gefährtin
Donna Ellen

Eine Frau
Manou Walesch

Ein Algerier
Stefan Röttig

Ein Gefolterter
Hiroshi Matsui* /
Volker Philippi

1. Gendarm
Alto Betz

2. Gendarm
Harald Häusle* /
Johannes Bisenius

3. Gendarm
Markus Jaursch* /
Elmar Böhler

4. Gendarm
Hans-Joachim Hofmann

weitere Gendarmen
Andreas Klußmann
Jochen Wilhelm
Ludwig Stroux


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Saarländischen Staatstheater
(Homepage)



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