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Antike trifft auf Postkommunismus
Von Annika Senger / Fotos von Monika Rittershaus Neben den Werken Wolfgang Amadeus Mozarts bilden die Kompositionen Georg Friedrich Händels einen Schwerpunkt im Spielplan der Komischen Oper Berlin. Die Pasticcio-Oper Orest, ein in der Händel-Rezeption weitgehend vernachlässigtes Stück, greift die Tauris-Episode des griechischen Mythos um Orest und seine Schwester Iphigenie auf. Als Pasticcio (deutsche Bedeutung: Pastete) bezeichnet man Opern, deren Arien aus bereits existierenden Werken verschiedener Komponisten entlehnt und zur Vertonung eines Librettos neu zusammengestellt werden. Innerhalb dieser im Barock gängigen Verfahrensweise handelt es sich bei Händels 1734 uraufgeführtem Orest um eine Besonderheit: Der Wahl-Londoner plünderte ausschließlich aus seinen eigenen Kompositionen. Iphigenie (Maria Bengtsson), Orest (Charlotte Hellekrant), Pylades (Finnur Barnason) Diese Vorgehensweise ist nicht nur typisch für das Zeitalter des Barocks, sondern auch ein beliebtes Stilmittel der Postmoderne. Dazu passend versetzen Thomas Hengelbrock und Sebastian Baumgarten den Schauplatz des antiken Tauris in die heutige, geographisch identische Krim. Um den slawischen Kontext der Produktion zu betonen, lassen sie eine Continuo-Gruppe mit Balalaika und Akkordeon auftreten. Genauso ungewöhnlich erscheint die Platzierung des Orchesters auf der Bühne hinter den Darstellern. Die Sichtbarkeit der Instrumentalisten deutet auf die Absicht hin, die Kunstform Oper als Illusion zu entlarven. Mit Hilfe von Papptafeln, auf denen die Namen der Figuren geschrieben stehen, starten die Solisten ihren Auftritt: Eine weitere Form postmoderner Selbstreferenz, die das Fiktionale schamlos durchbricht. von links: Artemis (Carolin Mylord), Orest (Charlotte Hellekrant), Iphigenie (Maria Bengtsson)Baumgarten bedient sich darüber hinaus multimedialer Effekte. An die Wand hinter dem Orchester wird das Dia eines sozialistischen Plattenbaus projiziert. Video-Einspielungen erklären zum Teil das auf der Bühne nicht Sichtbare oder Vergangenes: Während der Ouvertüre kann man beispielsweise auf einem Bildschirm die Vorgeschichte der Handlung lesen. Folgende Geschichte wird in die Zeit des Umbruchs im ehemaligen Ostblock übertragen: Orest hat seine Mutter getötet, wofür er von den Furien gejagt und in den Wahnsinn getrieben wird. Das Orakel von Delphi weissagt ihm Heilung auf Tauris. Dort regiert der Tyrann Thoas, dem das Orakel den Tod durch Orest prophezeit hat. Um diesem zu entgehen, lässt er alle Fremden der Göttin Artemis opfern. Deren Priesterin Iphigenie ist Orests vermeintlich vor langer Zeit ermordete Schwester. Sie lebt in der ständigen Angst, irgendwann ihren Bruder töten zu müssen. Als Orest auf Tauris landet, fühlt sich zu ihm merkwürdig hingezogen und versteckt ihn ohne ihn jedoch zu erkennen. Seine Frau Hermione und sein Freund Pylades reisen ihm nach, werden allerdings von Philoktet, einem von Thoas' Offizieren, aufgegriffen. Pylades wird zur Opferung in den Tempel gebracht und Hermione von Thoas sexuell bedrängt. Orest trifft auf seinen alten Freund, versucht ihn zu befreien und gerät dabei selbst in Gefangenschaft. Thoas ist nur bereit, die beiden freizulassen, wenn Hermione seine Lust befriedigt. Sie weigert sich, so dass die Situation eskaliert, als Iphigenie Orest und Pylades opfern soll. Iphigenie (Maria Bengtsson) Die Traumata und Ängste der Figuren sowie die der Gesellschaft rücken in den Mittelpunkt der Inszenierung. Die politische Komponente wird dem Publikum mit Hilfe von Video-Plattenbauten und moderner Gefängniszellen jederzeit vor Augen geführt, verlässt aber bedauerlicherweise nie die Ebene des Fragmentarischen. Aus dem Zusammenhang herausgerissen, spielt eine Stimme aus dem Off auf die Trennung zwischen Ost und West an. Europa wird dabei als Ort der Flucht und Aufsplitterung bezeichnet. Erst die blutige Ermordung des Tyrannen Thoas, bei der selbst vor Kannibalismus nicht halt gemacht wird, symbolisiert klar den Fall des Eisernen Vorhangs. Werbung für eine Fast-Food-Kette per Video verdeutlicht dies auf komische Weise. Technisch fordert Orest ein hohes Maß an Koloratur-Fähigkeit von den Sängern. Maria Bengtsson überzeugte in der Rolle der Iphigenie mit ihrem leichten, beweglichen Sopran und viel Ausdruck in der Stimme. Gleiches gilt besonders für Valentina Farcas als Hermione, auch wenn sie anfangs nur durch ausgefeilte Technik bestach und es ihr schwer fiel, Emotionen zu vermitteln. Spätestens bei der zweiten Arie gelang es ihr, beides mit Bravour zu kombinieren. Die Erkältung der Mezzo-Sopranistin Charlotte Hellekant, für die sie sich vor Beginn der Aufführung entschuldigen ließ, trug womöglich zu den starken, störenden Brüchen zwischen Kopf- und Bruststimme bei. Trotz ihrer krankheitsbedingten technischen Einbußen war sie fähig, als Orest mit einer großen Portion an Ausdrucksfähigkeit Pluspunkte einzufahren. Orest (Charlotte Hellekrant), Pylades (Finnur Bjarnason)Mit den versierten Solistinnen konnten die männlichen Darsteller allerdings bei weitem nicht mithalten: Finnur Bjarnason (Pylades) war kaum imstande, den Saal mit seiner Stimme auszufüllen. Außerdem fehlte es ihm an Ausdruck. James Creswell drang zwar mit seinem kraftvollen Bass bis in den Zuschauerraum durch, während seine Darstellung des Taurer-Königs Thoas unmotiviert und emotionslos wirkte. Recht gewöhnungsbedürftig ist die Besetzung von Orest und Philoktet durch Frauen: Die etwas am Rande der Handlung platzierten Liebesszenen zwischen Iphigenie und Philoktet lassen auf ein völlig neues Stück schließen: Iphigenie auf Lesbos vor allem weil Altistin Maria Steijffert (Philoktet) trotz schwarzer Bomber-Jacke, weiten Jeans und breitbeinigem Gang nur aufgesetzte Männlichkeit verkörpert. Da drängt sich die Frage auf, warum Baumgarten die beiden Rollen nicht mit Counter-Tenören besetzt hat.
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Produktionsteam
Inszenierung
Musikalische Leitung
Bühne
Kostüme
Video
Licht
Dramaturgie
Solisten
Orest
Hermione
Iphigenie
Pylades
Thoas
Philoktet
Artemis
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