Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Von Kindern, die ohne warmes Essen ins Bett gehen müssen
Von Stefan Schmöe
/
Fotos von Stefan Kühle L'enfant et les sortilèges: Schlimmstmögliche Bestrafung für ein ungezogenes Kind (Tanja Schun) - im Traum erscheint der Mathe-Lehrer (Richard van Gemert) und fragt Rechenkünste ab.
Theater für die ganze Familie hat sich die Bühne im westfälischen Hagen zur Saisoneröffnung auf ihre Fahnen geschrieben und möchte damit anknüpfen an die von Siegfried Matthus vertonte Unendliche Geschichte (unsere Rezension), die das Haus trotz (moderat) moderner Musik füllte. Auf der Suche nach geeigneten Stücken ist man auf zwei knapp einstündige Werke gestoßen, die sich trotz ihrer zeitlichen Distanz inhaltlich gut ergänzen: Maurice Ravels zwischen 1920 und 1924 komponierte fantaisie lyrique L'enfant et les sortilèges und Where the wild Things are des schottischen Komponisten und Dirigenten Oliver Knussen, 1984 uraufgeführt. In beiden Werken geht es um die Angstprojektionen eines Kindes, das gerade für sein Fehlverhalten gestraft wird, und trotz des in beiden Fällen glücklichen Endes schimmert das seit dem Struwwelpeter und Max und Moritz der Kinderliteratur eingeschriebene Grundmuster durch, das schlechtes Benehmen mit drakonischen Strafen sanktioniert: Aber wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe. Sowohl Ravel wie auch Knussen deuten dieses Modell um, und (auch) daher ist die Gegenüberstellung beider Werke interessant. L'enfant et les sortilèges: Allein gegen Möbel und Tiere - kein Freund weit und breit für ndas ungezogene Kind.
In L'enfant et les sortilèges (Das Kind und die Zauberdinge,) in Hagen im französischen Original mit deutschen Übertiteln gespielt, wird ein unartiges Kind auf Wasser und Brot gesetzt und zertrümmert darauf voller Wut die Einrichtung seines Kinderzimmers und quält Katze und das im Käfig gehaltene Eichhörnchen. Als Reaktion darauf verlebendigen sich die Einrichtungsgegenstände und rebellieren die geschundenen Tiere. Für das unerzogene Kind wird die Szenerie zum Angsttraum, aus dem es nicht entfliehen kann. Erst als sich das Eichhörnchen verletzt und das Kind darauf hin Mitleid verspürt und die Wunde des Tieres verbindet, wird der Spuk durchbrochen. L'enfant et les sortilèges: Am Ende hat das Kind Anflüge von Mitleid - und das Zauberreich ein Einsehen.
Ursprünglich war der Einakter als Ballett geplant, was man an der klaren Gliederung in meist tänzerisch angelegte Nummern erkennen kann: Jeder Gegenstand, jedes Tier hat seinen Auftritt. Daher lag es nahe, Hagens Ballettdirektor Ricardo Fernando mit der Regie (für beide Werke des Abends) zu betrauen. Fernando stellt jedem Sänger einen Tänzer an die Seite, was den Ballettcharakter noch einmal unterstreicht. Er choreographiert aber so zurückhaltend, dass auch die Sänger eingebunden werden und das Stück nicht zum verkappten Ballett mutiert: Das Gleichgewicht zwischen Tanz und Oper ist überzeugend gewahrt. Ausstatter Olaf Zombeck umreißt Tiere und Gegenstände mit einfachen Linien, was die Handlung gut verdeutlicht, ohne die Bühne zu überfrachten. Insofern ist die Inszenierung familientauglich, bleibt aber an der Oberfläche: Alptraumhafte Ängste werden hier nicht herausgearbeitet. Eher überwiegt der Unterhaltungscharakter. Wo die wilden Kerle wohnen: "An dem Abend, als Max seinen Wolfspelz trug und nur Unsinn im Kopf hatte ..."
Diese Tendenz verstärkt sich im zweiten Teil des Abends noch. Wo die wilden Kerle wohnen heißt in deutscher Übersetzung das Bilderbuch von Maurice Sendak, das in viele Kinderzimmer Einzug gehalten hat. Auch dort muss ein Kind, das hier auf den Namen Max hört, ohne ausreichendes Essen ischlafen gehen, und weil die Mutter ihn als wilden Kerl bezeichnet hat, erträumt sich Max eine Reise zu den wilden Kerlen jenseits des Meeres. Die machen ihn zum König, und Max darf sie ohne Essen ins Bett schicken. Nachdem er sich, inzwischen einsam geworden, wieder auf die Rückreise begibt, findet er sein noch warmes Abendessen vor. Wo die wilden Kerle wohnen: "... und als er dort ankam, wo die wilden Kerle wohnen, brüllten sie ihr fürchterliches Brüllen ..."
Wird das Kind bei Ravel durch eine Art Parsifal-Erlebnis geläutert, lässt Sendak seinen Max selbst die Perspektive des Bestrafers einnehmen und als Machtposition erfahren. kehrt also den Blickwinkel um. In seinen Bildern haben die wilden Kerle bei aller Drolligkeit noch einen Rest an Gefährlichkeit, was sich an spitzen Zähnen und Krallen und leuchtend gelben Augen zeigt. Zombeck bleibt mit seinen Kostümentwürfen ziemlich nah an Sendaks Zeichnungen, aber als überdimensionale Plüschtiere sind die wilden Kerle kaum noch wild, sondern vor allem niedlich. Das wird zum Teil von der plastischen Musik Knussens aufgefangen, die illustrativ die Stimmung einfängt (und beim Tanz der wilden Kerle nicht umsonst Strawinskys Sacre zitiert). Trotzdem fehlt der Aufführung ein dämonisches Element, das die alptraumhaften Züge deutlich machen könnte. Familien- und kindgerecht ist die sehenswerte Produktion zweifellos, aber sie schreckt davor zurück, die Abgründe zu zeigen, die sich in Kinderphantasien eben auch auftun. Wo die wilden Kerle wohnen: " ... und zeigten ihre fürchterlichen Krallen ..."
Ausgezeichnet ist die musikalische Umsetzung gelungen. Dirigent Antony Hermus legt Ravels Partitur sehr stark kammermusikalisch an; man mag hier und da einen hymnisch aufwallenden Streicherklang vermissen, aber so rücken die konzentrierten Holzbläser und das (gelegentlich unsaubere) Blech sehr farbenreich in den Vordergrund. Knussens dichte Instrumentation (mit umfangreichem Schlagwerk) klingt nie massiv, sondern immer federnd und transparent. Nicht zuletzt ist das Dirigat sehr sängerfreundlich, und beide Werke können vom Hagener Sänger-Ensemble ausgezeichnet besetzt werden. Tanja Schun mit jugendlich-leichtem, auch in der Höhe mühelos geführtem Sopran steht in der Rolle des Kindes im Zentrum von Ravels Einakter. Aber auch die vielen anderen Rollen sind (fast) alle adäquat besetzt; hervorzuheben ist vielleicht Johanna Krumin, die nacheinander das Feuer, die Prinzessin und die Nachtigall singt. Ist bei L'enfant et les sortilèges die Musik auf viele Kehlen verteilt, so hat Oliver Knussen ein verkapptes Ein-Personen-Stück komponiert: Die fünf wilden Kerle liefern kaum mehr als vokale Mischfarben zum Orchesterklang, und die Mutter bleibt eine unbedeutende Nebenrolle. Als Max stellt sich die junge Stefania Dovhan, mit Beginn der Spielzeit neu im Ensemble, dem Hagener Publikum vor, und das mit einer anspruchsvollen Partie, die sie bravourös meistert. Anders als die lyrische Partie des Kindes bei Ravel hat die Rolle auch jugendlich-dramatische Akzente, und die liefert die Sängerin mit hoher Präsenz. Zuverlässig singt der Chor des Theater Hagen. Und allen Sängern gebührt hohes Lob, dass sie nicht nur musikalisch überzeugen, sondern auch die anspruchsvolle Choreographie von Ricardo Fernando mit viel Spielfreude bewältigen.
Gelungenes Familientheater auf Basis einer überzeugenden musikalischen Interpretation. Die dunklen Seiten der Märchen allerdings bleiben unterbelichtet. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie und Choreographie
Ausstattung
Dramaturgie
Choreinstudierung
Opernchor und Kinderchor Solisten* Besetzung der rezensierten AufführungL'entfant et les Sortilèges: Das Kind Tanja Schun
Die Mutter
* Liane Keegan
Die chinesische Teetasse / Liane Keegan
Der Lehnstuhl
Der Baum
Die Standuhr /
Die Teekanne /
Der Sessel
* Sarahlouise Owens
Die Eule / Sarahlouise Owens
Das Feuer / * Johanna Krumin
Die Katze / * Vivian Guerra
Eine Schäferin
Sarahlouise Owens
Ein Schäfger Vera Käuper Wo die wilden Kerle wohnen:
Max
Mutter
Die wilden Kerle
Richard van Gemert Peter Schöne Frank Dolphin Wong Andrey Valiguras
|
© 2005 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de