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Musiktheater
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Actus tragicus

Sechs Kirchenkantaten von
Johann Sebastian Bach
BWV 178, 27, 25, 26, 179 und 106
In einer szenischen Fassung
von Herbert Wernicke

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden (Keine Pause)

Premiere am 12. November 2006
im Staatstheater Stuttgart

Besuchte Aufführung: 16. November 2006

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)

Musiktheater des Gedenkens

Von Christoph Wurzel / Fotos von Thilo Nass


In einem Interview hatte Herbert Wernicke einmal bekannt: "Ich schaue gern in die Fenster anderer Leute" und meinte damit, dass sein Theater die Innenwelt der Figuren sichtbar machen wolle. Für sein Musiktheater-Projekt nach Kantaten von Johann Sebastian Bach hat er ein Haus auf die Bühne gebaut, das im offenen Längsschnitt einem Puppenhaus gleich die Lebensräume von Menschen und ihr Handeln dem Einblick des Publikums öffnet. Das Haus repräsentiert dabei eine ganz Welt - Generationen, soziale Schichten, Tätigkeiten und Befindlichkeiten von heutigen Alltagsmenschen.

Synchron spulen sich immer wieder die gleichen Tagessverläufe vor dem betrachtenden Blick ab: oben wird ein Kind geboren und unten liegt ein Mann im Sterben, jemand misst einen Raum aus, hier räumt eine Frau Bücher in ein Regal und dort probiert eine andere immer wieder neue Kleider an. Ein Mann will sich gerade mit einem Strick aufhängen, während sich in einem anderen Zimmer zwei lieben. Rechts feiert eine Familie Weihnachten, ein Stockwerk darüber gucken zwei apathisch TV und in der Mitte wird ein Dieb von der Polizei abgeführt. Im Treppenhaus laufen die Leute achtlos aneinander vorbei. Ein Mann hetzt herum, schaut ständig auf seine Uhr und reißt Kalenderblätter ab. Eine Frau bügelt mit Innbrunst ein Hemd nach dem anderen und ein Junge spielt mit seinem Ball. Was auch geschieht, kleine Nichtigkeiten oder große Lebenseinschnitte - eine Figur bewegt sich langsam zwischen all diesen Verrichtungen der Menschen umher: eine Gestalt in schwarzem Anzug, mit großem Hut und weißer Maske - es ist der Tod, der allgegenwärtig ist und dennoch nicht wahrgenommen wird.


Vergrößerung in neuem Fenster Mitten im Leben sind alle vom Tod umfangen

Die Musik, die Herbert Wernicke für sein Musiktheater ausgewählt hat, besteht aus sechs Kantaten von Johann Sebastian Bach, die um das Thema Vergänglichkeit und Tod kreisen. Den Höhepunkt bildet zum Schluss die Kantate "Actus tragicus", BWV 106 "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" aus Bachs Mühlhausener Jahren. In ihr hat der erst zweiundzwanzigjährige Komponist in seiner tief verwurzelten Überzeugung, dass es nach dem irdischen Jammertal noch ein himmlisches Jerusalem gibt, an die Allgegenwart des Todes im menschlichen Leben erinnert und zugleich seiner transzendentalen Hoffnung auf das ewige Leben Ausdruck verliehen.

Herbert Wernicke hatte sich im Laufe seiner künstlerischen Tätigkeit vielfach mit Werken aus der Barockzeit auseinandergesetzt, viel mit Opern von Händel, zuletzt in Basel auch mit Geistlicher Musik von Heinrich Schütz und Matthias Weckmann und deren musikalischen Kriegsklagen. Für Basel war auch diese Produktion "Actus tragicus" entstanden und dort im Dezember 2000 uraufgeführt worden. Es ist eine der letzten Arbeiten Herbert Wernickes gewesen, der im April 2002 verstorben ist und damit wohl auch so etwas wie sein ganz persönliches Vermächtnis.

Bereits 1987 hatte Wernicke in Kassel mit "O Ewigkeit, du Donnerwort", vier Bachkantaten in Szene gesetzt, die vom Warten auf das Ende der Zeiten handeln. Damals hatte er als Allegorie für die Vision der Apokalypse einen riesigen Hammer erfunden, der bedrohlich über der Bühne schwebt. 13 Jahre später in Basel und nun in Stuttgart sind es die abgeschlossenen Räume eines Hauses, welche zum Sinnbild werden für das rastlose Funktionieren des Menschen in vergeblichem Alltagstrott, für seine Entfremdung in einer Welt der Vereinsamung, für seine "transzendentale Obdachlosigkeit" (Albrecht Puhlmann). All die fromme Zuversicht, von der gesungen wird, ist nämlich längst nicht mehr die Gewissheit dieser Figuren, denn in ganz weltlichen Dingen bleiben sie verhaftet. Ein Priester, welcher eilig von Raum zu Raum hastet und immer wieder Kreuze in die Stuben hängt, bleibt völlig unbeachtet. Beim nächsten Besuch wird er die Glaubenszeichen wieder entfernen. Gott ist tot in diesem Haus. In einem unzugänglichen Kellerraum liegt der Leichnam Christi, aber nicht als Urgrund des Lebens und Symbol für eine nahe Auferstehung, sondern vergessen, eingeschlossen, unerlöst. Eine dialektische Spannung baut sich zwischen dem Kantatentext und dem Handeln der Figuren auf, bis hin zur ironischen Brechung.

Der bügelnden Frau (Kai Wessel als Altus) etwa wird die Arie "Willkommen! Will ich sagen, wenn der Tod ans Bette tritt. Fröhlich will ich folgen in die Gruft. Alle meine Plagen nehm ich mit" in den Mund gelegt. Oder der Mann mit dem Zollstock singt davon, dass es um "das heutige Christentum leider schlecht bestellt" sei, "die meisten Christen in der Welt sind aufgeblasne Pharisäer". So gelingt es, den alten Text einerseits kritisch zu konterkarieren, zugleich aber auch auf seine heutige Aussage hin zu befragen.

Es ist die Übertragung des Vanitas-Motivs auf die heutige Zeit und zugleich die Mahnung an die Allgegenwart des Todes - was freilich nicht den Bühnenfiguren erfahrbar wird, dagegen aber eindrücklich sinnfällig dem Publikum. In diesem Totentanz kommunizieren der Tod und seine Opfer nicht mehr miteinander, weil er für sie gar nicht im Blickfeld steht. Am Ende bei den Worten der Kantate "Es ist der alte Bund: Mensch du musst sterben!" haben alle das Haus nach irgendwohin verlassen und die Musik ruft die Mahnung ihnen leise nach - und ebenfalls dem Publikum.

Auch in dieser Produktion war Wernicke sein eigener Bühnenbildner und hat ein szenisches Gesamtkunstwerk geschaffen. Das Bühnenbild ist aufgebaut wie ein Altarbild, aber es ist ein säkulares Triptychon aus lebendigen Bildtafeln, die menschliche Grunderfahrungen darstellen, eine zugleich traditionsverpflichtete wie gegenwärtige Bildsymbolik von großer Eindringlichkeit.

Wie schon in Basel lag auch in Stuttgart die musikalische Leitung in den Händen von Michael Hofstetter, der die im Theaterraum ursprünglich fremde Musik mit dem Staatsorchester authentisch präsentierte. Durch sein weit in die Alte Musik hineinreichendes Repertoire erwies es sich mit derartiger Aufführungspraxis nicht ganz unvertraut. Die Continuo-Gruppe spielte auf historischen Instrumenten. Hofstetter ließ vor allem auch Raum für die schroffen und kantigen Seiten der Musik, die so zur Partnerin des Realismus der Bühnenhandlung wurde. Die Solisten meisterten die ungewohnte Verbindung von Oratoriengesang und szenischem Spiel im Laufe des Abends immer besser, ohne in Statik einerseits oder opernhaftes Pathos andererseits zu verfallen. Allerdings konnte der Staatsopernchor diesmal nicht ganz wie gewohnt glänzen, vor allem die Textverständlichkeit blieb hinter dem Wünschbaren zurück, die gerade bei dieser Form der Darbietung unerlässlich gewesen wäre.

Im Foyer erinnert gegenwärtig eine beeindruckende Ausstellung mit Fotos, Bühnenmodellen und Kostümentwürfen an die kreative Vielfalt der Theaterarbeiten von Herbert Wernicke, die bereits im Frühjahr in der Berliner Akademie der Künste zu sehen war. Dazu ist auch ein schöner Katalog erschienen mit Selbstaussagen zu zahlreichen seiner Inszenierungen, sowie vielen Szenen- und privaten Fotos und einem Überblick über Leben und Werk.


Vergrößerung in neuem Fenster

Harmonie bleibt Utopie. Herbert Wernicke Regisseur und Bühnenbildner.
Hrsg. von der Akademie der Künste Berlin in der Reihe "Akademiefenster".
ISBN 3-88331-075-1


FAZIT

Nachdem Wernickes langjähriger dramaturgischer Mitarbeiter in Basel Albrecht Puhlmann nun Intendant in Stuttgart geworden ist, hat er diese Produktion an seine neue Wirkungsstätte übernommen. Mit der Neueinstudierung ist der Stuttgarter Staatsoper nicht nur eine würdige Hommage an einen singulären Theatermacher gelungen, sondern auch ein Theaterabend von besonderem Format, ein Theaterabend des Innehaltens und der Kontemplation. Und dies ist durchaus auch sicherlich als ein Ausrufungszeichen am Anfang einer neuen Intendanz zu verstehen.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Michael Hofstetter

Regie, Bühnenbild
und Kostüme
Herbert Wernicke

Neueinstudierung
Björn Jensen

Mitarbeit Kostüme
Eva-Mareike Uhlig

Licht
Hermann Münzer

Dramaturgie
Albrecht Puhlmann


Solistin

Die Frau mit den roten Schuhen
(Sopran I)
Marita Solberg

Die Barmherzige
(Sopran II)
Heike Beckmann

Der Junge mit dem Ball
(Sopran III)
Philip Schäfer
(Stuttgarter Hymnus Chorknaben)

Die Wäschefrau
(Alt I)
Kai Wessel

Die Frau mit den Büchern
(Alt II)
Cristina Otey

Der Raumvermesser
(Tenor I)
Martin Petzold

Der Mann mit der Uhr
(Tenor II)
Michael Nowak

Der Kranke
(Bass I)
Shigeo Ishino

Der Blinde
(Bass II)
Daniel Henriks

Der Kammermusiker
(Violoncello)
Philipp Körner


Continuogruppe

Laute
Stephan Rath
Stefan Maass

Gambe
Jane Achtmann
Irene Klein

Cello
Michael Groß

Cembalo
Jörg Halubek

Orgelpositiv
Stephan Hess


Statisten der Staatsoper

Staatsopernchor Stuttgart

Staatsorchester Stuttgart





Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Stuttgart
(Homepage)



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