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Musiktheater
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Carmen

Opéra in vier Akten von George Bizet
Text von Henri Meilhac und Ludovic Halévy
nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée

Fassung mit der szenischen Interpretation
angepassten Dialogen (Stuttgarter Fassung)

In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 Stunden (1 Pause)

Premiere am 22. Oktober 2006
im Staatstheater Stuttgart

Besuchte Vorstellung am 4. November 2006

Homepage Staatstheater Stuttgart

(Homepage)

Big Mother is watching You

Von Christoph Wurzel / Fotos von Sebastian Hoppe


Zuletzt war Carmen in Stuttgart 1991 inszeniert worden und zwar unter der Regie von Carlos Saura, der sich schon einige Jahre zuvor durch seinen berühmten Tanzfilm mit der Rezeption des Carmen-Stoffs auseinandergesetzt und ihm neue Impulse gegeben hatte. Seitdem hat diese Oper sich, trotz oder gerade wegen ihrer Allpräsenz auf den Bühnen, freilich immer noch nicht von Folklorekitsch und Oberflächenreiz befreien können. Die aktuelle Stuttgarter Produktion wirft nun einen neuen Blick auf Bizets Oper, und diese Sicht provoziert unweigerlich. Nach der Aufführung wurden Zustimmung und Widerspruch gleichermaßen geäußert. Mit Sicherheit aber ist Carmen hier eminent musikdramatisch angelegt - und dies gilt für die musikalische wie szenische Seite gleichermaßen. Julia Jones als Dirigentin und Sebastian Nübling als Regisseur haben alle Klischees und Traditionsschlamperei beiseite geschoben und eine musikalisch vielschichtige und szenisch immer wieder überraschende Aufführung erarbeitet und in dem Werk die Tiefenschichten freigelegt.

Unter Jones Leitung fährt das ohnehin schon exzellente Staatsopernorchester noch weiter zur Hochform auf. Die überaus präzise durchgearbeitete Partitur wird nicht allein mit vitalem Temperament realisiert, sondern bis in kleinste Nuancen hinein differenziert und hochgespannt in ihrer musikalischen Dramatik präsentiert. Perfekt koordiniert sind Graben und Bühne, nie überdeckt das Orchester die Sängerinnen und Sänger, so dass mit höchster Präsenz gesungen werden kann. Die Facetten von Bizets feingewobenem Stilmix aus koloristischen und dramatischen, buffonesken und sentimentalen Elementen kommen frappant zur Geltung. Kaum je so spitz gehört wurde der parodistische Charakter der Chöre im 3. Akt oder die ins Operettenhafte tendierende Begleitmusik der beiden Zigeunermädchen im Kartenterzett; ein jäher Umschlag erfolgt dann zum fatalistisch-tragischen Einsatz Carmens im düster akkordierten fünftönigen Schicksalsmotiv, das ihren Tod symbolisiert. Die Doppelbödigkeit der Musik kam auf diese Weise prägnent zum Tragen. Dies gilt auch die bestechende Farbigkeit der Aktzwischenspiele und die zündende Rhythmik der Toreromusik. Nie wirkt die musikalische Gestaltung flach und auf die schönen Stellen oder die Highlights fixiert. Das ganze musikalische Geschehen entwickelte sich organisch und klangschön bis in kleinste Nuancen hinein.


Vergrößerung in neuem Fenster "Carmen, ich liebe dich." (2. Akt)
(Karine Babajanian, Will Hartmann)

Der Regisseur Sebastian Nübling gab mit dieser Produktion sein Operndebut , nachdem er sich auf der Schauspielbühne bereits einen Namen gemacht hatte ( 2002 "Nachwuchsregisseur des Jahres"). Und mit dem scharfen Blick eines szenischen Diagnostikers zeigt Nübling die Carmen-Handlung auf als das Drama des Mörders José, eines von der vitalen Autonomie dieser Frau völlig überforderten Mannes, eines Täters aus Ichschwäche. Von ihrem Ende her wird die Geschichte erzählt. Die erste Szene ist dieselbe wir die letzte: José sitzt im Unterhemd in seiner kleinbürgerlichen Enge, apathisch stiert er in den omnipräsenten Fernsehapparat, am Boden liegt wie eine Jagdtrophäe die leblose Carmen, die er ermordet hat. Nun endlich kann er sie ganz besitzen. Eine verhängnisvolle Verkettung aus Sehnsüchten, Enttäuschungen und Aggressionen wird in den folgenden Szenen sinnfällig, die an ihrem schwächsten Glied zerbricht, an José, diesem sozialen Loosertyp.

Mit psychologischem, analytischem Blick entwickelt Nübling die Bühnenhandlung, die mehr als Traumspiel denn als realistische Abbildung verläuft. Unterschiedliche Ebenen von Realität spiegeln sich im Bühnengeschehen. Wie in einem Alptraum scheinen im 1. Akt die Figuren sich in Josés Bewusstsein zu drängen, bis er sich Carmen zur Habanera gleichsam wieder ins Leben zurückerinnert und fast in Schockstarre verfällt, wenn die Sängerin urplötzlich mit pulsierender Energie erwacht. Dann kann er sich der soghaften Anziehung dieser Frau nicht mehr entziehen. In den Chordarstellern sieht man José vervielfältigt und wie ein Bienenschwarm klebt das besinnungslose Kollektiv Mann wie eine Traube Dronen an ihrer Königin.

Carmen legt dann die Fallstricke aus, in denen sich José verstrickt. In ihrem glitzernd-grauen Kleid, das einer Fischhaut gleicht, lockt sie, lässt sich aber nicht fassen, reizt den Verführten und wendet sich ebenso schnell wieder ab. Bewunderung, Faszination zieht sie auf sich, im nächsten Moment Verstörung und Aggression - eine Frau, die unerbittlich ihren Anspruch auf Freiheit durch Liebe einfordert und lebt. Dass sie dadurch zum Opfer wird, nimmt sie am Schluss fast fordernd in Kauf.


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"Einen Kuss meiner Mutter?" (1. Akt)
(Will Hartmann, Christian Brey, Inas Kancheva)

Wie ein surreales Wesen geistert eine grüne Figur ("Surplus") durchs Geschehen, die zur Handlung hinzuerfunden wurde. Sie kommentiert pantomimisch das Geschehen - erhellend oder ironisierend spiegelt sie das Unbewusste Josés und führt die Handlung bis an den Rand zur Farce. Gänzlich ins Clowneske gewendet ist die Schmugglerwelt, deren Wirklichkeit als die grotesk verfremdete Kehrseite von Josés biederer Enge und Monotonie erscheint. Auch Escamillo, der Gegenspieler, ist der verkörperte Kontrapunkt zu Josés armseligem Dasein: ein Salonlöwe, der im grellen Spotlight auftritt, im Smoking von den anwesenden Damen umschwärmt, während José gefesselt in seinem Stuhl kauert. Micaela dagegen phantasiert José sich herbei zu einer kleinbürgerlichen Idylle im heimischen Wohnzimmer. Sie wird durchaus aber nicht als naive Unschuld vom Lande gezeigt, sondern weit mehr als dominant (anfangs mit Lederkorsett über dem militärisch strengen Kostüm) denn brav, sogar mit insgeheim leicht frivolem Anflug. Sie zähmt die Eskapaden des abtrünnigen Soldaten am Schluss in die kleine muffige Welt von Sofa, Fernsehen und Bier. Überhaupt der Fernseher. Ein den Bildschirm füllendes Auge beobachtet aus ihm heraus, was José so treibt. Vielleicht ist es die Mutter, von der er nicht loskommt und deren strafender Blick ihm eine Frau wie Carmen verbietet.

All dies hat Nübling mit der Präzision eines Kammerspiels inszeniert, nur einige Zutaten wirken entbehrlich und manches Requisit überstrapaziert ( Stehlampen als Instrumente kleinbürgerlicher Aggressionen). Trotzdem geht diese Inszenierung auf in Konzept und Umsetzung. Die raffinierte Lichtregie von Gérard Cleven und die schlichte, aber wirkungsvolle Bühne ( im wesentlichen der einheitliche Raum eines Wohnzimmers ) von Muriel Gerstner, der auch die prägnant charakterisierenden Kostüme entwarf, tragen zur überzeugenden Gesamtwirkung bei.


Vergrößerung in neuem Fenster Wie schön das ist, die Karten zu befragen" (3. Akt)
(Yoku Kakuta, Tatjana Raj, Chor, Karina Babajanian)

Karine Babajanian punktete als Carmen darstellerisch wie gesanglich. Ihre in der Tiefe voluminöse und klangschöne Stimme konnte sie voll entfalten, was ihr das Publikum im Schlussbeifall ausgiebig dankte. Will Hartmann blieb, trotz tadelloser Stimmführung und schönem Timbre besonders in seiner Arie ein wenig zu unterkühlt. Vincent Le Texier blieb gesanglich der Escamillo-Partie die elegante Überlegenheit eines professionellen Siegers schuldig. Glänzen dagegen konnte uneingeschränkt Ina Kancheva in der Rolle der Micaela, für die sie ihren kristallklaren Sopran mit schönem Legato verschwenderisch strömen ließ.


FAZIT

Mit dieser ersten Produktion unter neuer Intendanz hat die Stuttgarter Staatsoper etwas gewagt - weniger mit dem Stück, mehr dafür mit der Inszenierung. Der mit Spannung erwartete Start des neuen Intendanten Albrecht Puhlmann kann aber als gelungen bezeichnet werden.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Julia Jones

Inszenierung
Sebastian Nübling

Bühne und Kostüme
Muriel Gerstner

Mitarbeit Kostüme
Eva Butzkies

Licht
Gérad Cleven

Video
Gabriele Vöhringer

Chor und Kinderchor
Michael Alber

Dramaturgie
Xavier Zuber


Staatsopernchor Stuttgart

Kinderchor der Staatsoper

Staatsorchester Stuttgart


Solistin

Zuniga
Mark Munkittrick

Morales
Tae-Hyun Kim

José
Will Hartmann

Escamillo
Vincent Le Texier

Dancaire
Heinz Göhrig

Remendado
Hans Kittelmann

Frasquita
Yuko Kakuta

Mercedes
Tajana Raj

Carmen
Karine Babajanian

Micaela
Ina Kancheva

Surplus
Christian Brey




Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Stuttgart
(Homepage)



Da capo al Fine

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