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Menschen gehen, Kleider bleiben
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Rudolf Majer-Finkes
Der Teufel steckt im Detail: In La Bohème lösen kleine Dinge wie ausgelöschte Kerze und verlorener Schlüssel eine der ganz großen Liebesgeschichten der Opernliteratur aus, und am Ende stehen mit Mantel und Muff wieder Requisiten, die sich nicht weginszenieren lassen. Detailversessen wie kein anderer Komponist hat Puccini hier aus vielen anekdotischen Randbeobachtungen eine Genrezeichnung geschaffen, ohne deren Vorhandensein die eigentliche Geschichte nicht funktioniert. Dadurch ist jeder Regisseur, der sich mit dem Stück auseinander setzt, gebunden kaum etwas kann da weggelassen werden, ohne die innere Logik zu zerstören. Das bezieht sich keineswegs nur auf das Textbuch, sondern in dieser Oper reagiert auch und vor allem die Musik äußerst feinfühlig auf eine Vielzahl szenischer Impulse, die daher unbedingt an der richtigen Stelle inszeniert werden müssen. Viele Regisseure scheitern daran, dass sie irgendwo mit dem Modernisieren beginnen, aber in der Vielzahl der notwendigen Querverbindungen schnell den Überblick verlieren. Die wenigsten Inszenierungen allerdings dürften ähnlich offensichtlich misslingen wie die von Michael Schulz, der in Gelsenkirchen als designierter Intendant ein vorweggenommenes Heimspiel hat, ohne diesen Heimvorteil nutzen zu können. Für solche Gesten ist Stefan Effenberg dereinst aus der Fußballnationalelf geflogen, aber Studenten haben antibürgerliche Narrenfreiheit: Schaunard (Christian Helmer), Rodolfo (Fulvio Oberto), Marcello (Melih Tepretmez) und Colline (Nicolai Karnolsky)
Drei der vier Bilder der Oper sprechen unentwegt davon, dass die Personen frieren. Armut und Kälte sind ganz elementar Auslöser der Katastrophe. Schulz inszeniert das auch brav nach, lässt librettogetreu den Dichter Rodolfo sein Romanmanuskript zu Heizzwecken verbrennen und Mimi in ihrer Todesstunde einen wärmenden Muff zukommen. Warum aber läuft diese Mimi das ganze Stück hindurch im adretten und leichten (keineswegs ärmlichen) Sommerkleidchen umher? Warum trägt sie nicht einmal Schuhe? Solche inhaltlich-logischen Brüche durchziehen geradezu abenteuerlich die Inszenierung. Man könnte derlei Einwände als kleinkariert abtun, würde Schulz anderswo nicht gerade in Detailfragen akribisch arbeiten und einen ausgesprochen realistischen Erzählstil pflegen. So zeichnet er, durchaus mit Humor, die vier verarmten Künstler etwa so, wie das Klischee von Studenten zu Schulz' eigener Studentenzeit gewesen sein dürfte: Eine reichlich chaotische, chronisch unaufgeräumte WG, in der eigentlich nur noch das Poster von Che Guevara zum antibürgerlichen Glück fehlt. Bühnenbildnerin Kathrin-Susann Brose setzt die beengte Dachgeschossbude wie einen Pappkarton in eine ziemlich unverbindliche Stadtlandschaft, die eher auf das Paris der Entstehungszeit als auf heutige Hochschulstädte hindeutet eine konventionelle, aber tragfähige Lösung. Mehr aufdringlich als überzeugend ist dagegen die Idee, über weite Strecken die Statisterie wie unbeteiligte Passanten über die Bühne laufen zu lassen. Die Tragödie hinter diesen schäbigen Wänden spielt sich inmitten der anonymen Großstadt ab, in der Menschen kommen und gehen, will uns das wohl sagen. Vor allem aber stört es die Konzentration auf das Wesentliche. Karneval, mitten im kalten Winter: In der Mitte Mimi (Hrachuhí Bassénz) und Rodolfo (Fulvio Oberto), Marcello (Melih Tepretmez, links) wendet sich ab.
Zu den letzten Takten des ersten Bildes lässt Schulz das Liebespaar Rodolfo Mimi aus der realen Welt heraustreten, ein Vorhang fällt, und die beiden werden Händchen haltend in nachtblaues Licht getaucht ein hübscher Bildeffekt, aber ganz ohne Bezug zum Stück. Es gelingt Schulz nicht (was eigentlich nahe gelegen hätte), dieses Bild im retrospektiv komponierten Erinnerungsfinale wieder aufzugreifen. Statt dessen wird es für den Schlussapplaus noch einmal hervorgekramt, und Rodolfo und Mimi verbeugen sich in eben jener Beleuchtung eine geradezu grotesk anmutende Lösung, die Inszenierung formal in den (sehr verhaltenen) Applaus auszudehnen. Und so schön und romantisch das auch sein mag: An anderen Stellen inszeniert Schulz gezielt entromantisierend, etwa in der vorangegangenen großen Begegnungsszene zwischen Mimi und Rodolfo. Wenn Rodolfo ihr (und dem Publikum) ebenso ungefragt wie ausführlich Herz und Lebensentwürfe zu Füßen legt (in einer der nun wirklich schönsten und imposantesten Arien der Operngeschichte), hört sie nicht einmal zu, sondern macht sich über die zerknüllten Romanseiten lustig und fällt mit der klappernden und ratternden Schreibmaschine Sänger wie Orchester lautstark in den Rücken viel unmusikalischer lässt sich die Szene kaum inszenieren. Ein weiteres Beispiel für absurde Wendungen in dieser Inszenierung: Zwischen dem dritten und vierten Bild altern die Personen drastisch, aus dynamischen Jungakademikern werden (weder glaubwürdig noch sinnfällig) grauhaarige, gebeugte Senioren, die am Stock gehen. Offenbar haben es die Personen aber nicht für erforderlich gehalten, in den geschätzten 30 bis 40 vergangenen Jahren ihre Kleidung zu wechseln. Wohl jedes Schultheater arbeitet an solchen Stellen genauer. 40 Jahre vergangen, aber Kleider und Unordnung sind geblieben: Fechten können die ergrauten Herren Rodolfo (Fulvio Oberto, links), Schaunard (Christian Helmer) und Colline (Nicolai Karnolsky) nur noch mit orthgopädischen Hilfsmitteln. Marcello (Melih Tepretmez) hält sich da lieber bedeckt im Hintergrund.
Die Personenregie ist um Profilierung des Personals bemüht, wirkt aber oft unbeholfen. Ziemlich täppisch agiert die von Hrachuhí Bassénz gesungene und gespielte Mimi, mit der schauspielerisch sehr viel präziser gearbeitet werden müsste. Ihr eiskaltes Händchen schiebt sie wärmebedürftig in Rodolfos Hosentasche, was wohl eher ein verunglückter Regieeinfall als zielstrebiger Griff nach dem Genital des Dichters sein dürfte. Dabei singt sie anrührend, zwar mit nicht sehr großer, aber tragfähiger und warmer, lyrischer Stimme und nuancierter Gestaltung, eindringlich vor allem im dritten Bild. Mit Fulvio Oberto steht ihr ein ebenfalls lyrisch grundierter, höhensicherer und elegant phrasierender Tenor zur Seite, der auch die Spitzentöne unangestrengt meistert. An den sängerischen Leistungen liegt es sicher nicht, wenn kaum ein Funke auf das Publikum überspringt. Die Regie stellt den Rodolfo leider allzu zögerlich dar, was zwar nicht ganz falsch ist, aber mitunter unnötig nahe an der Wehleidigkeit changiert. Melih Tepretmez verleiht dem Marcello scharfe Konturen, musikalisch unprätentiös und sehr präsent gesungen. Christian Helmer als Schaunard und Nicolai Karnolsky als Colline vervollständigen ein sehr ordentliches und engagiert singendes und spielendes Künstlerquartett. Problematischer ist die Musetta von Leah Gordon, die von Maske und Kostümbildnerin nach Kräften verunstaltet ist und mit glockenheller, aber (zu) kleiner Stimme gegen ihr Zickenoutfit ansingt eine angeblich von allen Männern umschwärmte Frau wird da trotz musikalisch sauberer Linienführung nicht glaubwürdig. Es kommt, wie es kommen muss: Gestorben wird ganz konventionell. Rodolfo (Fulvio Oberto) braucht lange, um Mimi (Hrachuhí Bassénz) seinen Mantel zu geben, Schaunard (Christian Helmer) schaut betroffen zu, Marcello (Melih Tepretmez) bringt ein Medikament, und Musetta (Leah Gordon) wird sehr bleich.
Die große Chorszene des zweiten Bildes ist sorgsam arrangiert, aber auch hier passt vieles ungefähr, aber nichts genau. Bei den Kostümen von Klaus Bruhns wird nicht ganz klar, was Alltagskleidung der Sänger sein soll und wo künstlerischer Gestaltungswille einsetzt. Der Kinderchor der Städtischen Musikschule hat weitgehend das Alter hinter sich, in dem man mit Murmeln und Plastiktrompeten spielt das sollte eigentlich auch dem Regisseur aufgefallen sein. Den Weihnachtsabend als karnevaleskes Saufgelage zu begehen mag ja noch vertretbar sein (Puccini hat schließlich schmetternde, keineswegs besinnliche Töne dafür komponiert), das Erscheinen von Musetta mit ihrem reichen Liebhaber Alcindoro, behängt mit Tragetaschen aus einschlägigen Gelsenkirchener Modehäusern (Vorsicht: Aktualisierung!) ergibt in diesem Ambiente wiederum wenig Sinn. Immerhin singen Chor und Kinderchor ordentlich. Enttäuschend verläuft das Debüt von Heiko Mathias Förster, dem neuen Generalmusikdirektor der Neuen Philharmonie Westfalen (die gleichzeitig Hausorchester des Musiktheaters im Revier ist), als Operndirigent in Gelsenkirchen. Zwar hört man manche schöne Phrase, aber vor allem in den ersten beiden Bildern fehlt die musikalische Linie, stehen Melodien unverbunden nebeneinander, wird die Partitur mehr buchstabiert als musiziert. Besser gelingt der zweite Teil, ohne dabei über eine leidlich solide Leistung hinauszukommen. Entsprechend höflich, aber alles andere als enthusiastisch (und für den Regisseur merklich unterkühlt) fiel der zügig enden wollende Beifall aus. Von Vorfreude auf den zukünftigen Intendanten Michael Schulz war da nicht viel zu spüren.
Bemühte Inszenierung mit ungefährlichem Modernisierungspotential, die aber handwerklich ein Desaster ist da wird trotz mehr als achtbaren Gesangsleistungen eine Bohème kläglich verschenkt. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Chor
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten*Besetzung der Premiere
Mimì
Musetta
Rodolfo, Poet
Marcello, Maler
Schaunard, Musiker
Colline, Philosoph
Parpignol
Benoit, Hausherr
Alcindoro
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