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Ein kathartisches Opernerlebnis
Von Ursula Decker-Bönniger
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Fotos von Pedro Malinowski
Dieser Abend ist wie eine Opern-Katharsis, die in historischer Perspektive den Neubeginn um das Begehren und die Sehnsucht nach Geborgenheit in den Mittelpunkt stellt. Am Schluss der von Thilo Reinhardt im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen wunderbar einfühlsam inszenierten Oper Die tote Stadt steckt Protagonist Paul seine Soldatenuniform und die schaurige „Kirche des Gewesenen“ - Bilder, Andenken und Reliquien seiner verstorbenen Frau - in einen Eimer und verbrennt sie. Und dann erklingt noch einmal in zartestem Piano und wehmütigem Schmelz das berühmte Lied an „Glück, das mir verblieb, lebe wohl, mein treues Lieb. Leben trennt vom Tod – grausames Gebot. Harre mein in lichten Höhn – hier gibt es kein Auferstehn.“ 1916, mitten im Ersten Weltkrieg begann der damals 19-jährige Erich Wolfgang Korngold mit der Komposition seiner 1920 gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführten Erfolgsoper. In Anlehnung an diese Entstehungszeit ist Paul in der Inszenierung von Thilo Reinhardt ein Soldat, dessen seelische Umbruchsituation und psychische Verwirrung uns gleich zu Beginn vor Augen geführt wird. Die Bühne stellt einen düsteren, verwahrlosten, leicht zerfallen wirkenden Raum dar, dessen Mobiliar bis auf einen umgekippten Stuhl und ein Sofa entfernt wurde und dessen rechte Seitentür symbolisch zugemauert ist. Später, ab dem zweiten Aktes öffnet sich der Raum und gibt den Blick auf alte, gespenstisch leere Hausfassaden frei. Sie bleiben zunächst fensterlos, verwandeln sich später durch das Einfügen von Sitzgelegenheiten in Theaterlogen, bzw. mittels Vorhängen in die Fassade eines Theatergebäudes. Marietta (Maiken Bjerno)
Passend abgestimmt auf die spätromantische, filmmusikartige Klangwelt Korngolds, die die Psychologie der Handlung detailliert nachzeichnet, beginnt ein fantastischer, wechselvoller Psychokrimi, ein Bilderspiel von Erinnerungen, Traum, Alptraum und Opernwirklichkeit, von Außen und Innen. Kriegsheimkehrer und schwangere Frauen, bußgewandete Klosterfrauen, Bußprozessionen tauchen auf, aber auch der österreichische Kaiser Franz Joseph beobachtet stumm aus einer Loge das Geschehen, Marietta als verführerische Variétézauberin, Revuegirls mit Federkopfschmuck, die nach Lust lechzende Gestalten zu Pauls Toten- und Reliquienkultstätte scheuchen und Wasserball spielende Kinder. Wasser als Spiegel und Symbol unbewusster, psychischer Energie zeigt die Traumsphäre an. Immer mehr verschmilzen Wirklichkeit, Theater, Religion und Erotik, spitzt sich das Bühnengeschehen grotesk zu, nimmt die psychische Verarbeitung ihren Lauf. Da wird der Freund Frank als Konkurrent enttarnt, der versucht, Paul zu töten, Marie nimmt sich das Leben, Prozessionsgestalten verwandeln sich blitzartig in leuchtende Skelette, der Bischof entpuppt sich als Marietta im Evakostüm. Durch geschickte Lichtregie werden zusätzlich Spannungsmomente erzeugt. Marietta (Majken Bjerno) in Kleid und Kopfschleier von Pauls verstorbener Frau Marie und Paul (hier Burkhard Fritz)
Musikalisch erinnert die durchkomponierte Oper eher an Filmmusik oder die Tonsprache von Richard Strauss und Puccini als an die expressionistischen, atonalen, zwölftönigen Klangwelten von Korngolds Zeitgenossen wie Berg, Webern und Schönberg und die Neue Philharmonie Westfalen, die an diesem Freitagabend von Rasmus Baumann geleitet wurde, bringt die vielschichtige, filigrane Struktur der Komposition, das bewegte musikalische Geschehen wunderbar spannungsreich, durchsichtig und dynamisch differenziert zum Klingen. Bewundernswert auch, mit welch klangvoller Präsenz und großen Legato-Bögen Majken Bjerno das Lied „Glück, das mir verblieb“ sinnlich zum Leuchten bringt und die stimmlich anspruchsvollen, dramatischen und lyrischen Facetten der Marie und Marietta bis zum Ende ohne Härte ausfüllt. Norbert Schmittberg, der in dieser Aufführung sein Gelsenkirchener Rollendebut gab, muss zwar bei vielen hohen Tönen dieser heldentenorialen Mörderpartie in die Kopfstimme ausweichen und ist manchmal einfach zu leise, weiß aber mit seiner wohlklingenden, schlanken, edlen tenoralen Färbung differenziert zu gestalten und vor allem lange Töne bruchlos von lyrisch weicher zu dramatisch leuchtender Farbe crescendieren zu lassen. Eindrücklich auch der klangpräsente, bewegliche Bariton von Björn Waag in der Rolle des Frank und des Pierrot sowie der lyrische Mezzosopran von Almuth Herbst als Haushälterin Pauls.
Ein sehens- und hörenswerter, spannungsreicher Psychokrimi. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Nachdirigat
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Paul
* Norbert Schmittberg
Marietta / Marie
Brigitta
Frank
Fritz
Juliette
Lucienne
Graf Albert
Victorin
William Saetre
Gaston
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