Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Das Rad der russischen Geschichte
Von Ursula Decker-Bönniger
/
Fotos von Michael Hörnschemeyer Die Oper Boris Godunow von Modest Mussorgski, Münsters letzte musiktheatrale Inszenierung der Spielzeit, lässt in Anlehnung an Puschkins gleichnamiges Drama und die historischen Aufzeichnungen Nikolaj Karamsins den Vorwurf wieder aufleben, Boris Godunow, der 1580 Bojar wurde und seit 1584 faktisch die Führung Russlands übernahm und im Anschluss an eine 5 Tage währende Volksversammlung 1598 zum Zaren gewählt wurde, habe den jüngsten Zarensohn Iwans des Schrecklichen, Zarewitsch Dimitrij, ermorden lassen, um die Macht an sich zu reißen. Diesen Vorwurf schüren einerseits Bojarenfamilien wie die Romanows und Schuiskijs, um dem unliebsam gewordenen Boris zu schaden, seine krankhaften, paranoiden Verfolgungsängste zu beschleunigen und ihre Anwartschaft auf den Zarenthron zu erneuern. Andererseits bekräftigen Hungersnöte, Missernten und politische Aufstände Anfang des 17.Jahrhunderts Gerüchte im Volke, die Herrschaft Godunows sei illegitim und eine Gottesstrafe. Zugleich gibt sich der nach Polen entflohene Mönch Grigorij als noch lebender Zarewitsch Dimitrij aus, führt einen erfolgreichen, von Polen unterstützten Feldzug gegen Moskau und lässt sich Boris Godunow stirbt 1605 an Gicht noch im selben Jahr zum Kaiser krönen. Grigorij Otrepjew (Daniel Brenna)
Der der münsterschen Neuinszenierung zugrunde liegende Ur-Boris, so wird die aus vier Akten mit sieben Bildern bestehende, ursprüngliche Fassung der Oper von 1869 bezeichnet, beginnt mit der Krönung und endet mit dem Tode des Zaren Boris Godunow. 1870 lehnte die Mariinski-Theaterdirektion eine Uraufführung mit der Begründung ab, die Chöre und Ensembles seien zu stark vertreten bei auffällig wenigen Szenen, in denen einzelne Personen agierten. 1872 legte Mussorgski eine durch mehrere Lieder (u.a. das Lied der Schenkwirtin, das Lied vom gefangenen Enterich, das Mückenlied und das Lied des Zarewitsch Klatschhändchenspiel) und Szenen ergänzte zweite Fassung vor, den sogenannten Original-Boris, der 1874 erfolgreich uraufgeführt wurde. Von dieser Fassung nicht unerheblich abweichend existiert noch ein vom Komponisten im selben Jahr redigierter Klavierauszug (letzte Hand). Auf was soll man für eine an Originalität orientierte Aufführung des Werkes zurückgreifen? Münster entschied sich für eine Version, die das Nationalkolorit der Oper betont. Die entstandene Mischung verzichtet auf den musikalisch kontrastreichen Polenakt" der Originalversion, übernimmt das Schenken- und Kreml-Bild in der Redaktion der Originalfassung" und bezieht das Bild vor der Kathedrale aus dem Ur- sowie das Schlussbild Waldlichtung bei Kromy" aus dem Original-Boris mit ein. Gottesnarr (Fritz Steinbacher) und Kinderchor
Ob Historiengemälde, Individualtragödie oder musikalisches Volksdrama, wie Nikolaj Rimskij-Korssakow die Oper nennt, in der aus lose miteinander verknüpften Einzelszenen gebauten Mischung überwiegen schwerlastige, bedrückende Massenszenen. Viele melodische und harmonische Wendungen, unregelmäßige, ungradtaktig gebaute Perioden, Synkopen und Taktwechsel sind russischer Kirchen- und Volksmusik entnommen. Regisseur Andreas Baesler zeigt - statt Bilderfluten oder ästhetischer Traumfabrik Oper - plakative Anspielungen auf Gewalt, Reichtum und Armut, bzw. Verelendung, setzt in seiner Inszenierung auf wenig differenzierte, einfach gestellte Massenszenen. Mal stehen sie in Reih und Glied geordnet, mal bilden sie eine Gasse, um den gerade ausgerufenen Zaren zu ehren. Lediglich das erste Bild, wo der Gießvorgang und das Anrollen der Krönungsglocke auf Schienensträngen anschaulich erzählt werden und das Anarchie und Aufruhr vermittelnde, letzte Bild zeigen einen ästhetischen Aufbau. Die Bühne stellt das Innere eines, trübe beleuchteten, nach hinten geöffneten Schiffsbauches dar. Zarte, fast verblichene Schwarz-Weiß Projektionen wie z.B. eine an die Potemkinsche Treppe erinnernde, perspektivisch angeordnete Freitreppe und die verblichene, schwarz-gau-blaue Arbeitskleidung der Massen, verweisen auf das Ende des 19.Jahrhunderts entstehende Proletariat. Die im letzten Bild geschwungene, vom polnischen Doppeladler befreite, rote Fahne erinnert an die Revolution Anfang des 20.Jahrhunderts und die in moderne Anzüge gekleideten Bojaren an heutige Verhältnisse, während das Innere des Zarengemaches im Moskauer Kreml mit einem prunkvoll dekorierten Schreibtisch und stuhl ausgestattet ist. Weitere Requisiten, wie etwa der Cola-Automat in der Schenkszene, Computer und schillernde Diskette in der Klosterszene konterkarieren allerdings eine zeitlich und örtlich der Puschkin-Intention der Historie entsprechende Zuordnung. Bis auf die Krönungsglocke, die getragenen Kreuze und ein rotes, ewiges Licht am Bühnenrand wird die Welt des Religiösen konsequent von der Bildfläche verbannt. Waldlichtung bei Kromy, Aufruhr (Ensemble)
Dass die Oper neben dem Volksdrama auch das persönliche Leid eines an seinen paranoiden Angstzuständen zerbrechenden Herrschers schildert, verdeutlicht vor allem die transparente, manchmal fast kammermusikalisch differenzierte, viele dynamische Schattierungen und klangfarbliche Zwischentöne herausarbeitende Gestaltung des Sinfonieorchesters Münster unter der Leitung Hendrik Vestmanns. Hinzu kommen die zahlreichen Auftritte des Volkes, die Choräle und Hymnen, die die textverständlich singenden Chöre mit fast feierlicher Ruhe vortragen. Der Kontrast zum ausgezeichneten, sehr lebendigen Kinderchor bringt Passivität, Leid noch eindringlicher zur Geltung. Alexander Teliga kann mit seinem lyrischen Basstimbre und der weichen, klangschönen Artikulation der russischen Sprache den Zerfall des Zaren Boris glaubhaft machen, die Wahnsinnsszene, alptraumatischen Ausbrüche hätten jedoch kraftvollerer, dramatischer Gestaltung bedurft. Daniel Brenna ist ein klangschöner, differenziert gestaltender, falscher Dimitrij, handwerklich solide auch die Darbietungen der übrigen Ensemblemitglieder.
Eine in Regie und Personenführung wenig differenzierende, zu plakative Inszenierung. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Chor
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Boris Godunow
Fjodor
Xenia
Schuiskij
Schtschelkalow/ Niklitsch/
Pimen
Grigorij
Warlam/ Mitjuch
Missail
Schenkwirtin
Gottesnarr
Lowitzkij
Der junge Dimitrij
|
- Fine -