Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Prozession mit Kuh und Ziegen Von Christoph Wurzel / Fotos: Thomas Aurin So viel Schlingensief war wohl nie in Berlin.
Nach seinem Tod ist Christoph Schlingensief in der Berliner Bühnenwelt
in diesem Herbst höchst präsent. Die Staatsoper startete in ihre erste
Saison im Ausweichquartier des Schillertheaters mit der Uraufführung
von Jens Joneleits Musiktheaterstück Metanoia, dessen Regiekonzeption
Schlingensief noch entworfen hatte, das aber nur als eine Art
Regiefragment realisiert werden konnte, weil er unmittelbar vor
Probenbeginn am 21.August verstarb. Anfang November fand zu seinem
Gedenken in der Berliner Volksbühne, wo Schlingensief nach seinen
Filmanfängen erst zum Theatermann wurde, ein Gedächtnisabend statt. Und
am 3. November hatte sich seine Gemeinde zur Wiederaufnahme seiner
Inszenierung der szenischen Uraufführung der Johanna-Oper von Walter
Braunfels versammelt, die dort 2008 herausgekommen war. Johanna gefangen auf der Intensivstation: Mary Mills mit Ensemble Seine Musik ist keineswegs „neutönerisch“. Im Gegenteil, Braunfels fühlte sich eher der spätromantischen Tradition verpflichtet, ja wird als ein Konservativer eingestuft. In der Johanna-Oper hat er ein großes Strauss-Orchester eingesetzt und entfesselt massig voluminöse Klänge, die aber zugleich in ihrer prächtigen Farbigkeit und rhythmischen Raffinesse außerordentlich effektvoll sind. Wesentliches Charakteristikum seiner Musik ist ihre faszinierende Bühnenwirksamkeit. Obwohl die Faktur äußerst diffizil und gekonnt ausgearbeitet ist, wirkt diese Musik höchst eingängig und suggestiv. Große Massenszenen wie die Huldigungsszene, mit der der 2. Teil endet, haben fast filmisches Format. An anderen Stellen gibt Braunfels in arienartigen Monologen mit subtilen Mitteln feinste Charakterzeichnungen der Figuren, in jeweils genau individualisierender Tonsprache. Ulf Schirmer, der die Musik bis ins Kleinste hinein analysiert hat, stellte mit dem Orchester der Deutschen Oper die dramatische Kraft und den schillernden Farbenreichtum der Partitur eindrucksvoll heraus. Braunfels’ Johanna-Oper ist dramaturgisch ein
Bilderbogen, der in drei Teilen mit insgesamt acht Szenen den Weg
Johannas schildert: von der Berufung des schlichten Bauernmädchens
durch die Engelsstimmen über ihren Triumph nach der Eroberung der von
den Engländern belagerten Stadt Orléans und der Krönung Karls von
Valois zum französischen König in Reims bis zu ihrer Gefangennahme nach
der Niederlage vor Paris durch die Engländer und ihre Hinrichtung auf
dem Scheiterhaufen in Rouen. Es ist ein sperriges Werk, gebaut aus
Genreszenen, reflektierenden Monologen, quasi liturgisch oratorischen
Sequenzen und groß angelegten Chorszenen. In seinem Libretto geht es
Braunfels allerdings weniger um die lineare Abfolge einer äußeren
Handlung. Größeres Augenmerk richtet er auf die innere Entwicklung
Johannas, auf ihre Mission, ihre Selbstzweifel und schließlich ihre
endgültige Hinwendung an ihre himmlische Sendung. Königskrönung und andere Rituale: Daniel Kirch (König Karl von Valois, sitzend) und Nathan De’Shon Myers (Erzbischof von Reims) mit Ensemble Für diese Massenszenen hat
Schlingensief Bilder quasi liturgischen Formats entworfen, wie er sie
ein Jahr später in das Zentrum seines Fluxus-Oratoriums „Eine Kirche
der Angst vor dem Fremden in mir“ gestellt hat. Bischöfe, Priester,
Mönche, Nonnen, Ministranten – das ganze Klerikerpersonal marschiert in
vollem Ornat auf der Bühne auf, groß- und kleinwüchsig, auch Gestalten
religiöser Riten anderer Kulturen. Zu Beginn schon flimmern
Filmsequenzen über Leichenverbrennungen in Nepal auf dem Vorhang, die
Schlingensief selbst mit verwackelter Camera aufgenommen hat. Mitunter
winkt er daraus auch munter ins Publikum. Für die ländlichen
Genreszenen werden lebende Tiere aufgeboten. Zur ironischen Brechung
wird mit Mitteln des Pop und Trash gearbeitet. Zu ihrem Schlussmonolog
(„...bis in den Tod mit Gott verbunden“) entsteigt Johanna einer
riesigen Hochzeitstorte. Ununterbrochen jagen sich Anspielungen, die
sich mehr oder weniger, manchmal auch gar nicht erschließen. Mit
seiner eigenen Krankengeschichte hat Schlingensief im 3. Teil „Leiden“
die Szene überlagert. Das Thema, das in all seinen weiteren
Theaterarbeiten zentral wurde: „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt.“
Johannas Gefängnis ist die Intensivstation und als Symbol drohenden
Unheils wird vom Schnürboden ein zerfressener, schwarzer Lungenflügel
heruntergefahren. Kurz vor dem Beginn der Arbeit an dieser Produktion
hatte Schlingensief seine Krebsdiagnose erfahren. Schlingensiefs assoziative
Art, zahllose theatralische Mittel zu addieren, setzt zweifellos
enormes Phantasiepotential frei, macht aber das Verständnis von
Braunfels’ schwierigem Werk nicht gerade leichter. Nicht Pointierung,
sondern Diffusion ist das Prinzip dieser Inszenierung. Eine „visuelle
Musik“ soll die auditive ergänzen, wie Dramaturg Carl Hegemann im
Programmheft schreibt. Man könnte diese Regietechnik auch als Ablenkung
oder Wegführung empfinden, als Reizüberflutung, durch die man sich am
Ende multimedial erschlagen fühlt. Ein Kollektiv eminent
engagierter Darsteller macht dieses Opern-Spektakel zum solitären
Ereignis. Herausragend ist die Darstellung der Johanna, für die
Mary Mills mit eindrucksvollen stimmlichen Qualitäten die richtige
Mischung aus entschlossenem Sendungswillen und frommer Hingabe
aufbringt. Daniel Kirch singt die Tenorrolle des Königs lyrisch schön.
Den draufgängerisch groben Gilles de Rais, dem Braunfels hier eine
zentrale Rolle als Anheizer von Johannas Feldzug zugewiesen hat und der
später als historische Figur zum blutrünstigen “Blaubart” wird, gibt in
mächtiger Erscheinung im Phantomkostüm Morten Frank Larsen.
Hat man diese Produktion
gesehen, dann hat man eine Art Memorial für Christoph Schlingensief
erlebt, ein lebendiges Dokument seiner einmalig kreativen Theaterkunst.
Das Werk an sich könnte eine stringent entwickelte und seine
Vielschichtigkeit erarbeitende weitere Inszenierung durchaus vertragen.
Dass diese bald auf einer Bühne erscheint, bleibt zu hoffen. Immerhin
gibt es seit Kurzem eine CD-Aufnahme der Oper. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung
(Idee und Konzeption) Regieteam Spielleitung Konzeption
der Bühne Inszenierung
(Idee und Konzeption) Kostüme Film/Video Chöre Carl Hegemann Katharina John
Kinderchor der
Deutschen Oper
Solisten
Hl. Michael Hl.
Katharina Hl.
Margarete Karl
von Valois, König Erzbischof
von Reims Cauchon,
Bischof von Beauvais Vicar-Inquisitor Johanna Jacobus
von Arc Colin
Gilles
de Rais
Herzog
de la Trémouille
Herzog
von Alencon Ritter
Baudricourt Lison Florent
d’Illiers Page Salisbury,
Hauptmann Hohepriesterin Tänzer Zalzal
|
© 2010 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de
- Fine -