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Aus dem Kreml nichts Neues
Von Dr. Joachim Lange
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Fotos von Claudia Heysel Chaos auf dem Roten Platz - (Jerzy Dudicz, David Ameln,Tomasz Czirnia, Chor des Deutschen Nationaltheaters Weimar, Mitglieder Kinderchor des Anhaltischen Theaters)
Mit historischem Abstand betrachtet werden auch die roten Fahnen, die ein dreiviertel Jahrhundert lang über dem Roten Platz wehten, zu einer der historischen Episode der russischen Geschichte, in der Väterchen Zar oft weit weg oder noch nicht an der Macht ist. So gesehen sind die Zeiten günstig für Modest Mussorgskis Volksdrama Chowanschtschina. Aus dem historisch kurz vor der glanzvollen Epoche des großen mit harter Hand modernisierenden Zar Peters angesiedelten Volksdrama ist eine orchestergewaltige Chor- und Männeroper, bei der die eine Lovestory eher vertrakt und marginal wirkt. So wie Andrea Moses das jetzt in Dessau auf die Bühne gebracht hat, faszinieren an dem historischen Panoramabild aus den Zeiten von Revolte und Umbruch vor allem die erstaunlich plausiblen Durchblicke bis in die postsowjetische Gegenwart. Russischer Bär mit Verschwörern (Angus Wood, Alexey Antonov, Pavel Shmulevich)
Von der Randale marodierender Strelitzen auf dem Roten Platz, über die Intrigen der politisch Mächtigen und der ambitionierten Kirchenmänner im Kampf um die Macht, von ziemlich volkstümlich zupackenden Saufliedern bis hin zu einer pathetischen Selbstverbrennung von fanatischen Altgläubigen ist da alles drin. Viel von dem, was man hierzulande so für russische Seele hält, klingt da durch. Im Graben braucht man für dieses von kleineren Opernhäusern eher gemiedene russische Großformat den Sinn fürs Detail und die Kraft zum großen Überblick, den der Dessauer GMD Antony Hermus mit Emphase und Rücksicht auf die Sänger überzeugend demonstriert. Und im Ensemble eine Manpower, die das Anhaltische Theater auf erstaunlichem Niveau aufbietet. Auf den übergroßen Chor bringt man es durch die Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater. Die Gäste übernehmen den Part des Moskauer Volkes, während die heimischen Choristen als marodierende Strelitzen den Roten Platz verwüsten und für die Leichenteile verantwortlich sind, die sich dort zwischen den Insignien postsowjetischer Verelendung und den Reklameverheißung einer neuen Zeit finden. Chowanski in Zarenpose (Alexey Antonov, Chor und Kinderchor des Anhaltischen Theaters sowie der Chor des Deutschen Nationaltheaters Weimar)
Damit daraus kein Stehtheater im Breitband wird, bedarf es vor allem einer Regie, die sich wild entschlossen auf die szenischen Details und die Charakterisierung der Figuren stürzt und das Kunststück fertig bringt, das Historienpanorama als Ganzes in seiner Relevanz für die Gegenwart zu erzählen. Dafür ist die Dessauer Chefregisseurin Andrea Moses (die ihr Ticket für die Stuttgarter Oper wegen dieser Fähigkeiten längst in der Tasche hat) genau die Richtige. Strelitzen-Vorstadt von heute
Christian Wiehles offene Bühnenästhetik schöpft aus dem Vorrat russisch-sowjetischer und postsowjetischer Bilder. Da ist die berühmte Basilius-Kathedrale mit Coca-Cola-Reklame zugepflastert, und unter dem Riesenbildschirm baumelt eine Kalaschnikow. Da kommt das Palais des Fürsten Golizyn (mit Noblesse und Entschlossenheit: Angus Wood) als Sitzgarnitur mit Schreibtisch hoch oben auf einem riesigen russischen Bären daher. Da wird die Strelitzen-Vorstadt zu einem modernen Hochhausblock, der wie im Brennglas aufgebläht erscheint und aus dem sich die Umrisse der Kathedrale wie im Schnittbogen abheben. Spektakulärer Massenselbstmord am Ende (Pavel Shmulevich, Anna Peshes, Sergey Drobyshevskiy, Chor und Kinderchor des Anhaltischen Theaters sowie der Chor des Deutschen Nationaltheaters Weimar)
Da kommt der Intrigant im Dienste des Zaren Peter, Schaklowity (darstellerisch intensiv und wie immer mit überzeugender Eloquenz: Ulf Paulsen) erst auf einer Gangway (sein Abschiedsgruß mit dem Schwanenlogo des Dessauer Lohengrin-Triumpfes von Andrea Moses ist eine kleine selbstreferenzielle Pointe) und unter der Büste des Sowjethelden Gagarin daher und landet dann sogar aus dem Schnürboden wie ein Fallschirmspringer im Bett des Oberverschwörers Iwan Chowanski (mit raumfüllender Geste und Stimmgewalt: Alexey Anatonov), um ihm erst zu schmeicheln und ihn dann hinterrücks zu erdrosseln. Und da agiert der vom Fürsten zum Mönch gewordene Dossifej (auf dem Weg an die Spitze seines Faches und der Star des Abends: Pavel Shumlevich) mit der Geste und dem Format eines kommenden Bühnen-Zaren. Die vokale Prachtenfaltung ist auch sonst imponierend! Mit dem vollem Einsatz seiner prägnanten Tenorstrahlkraft singt Sergey Drobyshevskiy den dekadenten Junior der Familie Chowanski Andrej. Aber auch die kleinen Frauen Frauenrollen sind im Falle von Marfa mit Anna Peshes, mit Angelina Ruzzafante als Emma und der diesmal als fanatische altgläubige Susanna nur kurz aufblitzenden Iordanka Derilova exzellent besetzt. Wenn sich am Ende die altgläubigen Fanatiker im Angesicht der anrückenden Truppen des Zaren selbst verbrennen, dann wird der tödliche Dampf, dem sie zum Opfer fallen, nicht zur Klippe einer gefährlichen Metaphorik, sondern demonstriert mit dem futuristisch stilisierten Riesenkreuz in der Mitte einen beängstigenden Triumpf des Irrationalen.
In Dessau ist ein anstrengender, aber in jeder Hinsicht lohnender Parforceritt durch die russische Geschichte gelungen. Richtig froh macht aber nicht dessen Pointe, sondern das Niveau, auf dem hier Musiktheater gemacht wird. Andrea Moses erzählt Mussorgskis musikalisches Volksdrama in Dessau als packendes Panoramabild einer gefährdeten Gesellschaft im Umbruch. Musikalisch sind Orchester, Chöre und Solisten in Hochform. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Video
Choreinstudierung
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten
Fürst Iwan Chowanski, Führer der Strelitzen
Fürst Andrej Chowanski, sein Sohn
Dossifej, Führer der Altgläubigen
Marfa
Susanna, eine Altgläubige
Fürst Wassily Golizyn
Schaklowity
Emma, eine Deutsche
Schreiber
Kuska/Streschnew
Warsonofjew, Diener des Golizyn
1. Strelitze
2. Strelitze
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