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H.A.M.L.E.T. - Die Geburt des Zorns

Ballett von Xin Peng Wang

Idee, Konzept und Szenario von Christian Baier

Musik von Arvo Pärt

Aufführungsdauer: ca. 2h 20' (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Dortmund am 6. November 2010

 


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Theater Dortmund
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Der Rest ist Schweigen

Von Thomas Molke / Fotos von Bettina Stöß

Nach Romeo und Julia - Die Geburt der Sehnsucht vor drei Jahren hat sich Xin Peng Wang zusammen mit seinem Dramaturgen Christian Baier erneut einem Handlungsballett gewidmet, das auf einer Vorlage des großen englischen Dramatikers basiert. Während aber bei Romeo und Julia die musikalische Vorlage von Prokofjew verwendet wurde - auch wenn man dem dort vorliegenden Libretto nicht folgte, sondern unter dem Untertitel Die Geburt der Sehnsucht eine ganz eigene Kreation schaffte -, entschieden sich Xin Peng Wang und Christian Baier, für diesen Ballettabend die Musik selbst zusammenzustellen, um ihrer Idee der Auseinandersetzung mit existenziellen Befindlichkeiten des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Die Wahl fiel dabei auf den estnischen Komponisten Arvo Pärt, was in doppelter Hinsicht überraschte. Zum einen wirkt es auf den ersten Blick beinahe unmöglich, dieses wortgewaltigste Stück Shakespeares mit der doch sehr abstrakten Musik, die sich zwischen archaischen Klangwelten und filigranen melodischen Schwebezuständen bewegt und so nicht eindeutig zuordnen lässt, zu untermalen, zumal man mit dem Tanz ja die wortloseste Ausdrucksform gewählt hat. Zum anderen ist es das erste Mal, dass ein komplettes Handlungsballett mit Musik dieses Komponisten unterlegt wird, was den einen oder anderen an Tschaikowskys emotionale Klänge gewöhnten Liebhaber des Handlungsballetts durchaus skeptisch machen könnte. Aber auch diesen Anhängern sei versichert: Xin Peng Wangs Konzept geht auf, und heraus kommt ein ganz großer Ballettabend, der eine sehr bewegende Geschichte erzählt.

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Hamlet (Mark Radjapov, vorne Mitte) mit dem Polyeder des Verdachts (im Hintergrund die Gesellschaft (Corps de ballet)).

Christian Baier hat die sechs Buchstaben des Namens Hamlet analysiert und ist dabei auf die Idee gekommen, dass jeder Buchstabe für eine Säule steht, auf der ein Menschenleben ruht: H für Ehre (honesty), A für Qual oder Pein (agony), M für Mutter oder Mutterliebe (mother), L für Liebe (love), E für Ewigkeit (eternity) und T für Wahrheit (truth). Dieser Ansatz erklärt auch die Schreibweise des Namens im Titel. Basierend auf diesen sechs Säulen ist die im Programmheft beschriebene Handlung in sechs Abschnitte geteilt, die jeweils in einem eigenen Raum diese Begriffe in den Mittelpunkt der jeweiligen Szene stellen sollen. Diese Idee bleibt während des Balletts nicht durchgängig nachvollziehbar. Man kann sich aber vom Sog der Inszenierung durchaus auch einfangen lassen, ohne stets an diese Begriffe zu denken. Der Untertitel Die Geburt des Zorns ist ein Hinweis auf die Motivation Xin Peng Wangs und Christian Baiers, den Hamlet-Stoff für ein Handlungsballett auszuwählen: die Tragödie in Winnenden 2009. Auch wenn keine Parallelen zu dem Massaker auf die Bühne gebracht werden, ist Hamlet wie Tim Kretschmer ebenfalls ein junger Mann, der in einer Parallelwelt lebt, in der ihm nur Geister mitteilen, was die Wahrheit ist, der sich allen realen Menschen wie Ophelia vollkommen verschließt und letztendlich durch sein Verhalten eine Katastrophe am dänischen Königshof heraufbeschwört. Ob Claudius seinen Bruder, den König, wirklich ermordet hat, wird im ganzen Stück nicht nachgewiesen, sondern nur behauptet. Die Todesursache, ein giftiger Trank im Ohr, wird auf jeden Fall schon zu Shakespeares Zeit sehr unrealistisch gewesen sein. Ist es nicht vielmehr ein vergiftendes Gerücht, das vom Titelhelden Besitz ergreift, das ihn einsam und unempfänglich für die Realität macht? Der Rückzug in die Isolation ist jedenfalls gefährlich, weil er - wie auch in Winnenden - in Gewalt eskalieren kann. Eine Deutung, die durchaus diskutabel ist.

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Hamlet (Mark Radjapov) und Ophelia (Jelena-Ana Stupar) beim Pas de deux.

Der Ballettabend beginnt nach einem Moment der Stille mit dem Klaviersolo "Für Alina", mit dem Pärt nach acht Jahren des musikalischen Schweigens aufgrund der Repressalien der damaligen Sowjetrepublik sich erstmals wieder zu Wort meldete, was dann auch zur baldigen Ausweisung nach Österreich führte. Aus einem surrealen Flirren entwickelt sich eine Melodik, zu der durch einen blau-grünen Prospekt mit angedeuteten Faltern ein einsamer Hamlet (Mark Radjapov) sichtbar wird. Mit sehr ruckartigen Bewegungen wird deutlich, dass er ein Fremder ist. Hamlet kommt aus der Fremde an einen Hof zurück, der ihm fremd geworden ist. Und bevor er irgendwelchen bekannten Menschen begegnet, erscheinen ihm, hinter einem weiteren Prospekt drei Geister, die in ihm den Verdacht wecken, dass sein Vater von Claudius ermordet worden sei. Immer wieder führen sie die rechte Hand zum Ohr, um den Mord an Hamlets Vater zu zeigen. Der hintere Prospekt hebt sich und vom Schnürboden schweben drei Fünfecke aus weißen Stangen herab, die sich über Hamlet zu einem Polyeder formen. Dieses Polyeder wird zum zentralen Leitmotiv für den Verdacht und die Isolation. Wenn das Corps de ballet als dänische Gesellschaft in dunkelblauen Kostümen auftritt, schwebt Hamlet in diesem Polyeder über der Szenerie, hat sich also von der Realität schon verabschiedet. Die Bewegungen der Gesellschaft sind sehr surreal und übertrieben. Hamlet versteht seine Umwelt nicht mehr, und traut ihr auch nicht.

Erst beim Auftritt von Gertrud (Monica Fotescu-Uta) und Claudius (Howard Lopez Quintero) wird die Musik mit Anklängen an die höfische Musik der Elisabethanischen Zeit sehr lieblich und ermöglicht Monica Fotescu-Uta und Howard Lopez Quintero in einem sehr innigen Pas de deux mit Spitzentanz zu glänzen. Doch diese Harmonie wird durch den auftretenden Hamlet sehr schnell gestört. Sehr expressiv bringen Monica Fotescu-Uta und Mark Radjapov zum Ausdruck, dass Mutter und Sohn sich nichts mehr zu sagen haben.

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Ophelia (Jelena-Ana Stupar) geht ins Wasser.

Für Ophelias (Jelena-Ana Stupar) ersten Auftritt wählt Xin Peng Wang erneut ein Klaviersolo: "Variationen zur Gesundung von Arinushka", ein sehr meditatives Stück, in dem Jelena-Ana Stupar mit sehr modernem Ausdruckstanz ihr Warten auf Hamlet zum Ausdruck bringt. Dabei öffnet sich im Hintergrund der Bühne ein riesiges schräg stehendes schwarzes Polyeder, das wie ein großer Sarg wirkt, in dem sich Ophelia, in weißem Kleid in gleißendes weißes Licht getaucht, befindet. Diesem Raum entsteigt sie, um mädchenhaft über die Bühne zu schweben. Noch besteht Hoffnung. Doch das Polyeder schließt sich wieder, und Ophelia verschwindet, bevor Hamlet sie getroffen hat. Dafür wird er erneut im Schlaf von den Geistern heimgesucht, die ihn auffordern, den Vatermord zu rächen. Und plötzlich befindet sich Hamlet nicht nur in einem Polyeder, sondern hält auch eines in der Hand. Sein Verdacht ist für ihn somit "handfest" geworden. Die komplette Gesellschaft tritt nun mit solchen Polyedern auf und legt zur "Collage sur B-A-C-H" einen sehr beeindruckenden Ausdruckstanz hin, der zeigt, wie das Gerücht sich am Hofe verbreitet und plötzlich alle von diesem Mord überzeugt sind. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, dass Pärts Musik extra für diesen Zweck komponiert worden wäre, was zeigt, wie gekonnt Xin Peng Wang die Kompositionen zur Unterstützung der Handlung einbaut. Es folgt die Schauspielszene, in grelles rotes Licht getaucht. An dieser Stelle soll auch die hervorragende Lichtregie von Leo Cheung erwähnt werden, der mit aggressivem Rot, gleißendem Weiß und blau-grünen Tönen die Stimmungen hervorragend kontrastiert. Mit dem Schauspiel ist der  Vorwurf des Mordes publik gemacht. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Nach der Pause folgt zu "Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte" eine Liebesszene zwischen Monica Fotescu-Uta und Howard Lopez Quintero, bei der das körperliche Begehren zu der expressiven Musik alles andere als romantisch verklärend zum Ausdruck gebracht wird. Claudius und Gertrud wälzen sich dabei auf einer dreieckigen Fläche, auf der zuvor immer Hamlet gestanden hat. Dass dies auch eigentlich Hamlets Platz ist und diese Szene vielleicht nur in Hamlets Fantasie stattfindet, wird deutlich, wenn dieses Dreieck aus dem Bühnenboden hochgefahren wird und sich Hamlet darunter in einem engen Käfig windet. Erst als er sich aus diesem Käfig befreit und die Bühne verlässt, wechselt das Licht von aggressivem Rot zu einem friedlicheren blau-grünen Ton und das Verhalten von Gertrud und Claudius gewinnt an Zärtlichkeit. Also wieder nur eine Verzerrung der Wirklichkeit? Die Frage bleibt offen. Dafür verschwinden Gertrud und Claudius im Bühnenboden.

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Gertrud (Monica Fotescu-Uta, Mitte links) und Claudius (Howard Lopez Quintero, Mitte) am Grab Ophelias (im Hintergrund: die Gesellschaft (Corps de ballet), rechts liegend: Hamlet (Mark Radjapov)).

Das Klaviersolo "Variationen zur Gesundung von Arinushka" wird wieder aufgenommen. Erneut erscheint Ophelia im weißen Kleid. Erneut öffnet sich das sargförmige Polyeder. Aber das gleißende Licht wird von einem grünen Prospekt gedämmt. In diesem Licht sieht man drei Schatten Ophelias, die schon ihren baldigen Tod prophezeien. Und wieder ist es die magische Zahl drei. Drei Geister, die Hamlet erscheinen, drei Schatten Ophelias, drei Schauspieler in der Schauspielszene, drei Fünfecke, die über Hamlet schweben und sich zu einem Polyeder formen, das Hamlet von dem Rest der Gesellschaft isoliert. Drei Charaktere, auf die das Personal des Stückes neben Hamlet von Xin Peng Wang und Christian Baier reduziert worden ist. Doch Ophelia nähert sich Hamlet. Es kommt zu einem bezaubernden Pas de deux zwischen den beiden. Auch Jelena-Ana Stupar und Mark Radjapov beweisen, dass sie Spitzentanz hervorragend beherrschen. Schon keimt ein Funken von Hoffnung, schon entsteht eine romantische Stimmung wie beim Pas de deux im Schwanensee, schon verschwinden die Fünfecke, die Hamlet von Ophelia getrennt haben. Doch die Geister lassen sich nicht mehr vertreiben. Brutal fallen sie in diesen Hauch von Idylle ein und trennen die Liebenden. Ophelia bleibt allein zurück. Hatte man an dieser Stelle schon gedacht, den Höhepunkt der Inszenierung erreicht zu haben, wurde man eines Besseren beleert. Ophelias Todesszene zur Musik "Tabula rasa" lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Dabei bedarf es nicht einmal sehr ausdrucksstarker Bewegungen von Jelena-Ana Stupar. Wie sie auf einen riesigen bläulichen Vorhang zuschreitet, während das Blau auf dem Vorhang wie das Wasser schimmert, in das Ophelia geht, während ein Lichtstrahl sich wie die Sonne im Wasser spiegelt, ist sicherlich die Meisterleistung des Bühnenbildes von Frank Fellmann und der zugehörigen Lichtregie von Leo Cheung. Mal wirken die schwarzen Flecken auf dem Vorhang wie Schatten von Fischen unter Wasser, mal wirken sie wie Steine, die den Weg ins Wasser andeuten. Am Ende fällt der Vorhang in wellenden Bewegungen herab. Absolute Stille im Publikum, völlige Betroffenheit. Da kann man noch nicht einmal klatschen.

Im nächsten Bild taucht die Gesellschaft auf. Im Hintergrund sieht man Ophelia in einem gläsernen Polyeder-Sarg. Das Glas ist gesprungen. Hamlet tritt mit seinem Polyeder in die Gesellschaft. Aber er ist ganz weit entfernt von ihnen. Es findet keine Kommunikation statt. Die Gesellschaft mit Gertrud und Claudius versinkt im Bühnenboden und Hamlet bleibt allein auf einer dreieckigen Fläche zurück. Das Klaviersolo "Für Alina" vom Anfang ertönt erneut. Mark Radjapov tanzt mit den gleichen ruckartigen Bewegungen vom Anfang. Dann fällt ihm das Polyeder aus der Hand. Das Licht erlischt.

Neben den sehr ausdrucksstarken Solisten ist das komplette Corps de ballet besonders zu loben. Wie synchron sie die Gesellschaftsszenen zu der bisweilen nicht sehr harmonischen Musik Pärts tanzen, ist hervorragend. Des Weiteren zeigt das Ballett, dass es vom klassischen Spitzentanz bis zu modernem Ausdruckstanz die komplette Bandbreite beherrscht und je nach Bedarf einsetzen kann. Motonori Kobayashi schafft es mit den Dortmunder Philharmonikern den eigentümlichen Klang Pärts sehr akkurat herauszuarbeiten. Dabei gelingt es ihm einerseits, die filigranen Stellen der Musik sehr bewegend  und zurückhaltend zu dosieren, während er mit den expressiven Partien andererseits das Publikum regelrecht emotional überflutet. Das größte Lob gebührt jedoch dem Choreographen Xin Peng Wang, dem es wieder einmal gelungen ist, ein grandioses Handlungsballett zu kreieren, und der zu Recht für diese Leistung vom Publikum stehende Ovationen erhielt.

 

FAZIT

Das Dortmunder Ballett hat wieder einmal bewiesen, welchen Stellenwert es in der Tanzlandschaft Nordrhein-Westfalens hat und weshalb es unbedingt erhalten bleiben muss.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Motonori Kobayashi

Inszenierung und Choreographie
Xin Peng Wang

Bühne
Frank Fellmann

Kostüme
Alexandra Schiess

Lichtdesign

Leo Cheung

Dramaturgie
Christian Baier

Ballettmeister
Zoltan Ravasz

 

Dortmunder Philharmoniker
 



Solisten

*Besetzung der Premiere

Hamlet
*Mark Radjapov /
Arsen Azatyan

Ophelia
Barbara Melo Freire /
*Jelena-Ana Stupar

Mutter
*Monica Fotescu-Uta /
Risa Tateishi / Emelie Nguyen

Stiefvater
*Howard Lopez Quintero /
Andrei Morariu

Drei Geister
Eugeniu Cilenco
Sergio Carecci
Adrian Robos

Drei Schatten Ophelias
Svetlana Robos
Esther Perez Samper
Sayo Yoshida

Drei Schauspieler
Rosa Ana Chanza Hernandez
Philip Woodman
Luke Forbes

Gesellschaft
Rosa Ana Chanza Hernandez
Eveline Drummen
*Barbara Melo Freire /
Jelena-Ana Stupar
Esther Perez Samper
Svetlana Robos
Risa Tateishi
Sayo Yoshida
Alessandra Spada
Emilie Nguyen
Anudari Nyamsuren
Jelena Grjasnowa
Saeunn Yr Marinosdottir
Madeleine White
Vanessa Carecci
Sarah Wandhöfer

*Arsen Azatyan /
Mark Radjapov
Sergio Carecci
Eugeniu Cilenco
Luke Forbes
*Andrei Morariu /
Howard Lopez Quintero
Yuri Polkovodtsev
Adrian Robos
Philip Woodman
Tomoaki Nakanome
Viktor Villareal

 


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