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Abschied nehmen von der Tradition
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Pedro Malinowski
"Tradition!" Dabei signalisiert der blutrote Hintergrund bereits, dass es mit der Tradition bald ein düsteres Ende nehmen wird
Wenn ich einmal reich wär' das ist der Milchmann Tevje aber nicht, sondern ein gewitzter Underdog und eben deshalb so sympathisch. Einer, der mit Gott im Dialog hadert. In kaum einer Theaterfigur manifestiert sich das Bild des gewitzten Juden, der sich nicht unterkriegen lässt, so charmant wie hier, und doch lauert da gerade deshalb eine ganze Menge Klischee. Das jüdische Schtetl als pittoresker Ort von Tradition und urwüchsiger Lebensfreude ist ein gern gepflegtes Zerrbild; tatsächlich waren die meisten Schteteln am Ende des 19. Jahrhunderts von extremer Armut und sozialer Rückständigkeit gekennzeichnet. Trotzdem lebt das Broadway-Erfolgsstück Fiddler on the roof, in Deutschland unter dem Namen Anatevka nicht minder erfolgreich vielfach nachgespielt, von diesem Positivbild einer streitbaren, aber eben doch intakten jüdischen Dorfgemeinschaft.
Die Familie des Milchmanns bei der Schabbat-Feier
Eine jiddische Schmonzette aber wollte Regisseur Peter Hailer am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) nicht inszenieren, und deshalb hat er sich und seinem Team große Strenge auferlegt. Das beginnt bei der weitgehend leeren Bühne (Etienne Pluss), auf die nach Bedarf ein paar schiefe, mehr angedeutete als realistische Hütten geschoben werden können. Einziges dauerhaft präsentes Requisit ist eine elektrische Straßenlaterne, die es zur (vorrevolutionären) Zeit der Handlung in einem rückständigen Dorf sicher nicht gegeben hat das kann man wohl als Verweis auf Lenins und Stalins Forderung nach einer Elektrifizierung der Sowjetunion sehen. In solchen Details zeigt sich überzeitliche Sichtweise, ebenso wie bei dem nur angedeuteten Progrom (von dem nur die Folgen der Zerstörung gezeigt werden), und die vereinzelt aufkreuzenden gewaltbereiten Russen erinnern mit ihren Stiefeln und teilweise kahlgeschorenen Köpfen an sehr heutige Neozanis. Die Mechanismen solcher Gewalt funktionieren immer noch, das wird ganz nebenbei deutlich, und als Andeutung der historischen katastrophe reichen die Andeutungen aöllemal. Genauere Milieuschilderungen jüdischen Lebens gibt Hailer beim Schabbatfest und bei der Hochzeit von Tevjes ältester Tochter Zeitel, wobei die Bilder sehr authentisch wirken.
"Ist es Liebe?" fragen sich Tevja (Joachim G. Maass) und Golde (Lena Solze) nach über 25 Ehejahren
Die weitgehend entschlackte und nüchterne, dennoch sehr stimmige Erzählweise lässt eine weitere Lesart zu der Geschichte, nämlich die eines Familienvaters, dessen Kinder erwachsen werden und das Haus verlassen - eine Generationengeschichte, die das jüdische Kolorit nur noch als Zierrat hat. So nimmt das Stück je nach Blickwinkel verschiedene Facetten an. Dabei hebt der Regisseur in dieser Tragikomödie die Momente des Abschieds stark hervor, nimmt das Stück mehr von der pessimistischen als von der optimistischen Seite. Die Versöhnung von Tevje mit seiner Tochter Chava (die den nicht-jüdischen Russen Fedja heiratet und damit den Bruch mit der jüdischen Gemeinschaft provoziert) bleibt hier aus, und auch dem erzwungenen Auszug aus Anatevka fehlt die Aufbruchsstimmung. An ein Wiedersehen der Familie will hier keiner so recht glauben. Das alles inszeniert Hailer aber so geschickt, dass die Unterhaltungsqualitäten des Musicals trotzdem bestehen bleiben. Das Ensemble hat mit enormer Akribie gearbeitet, und so lebt die Aufführung auch von vielen feinen Detailzeichnungen.
Kann man eine Nähmaschine segnen? Man kann. Hier wird sie aber erstmal nur bewundert.
Das ist nicht zuletzt deshalb bewundernswert, weil das MiR ja nicht über eine eigene Schauspielsparte verfügt und folglich ein Ensemble aus Opernsängern, Chor, Ballett und Gästen zusammenstellen musste. Das ist ganz hervorragend gelungen. Als Tevje brilliert Bassist Joachim G. Maaß, eine langjährige Stütze des MiR. Er gibt den Milchmann vergleichsweise nüchtern, mit wohldosierter Komik und am Ende zunehmend verbittert und resignierend. Das bewahrt ganz im Sinne der Regie ein Stück Distanz, bietet dadurch aber die Reibungsfläche für die Konflikte mit den Töchtern und bleibt dennoch der Sympathieträger, den das Stück braucht. Als Tevjes Frau Golde konnte Lena Stolze verpflichtet werden (die Anfang der 80er-Jahre der Sophie Scholl in Michael Verhoevens Film Die weiße Rose ein unverkennbares Gesicht gegeben hat), die eine immer noch jugendliche und attraktive Frau, deren Persönlichkeit hinter der tradierten Frauenrolle erst nach und nach freigelegt wird. Überzeugend sind auch die Töchter Zeitel (Judith Jakob), Hodel (Filipina Henoch) und Chava (Jana Stelley) besetzt, wie der Regisseur überhaupt ein gutes Händchen bei der Auswahl der Sängerschauspieler besessen hat. Das trifft genauso auf Navid Akhavan als naiv-revolutionärer Student Perchik, E. Mark Murphy als Schneider und Schwiegersohn Mottel und Thomas Weber-Schallauer als Fleischer Lazar Wolf zu, um nur einige herauszuheben. Hervorragend ist aber auch, wie differenziert Chor und Statisterie eingesetzt werden, zusammen mit den Tänzern des hauseigenen Ballett Schindowski souverän die wirkungsvolle Choreographie (Kati Farkas) umsetzen und in vielen kleinen Partien glänzen.
Schluss mit der Tradition! Jetzt tanzen Frauen mit Männern! Hodel (Filipina Henoch) und Perchik (Navid Akhavan)
Gesungen wird ordentlich, wobei der Schwerpunkt der Aufführung mehr auf dem gesprochenen Wort liegt. Die Songs sind sehr natürlich in die Handlung eingebettet, alles Revuehafte zurückgenommen. So wird Tevjes Abschiedslied von der (mit Fedja durchgebrannten) Chava ein intimes, introvertiertes Selbstgespräch (während im Hintergrund deren Geschichte in Kurzform anrührend choreographisch nachvollzogen wird einer der schönsten Momente der Aufführung). Entsprechend zurückhaltend dirigiert Bernhard Stengel das nie vordergründig auftrumpfende Orchester, das mit sehr transparentem, kammermusikalisch leichtem Klangbild begleitet und ganz starke Momente vor allem im Pianissimo hat. Hervorzuheben ist noch Klarinettist Norbert Labatzki, der auf der Bühne den Bettler - mit Klarinette - spielt, und das auch musikalisch ganz ausgezeichnet
Das MiR präsentiert mit einem ausgesprochen vitalen Ensemble eine glänzende Musical-Produktion mit nachdenklichen Tönen und vielen anrührenden, nie sentimentalen Momenten und trotzdem kommt die Unterhaltung nicht zu kurz. Unbedingt empfehlenswert.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Choreinstudierung
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Tevje, ein Milchmann
Golde, seine Frau
Zeitel
Hodel
Chava
Shprintze
Bielke
Jente, Heiratsvermittlerin
Mottel Kamzoil, Schneider
Schandel, seine Mutter
Perchik, Student
Lazar Wolf, Metzger
Lazars Haushälterin
Motschach, Gastwirt
Rabbi
Mendel, sein Sohn
Awram, Buchhändler
Nachum, Bettler
Oma Zeitel
Fruma-Sara
Jussel, Hutmacher
Wachtmeister
Fedja, junger Russe
Sasha, sein Freund
Russischer Vorsänger
Fiddler (Solo-Violine)
Riffka
Heiratskandidaten
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